Baurecht

Festsetzungen zu rückwärtigen Baugrenzen nicht nachbarschützend

Aktenzeichen  M 11 SN 16.4671

Datum:
8.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 30
BayBO BayBO 1901 § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 2

 

Leitsatz

Baulinienpläne sollten in erster Linie der städtebaulichen und sicherheitsrechtlichen Ordnung und nicht dem Nachbarschutz dienen, es sei denn, der damalige Planungsträger hat den Schutz der Nachbarn durch die Festsetzung der Baugrenzen im Blick gehabt.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Der Streitwert wird auf Euro 3.750,- festgesetzt.

Gründe

I.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 4. Oktober 2016 erteilte der Antragsgegner (Landratsamt … im Folgenden: Landratsamt) den Beigeladenen eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Zweifamilienhauses auf dem Grundstück Fl. Nr. … der Gemarkung ….
Der Antragsteller ist Eigentümer der westlich des Baugrundstücks liegenden Grundstücke Fl. Nr. … und … in der …-straße 15 in …
Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat am 12. Oktober 2016 gegen den Bescheid Klage erhoben (M 11 K 16.4670)….Mit Schriftsatz vom gleichen Tag ließ der Antragsteller einen Eilantrag stellen und beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, das Grundstück des Antragstellers sei im vorderen, an der …-straße gelegenen Drittel mit einem Einfamilienhaus bebaut. Im rückwärtigen Bereich befinde sich der Garten. Der Teilbebauungs- und Baulinienplan vom 6. Dezember 1955 (… Nord III) setze Baugrenzen fest. Südlich der …-straße zwischen …-straße und …-straße gäbe es keine Häuser in zweiter Reihe. Nördlich der …-straße gäbe es nur drei Einfamilienhäuser, östlich eine Grünfläche. Westlich der …-straße befänden sich sechs Wohngebäude, die an den Außenbereich angrenzten. Nördlich der …-straße befänden sich Einfamilienhäuser im nördlichen Bereich der Grundstücke. Die Gärten befänden sich auf der Südseite Richtung …-straße. Grundsätzlich handle es sich um großzügige Grundstücke mit nur einem Wohnhaus. Sie würden alle in den festgesetzten Baufenstern liegen und seien mit Gärten zum Süden hin gekennzeichnet. Der Baulinienplan von 1955 sei nicht obsolet bzw. funktionslos. Der Baulinienplan sei ein einfacher Bebauungsplan. Das Bauvorhaben solle außerhalb eines Baufensters errichtet werden und widerspräche daher diesem Baulinienplan. Eine Befreiung sei nicht erteilt worden. Die festgesetzten Baugrenzen im Baulinienplan seien nachbarschützend. Die festgesetzten Baufenster würden dem Straßenverlauf folgen und seien daher für ein Wohngebiet typisch. Die Baufenster nördlich der …-straße seien weit von der Straße abgerückt und daher eher untypisch. Der Plangeber habe daher große südliche Grünflächen schaffen wollen. Das Rücksichtnahmegebot sei verletzt. Das Vorhaben füge sich nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Durch die Teilung des Grundstückes würden zwei kleinere Grundstücke entstehen. Die Bebauung in der zweiten Reihe sei gebietsfremd. Die Belichtung und Belüftung der Nachbargrundstücke werde eingeschränkt. Der Antragsteller habe darauf vertraut, dass der vordere Teil der Grundstücke bebaubar sei und habe auf die Festsetzungen des Baulinienplans vertraut. Selbst wenn der Baulinienplan unwirksam sein sollte, so füge sich das Vorhaben nicht nach § 34 BauGB in die nähere Umgebung ein. Das Gebot der Rücksichtnahme sei verletzt.
Mit Schriftsatz vom 2. November 2016 beantragte der Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
Aus einem beigefügten Schreiben vom 6. Mai 2015 an die Gemeinde … gehe hervor, dass der Antragsgegner den Baulinienplan für obsolet angesehen habe. Das Vorhaben bewerte sich daher nach § 34 BauGB. Eine Bebauung in zweiter Reihe sei zulässig, da keine tatsächlichen Baugrenzen in der Umgebung vorhanden seien. Das Gebot der Rücksichtnahme werde nicht verletzt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten im Verfahren M 11 K 16.4670 sowie in diesem Verfahren Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Gemäß § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Dritten, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an.
Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung des Rechtsbehelfs ergibt, dass dieser letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B. v. 18.07.1973 – 1 BvR 155/73 -, 1 BvR 23/73 -, BVerfGE 35, 382; zur Bewertung der Interessenlage vgl. auch BayVGH, B. v. 14.01.1991 – 14 CS 90.3166 -, BayVBl 1991, 275).
Die im Eilverfahren auch ohne Durchführung eines Augenscheins mögliche Überprüfung der Angelegenheit anhand der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Behördenakten samt Plänen ergibt, dass die Klage des Antragstellers in der Hauptsache aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird.
Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall, dass Nachbarn – wie sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergibt – eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden subjektiv öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen. Eine baurechtliche Nachbarklage kann allerdings auch dann Erfolg haben, wenn ein Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt (BVerwG, U. v. 25.02.1977 – 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122).
Vorliegend verletzt die angefochtene Baugenehmigung den Antragsteller voraussichtlich nicht in seinen Rechten.
Es kann offen bleiben, ob der Teilbebauungs- und Baulinienplan … Nord III wirksam ist, da unabhängig davon, ob sich das Vorhaben nach § 29, § 30, § 30 Abs. 3 i. V. m. § 34 BauGB (bei wirksamem Baulinienplan) oder nach § 34 BauGB (bei unwirksamem Baulinienplan) richtet, keine nachbarschützenden Rechte verletzt sind.
Anders als die Nutzungsart hat das Maß der baulichen Nutzung sowie die überbaubare Grundstücksfläche grundsätzlich bereits keine nachbarschützende Funktion (vgl. BVerwG, B. v. 23.06.1995 – 4 B 52/95; BayVGH, B. v. 05.03.2010 – 2 ZB 07.788).
Vielmehr hängt es vom Willen der Gemeinde als Planungsträgerin ab, ob die Festsetzungen eines Bebauungsplans dem Nachbarschutz dienen. Der Baulinienplan enthält Festsetzungen zu Baugrenzen. Eine Begründung für die Festsetzungen findet sich im Baulinienplan nicht.
Jedoch kann man aus §§ 1 ff. BayBO von 1901 schließen, dass Baulinienpläne in erster Linie der städtebaulichen und sicherheitsrechtlichen Ordnung dienen sollten. So soll nach § 3 Abs. 1 auf die Sicherheit und Bequemlichkeit des Verkehrs, die Wohnungsverhältnisse, die Anforderungen an die Gesundheit, Feuersicherheit, Schönheit, gute Verbundenheit mit bestehenden Gebäuden und Zweckmäßigkeit der Bebauung der Grundstücke geachtet werden.
Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 sollen vordere, seitliche und rückwärtige Bebauungsgrenzen aufgeführt werden.
Es ist daher davon auszugehen, dass der damalige Planungsträger nicht den Schutz der Nachbarn durch die Festsetzung der Baugrenzen im Blick hatte und demnach die festgesetzten Baugrenzen keinen Nachbarschutz vermitteln.
Selbst wenn der Baulinienplan unwirksam sein sollte, das Vorhaben sich demnach nach § 34 BauGB richten würde und man davon ausgehen würde, dass es im Bereich des streitgegenständlichen Grundstücks eine faktische Baugrenze geben würde, würde diese keine nachbarschützende Wirkung entfalten.
Das Bauvorhaben ist auch nicht rücksichtslos.
Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung, insbesondere von jeglicher Verschlechterung verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung kann erst bejaht werden, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht. Ob dies der Fall ist, ist im Wege einer Gesamtschau, die den konkreten Einzelfall in den Blick nimmt, zu ermitteln. Das Gebot der Rücksichtnahme soll dabei einen angemessenen Interessenausgleich gewähren.
Daran gemessen dürfte eine Verletzung des planungsrechtlichen Rücksichtnahmegebotes nicht vorliegen.
Zunächst ist in die Abwägung einzustellen, dass die landesrechtlichen Vorschriften über die Grenzabstände – die eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung von Nachbargrundstücken sowie einen ausreichenden Sozialabstand sicherstellen sollen – eingehalten sind. Dass dies der Fall ist, ergibt sich – obwohl es nicht zum Prüfprogramm des vereinfachten Genehmigungsverfahrens gehört – aus den Darstellungen in den genehmigten Plänen. Das bedeutet zwar nicht, dass damit von einem solchen Bauvorhaben in keinem Fall eine „erdrückende“ Wirkung ausgehen kann. Jedoch spricht die Einhaltung der landesrechtlich verlangten Abstandsfläche regelmäßig indiziell dafür, dass eine „erdrückende Wirkung“ oder „unzumutbare Verschattung“ nicht eintritt (BVerwG, B. v. 11.01.1999 – 4 B 128.98, NVwZ 1999, 879; BayVGH, B. v. 15.03.2011 – 15 CS 11.9).
Das Wohnhaus mit einer Wandhöhe von 5,95 m steht vor dem Haus des Antragstellers mit einem Abstand zur Grundstücksgrenze von mehr als 1 H. Demnach sind die Abstandsflächen eingehalten.
Auch sonst ist kein Grund ersichtlich, weshalb das Vorhaben rücksichtslos sein könnte. Eine „einmauernde“ und „abriegelnde“ Wirkung liegt nicht vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i. V. m. dem Streitwertkatalog.


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