Baurecht

Fortsetzungsfeststellungsklage, Erteilung einer neuen Baugenehmigung, Nichtigkeit eines Bebauungsplans wegen Ausfertigungsmangel, Widerspruch zu Ortsgestaltungssatzung aufgrund Dachgestaltung, Keine Zulassung einer Abweichung

Aktenzeichen  1 B 19.362

Datum:
10.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12028
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
GO Art. 26 Abs. 2 S. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1, 81 Abs. 1 Nr. 1
BauGB § 34

 

Leitsatz

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Beklagte im Zeitpunkt unmittelbar vor Inkrafttreten der Örtlichen Bauvorschrift zur Ortsgestaltung (Ortsgestaltungssatzung) der Gemeinde R* … vom 22. Juni 2021, bekannt gemacht am 2. Juli 2021, verpflichtet war, der Klägerin die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin zwei Drittel, der Beklagte und die Beigeladene tragen je ein Sechstel.
Von den außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen im Berufungsverfahren trägt die Klägerin zwei Drittel, im Übrigen trägt die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Über die Berufung konnte mit Einverständnis aller Beteiligter ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Nach der für die Entscheidung über die Verpflichtungsklage maßgeblichen Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bleibt die im Hauptantrag erhobene Klage erfolglos. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Tekturbaugenehmigung gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO noch einen Anspruch auf erneute Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Das abweichend von der bereits erteilten Baugenehmigung errichtete Vorhaben ist in seiner Gesamtheit genehmigungsbedürftig (1.). Es ist bauplanungsrechtlich genehmigungsfähig, die Festsetzungen des Bebauungsplans „S** …“ der Beigeladenen stehen dem Vorhaben nicht entgegen (2.). Das nach § 34 Abs. 1 BauGB zu beurteilende Vorhaben ist zulässig (3.). Dem Vorhaben steht jedoch die Ortsgestaltungssatzung der Beigeladenen vom 22. Juni 2021 entgegen (4.). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Abweichung von Ziff. 7.1 der Ortsgestaltungssatzung (5.). Die Klage ist aber mit der hilfsweise beantragten Feststellung, dass der Beklagte im Zeitpunkt unmittelbar vor Inkrafttreten der Ortsgestaltungssatzung der Beigeladenen vom 22. Juni 2021 verpflichtet war, der Klägerin die beantragte Baugenehmigung zu erteilen, erfolgreich (6.).
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Tekturbaugenehmigung gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Das abweichend von der erteilten Baugenehmigung errichtete Vorhaben ist in seiner Gesamtheit genehmigungsbedürftig.
Die Klägerin beantragt für das streitgegenständliche Gebäude, das abweichend von der Baugenehmigung vom 18. Januar 2012 und der Tekturgenehmigung vom 31. Juli 2012 errichtet wurde, mit ihrem abgelehnten „Tekturantrag“ die (nachträgliche) Genehmigung von Abweichungen. Diese betreffen die Errichtung eines Aufzugs, die Erweiterung eines Garagengebäudes, die Verlängerung des Balkons über den Aufzugschacht, die Veränderung der Befensterung, die Errichtung einer Verschattungskonstruktion am Balkon sowie einer Natursteinwand an Stelle der Betonstützwand sowie einer zusätzlichen Natursteinwand, die Änderung der Dachkonstruktion, die Errichtung eines Dachs ohne Dachüberstände sowie die Änderung der Höhenlage des Gebäudes und der Darstellung des natürlichen und des geplanten Geländes. Damit begehrt die Klägerin keine bloße Tekturgenehmigung, sondern eine Genehmigung für ein „aliud“, dessen Genehmigungsfähigkeit unabhängig von der Baugenehmigung vom 18. Januar 2012 und der Tekturgenehmigung vom 31. Juli 2012 gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO im Ganzen neu beurteilt werden muss.
Mit dem in der BayBO nicht enthaltenen Begriff der Tekturgenehmigung wird in der Baupraxis üblicherweise eine Genehmigung für geringfügige oder kleinere, das Gesamtvorhaben in seinen Grundzügen nur unwesentlich berührende Änderungen eines bereits genehmigten Vorhabens bezeichnet, die sich während des Genehmigungsverfahrens oder nach Erteilung der Genehmigung ergeben haben bzw. ergeben (vgl. BayVGH, U.v. 26.10.2021 – 15 B 19.2130 – juris Rn. 28 m.w.N.). Von einem Tekturantrag oder einer Tekturgenehmigung kann aber nur gesprochen werden, wenn die Identität des (genehmigten) Vorhabens gewahrt bleibt. Als für die Identität eines Bauvorhabens wesentliche Merkmale werden in der Rechtsprechung Standort, Grundfläche, Bauvolumen, Zweckbestimmung, Höhe, Dachform oder Erscheinungsbild herausgestellt. Ob eine Veränderung dieser für ein Vorhaben charakteristischen Merkmale die Identität von genehmigten und errichteten Vorhaben aufhebt, hängt vom Umfang der Abweichungen und von der Bewertung ihrer Erheblichkeit im jeweiligen Einzelfall ab. Es kommt dabei entscheidend darauf an, ob durch die Änderung Belange, die bei der ursprünglichen Genehmigung des Vorhabens zu berücksichtigen waren, neuerlich oder andere Belange erstmals so erheblich berührt werden, dass sich die Zulässigkeitsfrage neu stellt (vgl. BayVGH, U.v. 26.10.2021 a.a.O.). Auf ein „aliud“ weist auch hin, dass ein Vorhaben ohne Zerstörung seiner Substanz oder wesentlicher Teile mit der erteilten Baugenehmigung nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 14.12.2020 – 1 ZB 18.1164 – juris Rn. 7).
Die Klägerin verfolgt mit ihrem abgelehnten Bauantrag nicht lediglich kleinere Änderungen, die über eine bloße, die Ausgangsbaugenehmigung ergänzende Tektur- oder Nachtragsbaugenehmigung abgedeckt wären, sondern vielmehr eine Baugenehmigung für ein anderes – bereits verwirklichtes – Vorhaben („aliud“). Denn das von dem Beklagten abgelehnte (und bereits vollständig umgesetzte) Vorhaben soll im Vergleich zum genehmigten Vorhaben insbesondere eine geänderte Dachkonstruktion erhalten, die einen Verzicht auf Dachüberstände ermöglicht, geänderte bzw. zusätzliche Stützmauern mit weitergehender Freilegung des Untergeschosses sowie die zusätzliche Errichtung eines Aufzugsschachts. Die wesentlichen Abweichungen werden durch einen Vergleich zwischen den Bauvorlagen des genehmigten Vorhabens und den abgelehnten Änderungen deutlich. Bei dem von der Klägerin errichteten Gebäude handelt es sich daher um ein anderes Vorhaben, nämlich ein „aliud“. Damit stellt sich für das gesamte Vorhaben die bauplanungsrechtliche Zulässigkeitsfrage hinsichtlich des bauplanungsrechtlichen „Einfügens“ im Ganzen neu, es handelt sich der Sache nach um einen vollständig neuen Bauantrag, der eine neue Baugenehmigung erforderlich macht. Es ist folglich das Gesamtvorhaben in seiner geänderten Gestalt im Ganzen auf seine Genehmigungsfähigkeit zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2019 – 22 CS 18.2572 u.a. – juris Rn. 49).
2. Das Vorhaben ist bauplanungsrechtlich nach § 34 Abs. 1 BauGB genehmigungsfähig. Die Festsetzungen des Bebauungsplans „S** …“ der Beigeladenen vom 7. Juni 1977 stehen dem Vorhaben nicht entgegen.
Der Bebauungsplan ist aufgrund eines von Amts wegen zu prüfenden, gegen Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GO verstoßenden Ausfertigungsmangels unwirksam. Bebauungspläne sind Satzungen (§ 10 Abs. 1 BauGB) und als solche nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GO auszufertigen. Dies gebietet das in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 BV verfassungsrechtlich verankerte Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerwG, B.v. 4.9.2014 – 4 B 31.14 – ZfBR 2014, 782; U.v. 1.7.2010 – 4 C 4.08 – BVerwGE 137, 247; B.v. 9.5.1996 – 4 B 60.96 – NVwZ-RR 1996, 630), das die Identität der anzuwendenden Norm und ihres Inhalts mit dem vom Normgeber Beschlossenen verlangt. Durch die Ausfertigung wird die Satzung als Originalurkunde hergestellt, die den Willen des Normgebers nach außen wahrnehmbar macht. Zudem wird bestätigt und sichergestellt, dass der Inhalt des als Satzung beschlossenen Bebauungsplans mit dem Willen des Gemeinderats übereinstimmt (vgl. BayVGH, U.v. 28.4.2017 – 15 N 15.967 – juris Rn. 34; U.v. 28.10.2014 – 15 N 12.1633 – NVwZ-RR 2015, 321 – sog. „Identitätsfunktion“, „Beurkundungs- und Gewährleistungsfunktion“, vgl. auch BVerwG, B.v. 21.6.2018 – 4 BN 34.17 – ZfBR 2018, 796; U.v. 1.7.2010 a.a.O.). Darüber hinausgehende Anforderungen stellt das Bundesrecht nicht; Regelungen über Art, Inhalt und Umfang der Ausfertigung richten sich allein nach Landesrecht (vgl. BVerwG, B.v. 4.9.2014 a.a.O.; BayVGH, U.v. 28.10.2014 a.a.O.). In Bayern gibt Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GO vor, dass Satzungen auszufertigen sind. Durch die Ausfertigung wird die Satzung als Originalurkunde hergestellt, die den Willen des Normgebers nach außen wahrnehmbar macht. Zudem wird bestätigt und sichergestellt, dass der Inhalt des als Satzung beschlossenen Bebauungsplans mit dem Willen des Gemeinderats übereinstimmt.
Der Bebauungsplan „S** …“ der Beigeladenen entspricht diesen Anforderungen nicht. Der Bebauungsplan wurde mit Bescheid des Landratsamts am 27. Juli 1979 genehmigt, die Genehmigung wurde am 7. September 1979 ortsüblich bekannt gemacht. Die Ausfertigung des Bebauungsplans mittels Unterschrift des ersten Bürgermeisters und damit die Dokumentation der Identität der „ausgefertigten“ Originalurkunde erfolgte jedoch erst am 3. März 1981 und damit nach der Bekanntmachung (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.1999 – 4 B 129.98 – BayVBl 1999, 410).
3. Das Vorhaben ist bauplanungsrechtlich nach § 34 Abs. 1 BauGB zulässig, da es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung in die nähere Umgebung einfügt.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils zulässig‚ wenn es sich hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung‚ der Bauweise und der Grundstücksfläche, die bebaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ein Vorhaben fügt sich im allgemeinen ein‚ wenn es sich hinsichtlich dieser vier Kriterien innerhalb des Rahmens hält‚ der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Auch ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben kann aber ausnahmsweise zulässig sein‚ wenn es trotz der Überschreitung keine städtebaulichen Spannungen hervorruft (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1994 – 4 C 13.93 – NVwZ 1995, 698).
Als „nähere Umgebung“ im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist der umliegende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder doch beeinflusst (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – NVwZ 2014, 1246; B.v. 20.8.1998 – 4 B 79.98 – NVwZ-RR 1999, 105). Die Grenzen lassen sich dabei nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74.03 – juris Rn. 2). Unter dem Eindruck, den der Senat bei der Ortsbesichtigung gewonnen hat und der sich aus den gefertigten Bildern und dem Auszug aus BayernAtlas ergibt, stellt die nähere Umgebung in diesem Sinn für das Maß der Bebauung die Bebauung der Grundstücke nördlich und südlich der Straße A* … dar, ausgehend vom Bestandsgebäude auf dem Vorhabengrundstück in westlicher Richtung bis zur Höhe der Grundstücke A* … … und …, in östlicher Richtung bis zur Höhe des Grundstücks A* … … Dieser Abschnitt ist gekennzeichnet von einer homogenen Bebauung, die aus Wohngebäuden besteht. Insoweit ist von einer gegenseitigen Beeinflussung und Prägung dieser Grundstücke auszugehen.
Für das Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung nach dem Maß der baulichen Nutzung ist maßgeblich die von außen wahrnehmbare Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung. Dabei ist vorrangig auf diejenigen Maßkriterien abzustellen‚ in denen die prägende Wirkung besonders zum Ausdruck kommt. Das sind vor allem die (absolute) Grundfläche‚ die Anzahl der Geschosse und die Höhe des Gebäudes‚ bei offener Bauweise zudem das Verhältnis der Bebauung zur umgebenden Freifläche (vgl. BVerwG‚ B.v. 3.4.2014 – 4 B 12.14 – BauR 2014‚ 1126). Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben überschreitet das Bauvorhaben den Rahmen der prägenden Umgebungsbebauung in der vorhandenen Hanglage nicht. Das Gebäude der Klägerin hält von der Firsthöhe jedenfalls die Höhe des östlichen Nachbargebäudes ein. Die umgebende Bebauung nördlich der Straße A* … tritt durchgehend zweigeschossig und südlich der Straße am Z* … von der Straßenseite eingeschossig in Erscheinung, was jedoch der Hanglage geschuldet ist. Auch das Gebäude der Klägerin kommt im rückwärtigen, höherliegenden Gartenbereich nur eingeschossig zum Tragen. Der unter dem natürlichen Gelände liegende, überdachte und mit Lichtkuppeln versehene Wohnteil befindet sich nicht außerhalb einer vorhandenen rückwärtigen Gebäudelinie.
Das Vorhaben beeinträchtigt auch nicht das Ortsbild im Sinn von § 34 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BauGB. Auch ein Vorhaben, das sich gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, kann gleichwohl bauplanungsrechtlich unzulässig sein, wenn es das Ortsbild beeinträchtigt. Die Beeinträchtigung des Ortsbilds ist nur unter städtebaulichen Gesichtspunkten zu beurteilen (vgl. BVerwG, B.v. 16.7.1990 – 4 B 106.90 – BauR 1990, 688), nicht aber in baugestalterischer Hinsicht. Diese das Ortsbild schützende Vorschrift stellt auf einen größeren maßstabbildenden Bereich als die für das Einfügensgebot maßgebliche nähere Umgebung ab (vgl. BVerwG, U.v. 11.5.2000 – 4 C 14.98 – NVwZ 2000, 1169). Das Erfordernis eines Dachüberstands ist ein baugestalterischer Gesichtspunkt, der wie hier mit einer Ortsgestaltungssatzung geregelt werden kann.
4. Das Vorhaben widerspricht aber Ziff. 7.1 der Ortsgestaltungssatzung vom 22. Juni 2021, bekannt gemacht am 2. Juli 2021. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Verpflichtungsklage nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, die auf die Erteilung der Tekturgenehmigung gerichtet ist, ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, B.v. 16.8.2017 – 4 B 18.17 – juris Rn. 4). Sinn und Zweck eines Berufungsverfahrens ist die Herbeiführung einer richtigen Entscheidung, also einer Entscheidung, die mit der (maßgeblichen) Sach- und Rechtslage im Einklang steht (vgl. BVerwG, B.v. 11.11.2002 – 7 AV 3.02 – NVwZ 2003, 490).
Ein Ausnahmefall, wonach abweichend davon auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung abzustellen wäre – hier der Zeitpunkt der Ablehnung des Bauantrags – liegt nicht vor. Denn auch im Falle einer rechtswidrigen Ablehnung des beantragten Verwaltungsakts kann eine Verurteilung zum Erlass des Verwaltungsakts oder zur erneuten Entscheidung darüber nur erfolgen, wenn das neue Recht für diese Fälle die Anwendung des alten Rechts anordnet oder einen Anspruch für derartige Fälle (sog. Folgenbeseitigungslast) einräumt (stRspr BVerwG, U.v. 23.2.2012 – 2 C 76.10 – BVerwGE 142, 59 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall. Die neue Ortsgestaltungssatzung hat die Vorgängersatzungen – ohne Überleitungsvorschrift – ersetzt. Die Klägerin kann insoweit ggf. auf einen Feststellungsantrag verwiesen werden, den sie auch mit dem Hilfsantrag gestellt hat (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2012 – 1 C 10.11 – BVerwGE 143, 38; B.v. 11.11.2002 – 7 AV 3.02 – NVwZ 2003, 490; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 63). Auch die von der Klägerin angeführte materielle Legalität führt nicht zu einer Verschiebung des Beurteilungszeitpunkts für die materielle Rechtslage. Die Gemeinde kann mit dem Instrumentarium der Bauleitplanung oder einer Gestaltungssatzung die baurechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen ändern (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2007 – 4 C 9.07 – BVerwGE 130, 113).
4.1 Die somit maßgebliche Ortsgestaltungssatzung vom 22. Juni 2021 ist formell wirksam. Ein Ausfertigungsmangel liegt nicht vor. Die auch für Ortsgestaltungssatzungen nach dem Rechtsstaatsprinzip gebotene Ausfertigung bestimmt sich nach Art. 26 Abs. 2 GO. Die Ausfertigung hat die Übereinstimmung des vom Satzungsgeber beschlossenen mit dem bekanntzumachenden Satzungsinhalt zu gewährleisten. Dazu wird auf die vorstehenden Ausführungen unter Nr. 2 zur Wirksamkeit des Bebauungsplans verwiesen. Satzungen dürfen danach erst ausgefertigt werden, wenn der entsprechende Satzungsbeschluss erfolgt ist (vgl. BayVGH, U.v. 22.10.2007 – 26 N 06.2031 – juris Rn. 21). Das ist hier der Fall. Der erste Bürgermeister hat die Ortsgestaltungssatzung am 22. Juni 2021 unterzeichnet. Dass es sich dabei um den Tag der Beschlussfassung handelt, ist unschädlich. Anhaltspunkte dafür, dass von der üblichen Verfahrensweise abgewichen wurde, liegen nicht vor. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) verlangt in diesem Zusammenhang nur, dass Rechtsnormen nicht mit einem anderen als dem vom Normgeber gewollten Inhalt erlassen werden.
Die Klägerin rügt, dass der erste Bürgermeister auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung nicht angeben konnte, zu welchem Zeitpunkt er die Satzung am 22. Juni 2021 unterzeichnet habe. Da der Satzungsbeschluss am frühen Abend gegen 18:30 Uhr gefasst worden sei, sei nicht nachvollziehbar, dass die Ausfertigung zeitlich nach der Beschlussfassung erfolgt sei. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Satzung bereits vor Beschlussfassung unterzeichnet worden sei. Das trifft so nicht zu. Der erste Bürgermeister hat mit dienstlicher Erklärung vom 1. Dezember 2021 glaubhaft versichert, dass er die Ortsgestaltungssatzung am 22. Juni 2021 nach Beschlussfassung durch den Gemeinderat ausgefertigt habe. Dieser Ablauf ist ungeachtet der vorgetragenen Beschlussfassung am frühen Abend plausibel. So wurde auch geltend gemacht, dass der enge zeitliche Zusammenhang dem bevorstehenden gerichtlichen Termin zur Ortseinsicht geschuldet gewesen sei, bis zu dem eine Fehlerheilung habe durchgeführt werden müssen. Es steht daher zur Überzeugung des Senats fest, dass die Ausfertigung ordnungsgemäß erfolgt ist.
4.2 Die Ortsgestaltungssatzung ist auch materiell wirksam, insbesondere entspricht sie Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO. Danach können die Gemeinden im eigenen Wirkungskreis örtliche Bauvorschriften über die besonderen Anforderungen an die äußere Gestaltung baulicher Anlagen zur Erhaltung und Gestaltung von Ortsbildern erlassen. Anforderungen an Dächer im Bereich positiver Gestaltungspflege sind regelmäßig zulässig, da Dächer in besonderem Maß das Gesamtbild einer Gemeinde bestimmen und Ausdruck eines ortsüblichen und landschaftsgebundenen Baustils sind, wie er häufig in Oberbayern anzutreffen ist. Zur Erzielung von Einheitlichkeit, zur Vermeidung einer unregelmäßigen Dachlandschaft oder im Interesse einer positiven Gestaltungspflege können demnach Dachformen festgelegt sowie Dachauf- und -ausbauten untersagt werden (vgl. BayVGH, U.v. 11.9.2014 – 1 B 14.169 – BayVBl 2015, 637). Die Gemeinden haben im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 Nr. 1 BayBO einen beträchtlichen gestalterischen Spielraum und dürfen einen strengen ästhetischen Maßstab anlegen (vgl. BayVGH, U.v. 9.8.2007 – 25 B 05.1340 – juris Rn. 41).
Auch die mit der Satzung verbundene Einschränkung des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist verhältnismäßig. Danach sind Verbote nur gerechtfertigt, soweit ortsgestalterische Gründe sie erfordern (vgl. BayVerfGH, E.v. 23.1.2012 – Vf. 18-VII-09 – BayVBl 2012, 397). Dies schließt aber nicht aus, Verbote für das (ganze) Gemeindegebiet zu erlassen, um auf diese Weise Einfluss auf das örtliche Gesamterscheinungsbild Einfluss zu nehmen (vgl. BVerwG, B.v. 10.7.1997 – 4 NB 15.97 – ZfBR 1997, 327; BayVGH, U.v. 11.9.2014 a.a.O.). Nach der Ortseinsicht und den vorgelegten Unterlagen, insbesondere der umfangreichen Fotodokumentation zur Ortsgestaltungssatzung 2018, stellt sich das Ortsbild der Beigeladenen überwiegend einheitlich dar. Gerade auch im Bereich des Vorhabengrundstücks sind in Bezug auf die Dachform und Dachgestaltung – mit Ausnahme des Vorhabengrundstücks – Satteldächer mit einem Dachüberstand vorhanden.
Die Festsetzung in Ziff. 1.1 der Ortsgestaltungssatzung, mit der der Geltungsbereich für den Bereich der „Ortsmitte“ mit der als Anlage 1 beigefügten und markierten Karte bezeichnet wird, genügt den Anforderungen an den Grundsatz der Bestimmtheit und Normenklarheit. Entsprechend den in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung für Normenkontrollanträge gegen Bebauungspläne entwickelten Grundsätzen müssen die Festsetzungen einer sonstigen kommunalen Satzung – wie hier der Ortsgestaltungssatzung – als Rechtsnorm im materiellen Sinn den aus dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitenden Geboten der Bestimmtheit und Normenklarheit entsprechen. Die Notwendigkeit hinreichender Bestimmtheit sowohl für zeichnerische als auch für textliche Festsetzungen folgt daraus, dass die Festsetzungen gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des grundrechtlich geschützten Eigentums unmittelbar berühren und ausgestalten. Die von den Festsetzungen der Ortsgestaltungssatzung Betroffenen müssen deshalb wissen, welche Nutzungen auf den Grundstücken zulässig sind. Der planenden Gemeinde steht es dabei frei, zu entscheiden, welcher Mittel sie sich bedient, um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen. Sie hat die Wahl zwischen zeichnerischer Festsetzung und textlicher Beschreibung; sie kann auch beide Elemente kombinieren. Entscheidend ist nur, dass – gegebenenfalls nach Auslegung – hinreichend klar ist, welche Regelungen mit welchem Inhalt normative Geltung beanspruchen. Das im Einzelfall zu fordernde Maß an Konkretisierung hängt wesentlich von der Art der jeweiligen Festsetzung, den Planungszielen und den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den örtlichen Verhältnissen, ab (vgl. BayVGH, U.v. 6.12.2019 – 15 N 18.636 – juris Rn. 26; U.v. 21.6.2016 – 9 N 12.218 – BayVBl 2016, 850; U.v. 5.2.2009 – 1 N 07.2713 u.a. – juris Rn. 50; OVG NRW, U.v. 2.12.2016 – 2 D 121/14.NE – juris Rn. 62).
Gemessen an diesen Maßgaben fehlt es nicht an der erforderlichen Bestimmtheit. Die als Anlage 1 beigefügte Karte weist eine zulässige und ausreichende Maßangabe (Maßstab 1:5000) auf, die eine Zuordnung der von den Festsetzungen betroffenen Grundstücke ohne Abgrenzungsschwierigkeiten ermöglicht (vgl. BayVGH, U.v. 18.5.1999 – 9 N 97.2491 – BayVBl 2001, 434; Bielenberg/Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 1 PlanZV Rn. 8; Engelbrecht in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Stand März 2022, Art. 51 LStVG Rn. 30). Die von der Klägerin angeführte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 14. Juni 1991 (3 A 960/86), die zu § 125 BauGB ergangen ist, betrifft eine nicht vergleichbare Fallkonstellation, da dort maßgeblich auf eine (ungeeignete) Kartenkopie abgestellt wurde und der räumliche Geltungsbereich – anders als hier – nicht hinreichend ableitbar war. Soweit weiter geltend gemacht wird, Abgrenzungsschwierigkeiten ergäben sich aus der nur teilweisen Erfassung von Grundstücken, trifft das nicht zu. Denn die bei der Ortsgestaltungssatzung vorgenommene Grenzziehung, die sich im Wesentlichen an den bebauten Grundstücken und Straßen orientiert und nur hinsichtlich einiger (unbebauter) Freiflächen geringfügig von der Grundstücksgrenze abweicht, lässt den genauen Grenzverlauf hinreichend deutlich erkennen. Damit fehlt es nicht an einer eindeutigen Bestimmbarkeit des Bereichs „Ortsmitte“. Auch die Bekanntmachung, der die Anlage 1 in verkleinerter Form beigefügt war, ist nicht zu beanstanden, zumal die Anlage 1 aufgrund des Hinweises gemäß Art. 81 Abs. 3 Satz 2 und 3 BayBO in der maßstabsgetreuen zeichnerischen Darstellung im Bauamt der Beigeladenen eingesehen werden kann und den Geltungsbereich der Ortsgestaltungssatzung erkennen lässt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 13.4.2011 – OVG 2 S 94.10 – juris Rn. 14; Engelbrecht in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern a.a.O Rn. 33b).
Auch soweit in Ziff. 1.1 für den räumlichen Geltungsbereich auf die im Zusammenhang bebauten Ortsteile und den Geltungsbereich der Bebauungspläne verwiesen wird, fehlt es nicht an der hinreichenden Bestimmtheit. Dabei entspricht die Formulierung „innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile“ dem in § 34 BauGB verwendeten Begriff zur Abgrenzung von Außenbereich und unbeplantem Innenbereich. Der mit dieser Formulierung erfasste räumliche Bereich ist in aller Regel ohne Weiteres auf Grund der Siedlungsstruktur erkennbar (vgl. BVerwG, U.v. 16.6.1994 – 4 C 2.94 – BVerwGE 96,110 zu einer Baumschutzsatzung). Das Bundesverwaltungsgericht hat weiter ausgeführt, dass mit der ergänzenden Formulierung „und des Geltungsbereichs der Bebauungspläne“ der räumliche Geltungsbereich der Satzung bestimmbar ist. Auch der Umstand, dass sich der räumliche Geltungsbereich der Ortsgestaltungssatzung sozusagen „dynamisch“ mit der tatsächlichen Veränderung des Bebauungszusammenhangs oder der Änderung des Bestands der Bebauungspläne „automatisch“ mitverändert, führt nicht zur mangelnden Bestimmtheit, da sich der Geltungsbereich im jeweiligen Zeitpunkt der Anwendung der Satzung eindeutig bestimmen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 16.6.1994 a.a.O.; OVG SH, U.v. 9.5.1995 – 1 L 165.94 – juris Rn. 38; VGH BW, U.v. 28.7.1994 – 5 S 2467/93 – NVwZ 1995, 402). Der Geltungsbereich bleibt auch bei Änderungen oder Konkretisierungen, beispielsweise durch Erlass von Innenbereichssatzungen, eindeutig bestimmbar.
Die Ortsgestaltungssatzung ist auch nicht deshalb fehlerhaft, weil der Gemeinderat der Beigeladenen bei ihrem Erlass die vorgetragenen Belange der Klägerin, insbesondere das Vorliegen eines Bauantrags, einer materiellen Rechtmäßigkeit ihres bereits verwirklichten Vorhabens sowie die in Betracht zu ziehenden Mehrkosten aufgrund der neuen Satzung nicht in ihre Abwägung eingestellt hat. Denn bei der richterlichen Kontrolle von (untergesetzlichen) Normen kommt es, soweit keine anderweitigen Rechtsvorschriften bestehen, auf das Ergebnis des Rechtssetzungsverfahrens, also auf die erlassene Vorschrift in ihrer regelnden Wirkung, nicht aber auf die die Rechtsnorm tragenden Motive dessen an, der an ihrem Erlass mitwirkt. Fehlt es an einer besonders ausgestalteten Bindung des Normgebers an gesetzlich formulierten Abwägungsdirektiven, wie sie etwa im Bauplanungsrecht gegeben sind, kann die Rechtswidrigkeit einer Norm nicht mit Mängeln im Abwägungsvorgang begründet werden (vgl. BVerwG, U.v. 26.4.2006 – 6 C 19.05 – BVerwGE 125, 384). Das ist hier bei den selbständigen örtlichen Bauvorschriften nach Art. 81 Abs. 1 BayBO der Fall. Entscheidend ist damit allein, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden Maßstäben entspricht (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2021, Art. 81 Rn. 77 f.). Daran bestehen nach den vorstehenden Ausführungen keine Zweifel.
5. Das beantragte Vorhaben steht in Widerspruch zu Ziff. 7.1 der Ortsgestaltungssatzung. Danach sind Satteldächer mit einem Dachüberstand von mindesten 80 cm auszuführen. Diese Anforderungen erfüllt das Gebäude der Klägerin nach dem Eindruck, den der Senat sich bei der Ortsbesichtigung machen konnte, nicht. Das Gebäude verfügt nicht über Dachüberstände. Im Westen ist die Außenwand des Gebäudes bis zur Dachkante vorgezogen, ein Dachüberstand besteht nicht. Auf der östlichen Seite befindet sich über dem Aufzug ein Balkon, der mit einer Jalousie versehen ist. Der sich weiter in Richtung Westen entlang der Hauswand erstreckende Balkon wird lediglich durch die Dachfläche überdacht, ohne dass ein weiterer Dachüberstand angebracht wurde. Von Süden aus entsteht der Eindruck einer einheitlichen Fassade. Die Ortsbesichtigung hat die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die von Süden sichtbare Überdachung des Balkons verleihe diesem den Charakter einer Loggia, bestätigt. Auch an der Ost- bzw. Nordseite befinden sich keine Dachüberstände; an der Nordseite wurde lediglich die Dachrinne vorgezogen.
Ein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung nach Ziff. 13 i.V.m. 7.1 der Ortsgestaltungssatzung der Beigeladenen i.V.m. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO besteht nicht. Das Landratsamt hat den Antrag der Klägerin vom 23. Juli 2021 und 23. November 2021 auf Erteilung von Abweichungen von der Ortsgestaltungssatzung nach Ziff. 13 zu Recht mit Bescheid vom 15. März 2022 abgelehnt. Über die Einbeziehung des Ablehnungsbescheids in das Berufungsverfahren besteht allseits Einigkeit, die Einbeziehung ist zudem sachdienlich (§ 91 Abs. 1 VwGO).
5.1 Eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann mangels einer atypischen Fallgestaltung nicht zugelassen werden. Es muss sich insoweit um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte grundstücksbezogene Fallgestaltung handeln. Wirtschaftliche Erschwernisse oder besondere persönliche Verhältnisse des Bauherrn rechtfertigen eine Abweichung nicht (vgl. Dhom/Simon in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2021, Art. 63 Rn. 29).
Gemessen an diesen Maßgaben ist eine solche atypische Fallgestaltung im Hinblick auf Ziff. 7.1 der Ortsgestaltungssatzung nicht zu erkennen. Die von der Klägerin durch das Erfordernis eines Dachüberstands geltend gemachten Beeinträchtigungen für das von ihr (abweichend von der erteilten Genehmigung) errichtete Niedrigenergiehaus, insbesondere die Verwitterung des Holzes und eine Beeinträchtigung des modernen Erscheinungsbilds des Gebäudes, sind nicht grundstücksbezogen und damit nicht geeignet, eine atypische Fallgestaltung zu begründen. Dass die Einhaltung der Vorschriften der Ortsgestaltungssatzung möglich ist, belegt die ursprünglich genehmigte Planung.
5.2 Die Erteilung einer Abweichung kommt auch nicht aufgrund eines schutzwürdigen Vertrauens der Klägerin in eine bestehende Rechtsposition zum Zeitpunkt der Antragstellung in Betracht. Auch die Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs auf Erteilung einer Abweichung richtet sich nach der Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der gerichtlichen Entscheidung. Wird mit der Verpflichtungsklage der Erlass eines Verwaltungsakts begehrt, darf die Behörde zum Erlass nur verpflichtet werden, wenn sie dazu nach der geltenden Rechtslage verpflichtet bzw. befugt ist. Ändern sich die maßgeblichen Rechtsvorschriften, ist die neue Rechtlage vorbehaltlich abweichender Übergangsregelungen auch dann zu berücksichtigen, wenn sie dem Kläger nachteilig ist (vgl. BVerwG, B.v. 19.8.1996 – 1 B 82.95 – juris Rn. 12). Dies stellt keine unzumutbare Härte für die Klägerin dar.
5.3 Auch kann nicht die Rede davon sein, dass der Klägerin ein an die Unwirksamkeit der Vorgängerortsgestaltungssatzungen anknüpfender Vertrauensschutz zukommen könnte. Zwar sind die früheren Ortsgestaltungssatzungen unwirksam bzw. Außerkraftgetreten.
Die Ortsgestaltungssatzung vom 23. Oktober 2018, bekannt gemacht am 2. November 2018, ist jedenfalls hinsichtlich der Festsetzungen über die Dachgestaltung unwirksam. Zwar liegen Ausfertigungsmängel nicht vor, es fehlt jedoch an der hinreichenden Bestimmtheit, da die in Ziff. 1.1 angeführte Anlage 1 für den Bereich des Sanierungsgebiets „Ortsmitte“ nicht vermasst ist (vgl. BayVGH, B.v. 21.1.2020 – 1 ZB 19.189 – juris Rn. 14). Ob es sich bei der Karte trotz der fehlenden Maßangabe tatsächlich um eine maßstabsgerechte Karte handelt, kann daher dahinstehen.
Auch die Ortsgestaltungssatzung 2012, die infolge der Unwirksamkeit der Ortsgestaltungssatzung 2018 wieder auflebt (vgl. BVerwG, B.v. 16.5.2017 – 4 B 24.16 – BauR 2017, 1498; BayVGH, U.v. 9.5.2018 – 1 B 14.2215 – BayVBl 2019, 23), ist unwirksam, da sie an einem Ausfertigungsmangel gemäß Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GO leidet. Denn der Satzung, die aus einem Textteil und mehreren Planzeichnungen besteht, ohne dass diese körperlich untrennbar verbunden oder jeweils gesondert ausgefertigt sind, fehlt es an einer „gedanklichen Schnur“. Die Einzelblätter sind weder fortlaufend nummeriert noch enthalten sie inhaltsbestimmende Hinweise, wie beispielsweise das Datum des Satzungsbeschlusses oder das Fassungsdatum, in der Kopf- oder Fußzeile (vgl. BayVGH, U.v. 28.4.2017 – 15 N 15.967 – juris Rn. 46). Diese von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Ausfertigung von aus mehreren Einzelblättern bestehenden Bebauungspläne gelten auch für Ortsgestaltungssatzungen.
Die Ortsgestaltungssatzung vom 1. September 1982 kann demgegenüber nicht mehr herangezogen werden. Zwar enthält die Ortsgestaltungssatzung 2012 keinen Aufhebungsbeschluss mit der Folge, dass die Festsetzungen der früheren Ortsgestaltungssatzung auf jeden Fall ersatzlos beseitigt werden (vgl. BVerwG, B.v. 16.5.2017 a.a.O.). Jedoch steht einer möglichen Auslegung dahingehend, dass auch diese Ortsgestaltungssatzung mit der Unwirksamkeit der Ortsgestaltungssatzung 2012 wiederaufleben sollte, entgegen, dass die Beigeladene ausweislich der vorliegenden Aufstellungsakte für die Ortsgestaltungssatzung 2012 eine Überarbeitung aus rechtlichen und bautechnischen Gründen für dringend erforderlich gehalten und insbesondere eine differenzierende Betrachtung der gestalterischen Situationen innerhalb des Gemeindegebiets zur Bestimmung der schutzbedürftigen Ortsteile mit Hilfe einer Ortsbildanalyse vorgenommen hat.
Unabhängig von dem Vorliegen wirksamer Ortsgestaltungssatzungen fehlt es jedoch an dem Vorliegen eines schutzwürdigen Vertrauens mit der Folge, dass der Klägerin wegen einer Reduzierung des Ermessens des Beklagten auf Null die beantragte Abweichung zu erteilen wäre. Ein solcher Anspruch wäre anzunehmen, wenn der Klägerin die Baugenehmigung vor Inkrafttreten der Ortsgestaltungssatzung 2021 zu Unrecht vorenthalten worden wäre und nachträglich keine Umstände eingetreten sind, die eine Ermessensausübung zuungunsten der Klägerin rechtfertigen können (vgl. BVerwG, U.v. 20.8.1992 – 4 C 54.89 – BauR 1993, 51 zu § 8 BauNVO). Solche nachträglichen Umstände sind hier in der Ortsgestaltungssatzung 2021 zu sehen, mit der die Beigeladene in Fortführung ihrer bisherigen (unzureichenden) ortsgestalterischen Planungen erneut gestalterische Regelungen – auch für die hier maßgebliche Dachgestaltung – erlassen und damit die maßgebliche Bedeutung der Festsetzungen zum Ausdruck gebracht hat. Die Beigeladene kann auch nicht darauf verwiesen werden, statt einer Ortsgestaltungssatzung einen Bebauungsplan mit ortsgestalterischen Festsetzungen aufzustellen, um ggf. anhängige Bauvorhaben mittels einer Veränderungssperre nach §§ 14 ff. BauGB sperren oder zurückstellen zu können. Im Übrigen ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Klägerin ihr Vorhaben wesentlich abweichend von der Baugenehmigung und in Kenntnis der entgegenstehenden Festsetzungen der Ortsgestaltungssatzung, von deren Wirksamkeit auch das Verwaltungsgericht noch ausgegangen ist, errichtet hat. Sie konnte daher nicht auf die Genehmigungsfähigkeit vertrauen und musste damit rechnen, dass mehr als nur unwesentliche Umplanungen erforderlich sein könnten. Damit fehlt es auch an den erforderlichen weiteren besonderen Umständen (vgl. BayVGH, U.v. 12.11.1987 – 26 B 83 A.2808 – BayVBl 1989, 404).
6. Der hilfsweise gestellte Fortsetzungsfeststellungsantrag ist zulässig und begründet.
Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nach Erledigung des Verpflichtungsbegehrens auf Erteilung der Baugenehmigung statthaft und auch im Übrigen zulässig. Dass auch bei Erledigung einer Verpflichtungsklage – hier auf Erteilung einer Baugenehmigung – in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eine Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft ist, entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Allerdings darf insoweit mit der beantragten Feststellung der Streitgegenstand nicht ausgewechselt werden. Die Klage kann auch auf die Feststellung gerichtet sein, dass dem Bauherrn während eines bestimmten Zeitraums ein Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung oder eines Vorbescheids zustand (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2015 – 4 B 42.14 – juris Rn. 8; B.v. 21.10.2014 – 4 B 76.04 – juris Rn. 2; U.v. 28.4.1999 – 4 C 4.98 – BVerwGE 109, 74; U.v. 27.3.1998 – 4 C 14.96 – BVerwGE 106, 295; U.v. 28.8.1987 – 4 C 31.86 – BayVBl 1988, 440; SächsOVG, (Zwischen) U.v. 27.3.2014 – 1 A 857.10 – juris Rn. 41). Das die Hauptsache erledigende Ereignis war das Inkrafttreten der Ortsgestaltungssatzung vom 22. Juni 2021 (vgl. BVerwG, B.v. 2.10.1998 – 4 B 72.98 – NVwZ 1999, 523). Zu diesem Zeitpunkt lag eine zulässige Verpflichtungsklage vor. Prozessual unerheblich ist, dass der Fortsetzungsfeststellungsantrag nur hilfsweise gestellt wurde (vgl. BVerwG, U.v. 24.10.1980 – 4 C 3.78 – BVerwGE 61, 128). Das weiterhin erforderliche berechtigte Feststellungsinteresse liegt auch dann vor, wenn ein Kläger während der Anhängigkeit eines Verfahrens von einer ihm (möglicherweise) nachteiligen Rechtsänderung betroffen worden ist und eine Klärung der ursprünglichen Rechtslage erreichen möchte bzw. wenn eine Rechtsklärung im Verhältnis zu anderen Personen nur auf diese Weise möglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 7.5.1996 – 4 B 55.96 – juris Rn. 5; U.v. 24.10.1980 – 4 C 3.78 – BVerwGE 61, 128). Eine solche Klärung kommt vorliegend aufgrund des Vortrags der Bevollmächtigten der Klägerin und der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung am 3. August 2021 in Bezug auf eine mögliche Betreibensaufforderung durch die Beigeladene an den Beklagten zur Beseitigung des Vorhabens in Betracht. Zudem hat der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 12. November 2021 nach Scheitern der Bemühungen um eine gütliche Einigung die Rücknahme der Klage angeboten, sofern die Beigeladene und der Beklagte im Gegenzug zusichern würden, keine bauaufsichtlichen Maßnahmen wegen der bestehenden Bebauung auf dem Grundstück der Klägerin zu beantragen bzw. einzuleiten.
Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist auch begründet. Die Klägerin hatte im Zeitpunkt unmittelbar vor Inkrafttreten der erneuten Ortsgestaltungssatzung vom 22. Juni 2021 einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung, da das Vorhaben bauplanungsrechtlich nach § 34 Abs. 1 BauGB zulässig war und auch die Ortsgestaltungssatzungen aus den Jahren 2018, 2012 und 1982 der Zulassung des Vorhabens nicht entgegenstanden. Dazu wird auf die vorstehenden Ausführungen unter Nr. 1 bis 5 verwiesen. Damit steht ein bauaufsichtliches Einschreiten nicht im Raum.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO. Da die Beteiligten jeweils teilweise unterlegen sind, sind die Kosten verhältnismäßig zu teilen. Die Quotelung im Verhältnis zwei Drittel (Klägerin) zu einem Drittel (Beklagter bzw. Beigeladene) berücksichtigt, dass das erfolglose Verpflichtungsbegehren für die Klägerin eine größere Bedeutung hat als das erfolgreiche Feststellungsbegehren. Da die Beigeladene einen Antrag gestellt und sich damit selbst einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, erscheint es billig, dass ihre außergerichtlichen Kosten für erstattungsfähig erklärt werden, soweit sie obsiegt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO).
Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


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