Baurecht

Kein Anspruch auf Erlass eines Vorbescheids für ein Mehrfamilienhaus und zwei Einfamilienhäuser

Aktenzeichen  M 1 K 16.5070

Datum:
12.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 155824
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 1 Abs. 3 S. 1, § 30 Abs. 3, § 31 Abs. 2, § 34 Abs. 1, Abs. 2, § 214 Abs. 3 S. 1
BayBO Art. 68 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Auch wenn die obsolet (funktionslos) gewordene Festsetzung die Art der baulichen Nutzung und damit einen Punkt von in der Regel zentralem Gewicht betrifft, muss dies gleichwohl nicht zur vollständigen Unwirksamkeit des Bebauungsplans führen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit den Grundzügen der Planung umschreibt § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Befreiung darf insbesondere nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf den begehrten Vorbescheid (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil sein Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 1 „Gebiet … West“ der Beigeladenen widerspricht (§ 30 BauGB) und das Ermessen zur Erteilung einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von diesen Festsetzungen nicht auf null reduziert ist.
Gemäß Art. 71 BayBO ist vor Einreichung des Bauantrags auf Antrag zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens ein Vorbescheid zu erteilen. Die vom Kläger mit seinem Vorbescheidsantrag gestellten Fragen nach der städtebaulichen Zulässigkeit seines Vorhabens können nicht positiv beantwortet werden. Insbesondere besteht kein Anspruch nach § 31 Abs. 2 BauGB auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 1 der Beigeladenen zur Wandhöhe und zu den Baugrenzen.
1. Die städtebauliche Zulässigkeit des Vorhabens ist nach § 30 Abs. 3, § 31, § 34 BauGB zu beurteilen Der Bebauungsplan Nr. 1 der Beigeladenen ist nicht in seiner Gesamtheit unwirksam, sondern nur hinsichtlich der Festsetzung eines Dorfgebiets im Bereich der Klägergrundstücke funktionslos geworden und im Übrigen, im fraglichen Bereich als einfacher Bebauungsplan, nach wie vor gültig.
Der vom Gemeinderat der Beigeladenen am 18. Juni 1979 als Satzung beschlossene Bebauungsplan wurde am 7. November 1979 genehmigt und am 30. November 1979 vor seiner Ausfertigung ortsüblich bekannt gemacht. Am 2. Februar 2017 wurde er erneut ortsüblich bekannt gemacht und rückwirkend in Kraft gesetzt. Er hat insgesamt sechs Änderungen erfahren. Sein Geltungsbereich umfasst in Nord-Süd-Richtung einen großen Teil des westlichen Gemeindegebiets der Beigeladenen. Als Arten der baulichen Nutzung sind Allgemeines Wohngebiet, Mischgebiet und Dorfgebiet vorgesehen. Die Klägergrundstücke liegen im Dorfgebiet (MD). Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass sich in diesem Bereich keine aktive Landwirtschaft mehr befindet oder verwirklicht werden kann. Die Festsetzung bezüglich der Art der baulichen Nutzung ist damit obsolet geworden. Der Plan verliert damit im Bereich des festgesetzten MD seine Eigenschaft als qualifizierter Bebauungsplan.
Mängel, die einzelnen Festsetzungen eines Bebauungsplans anhaften, führen nicht zu dessen vollständiger Unwirksamkeit, wenn die übrigen Regelungen, Maßnahmen oder Festsetzungen für sich betrachtet noch eine sinnvolle städtebauliche Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB bewirken können und wenn die Gemeinde nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen im Zweifel auch eine Satzung dieses eingeschränkten Inhalts beschlossen hätte (z.B. BVerwG, B.v. 17.9.2013 – 4 BN 40.13 – BRS 81 Nr. 76 – juris Rn.4 m.w.N.). Beides ist hier der Fall, wenn auch die obsolet gewordene Festsetzung die Art der baulichen Nutzung und damit einen Punkt von in der Regel zentralem Gewicht betrifft.
Der Wegfall der Festsetzung MD hat hier nicht zur Folge, dass das gesamte Regelungsgefüge des Bebauungsplans in Frage gestellt wird. Vielmehr wurde mit dieser Festsetzung ausweislich der Planzeichnung und der Begründung des Bebauungsplans lediglich dem Bestand Rechnung getragen und nicht ein in die Zukunft gerichteter unbedingter Gestaltungswillens der Beigeladenen zum Ausdruck gebracht. Der Wille der Beigeladenen, den Bebauungsplan im Zweifel auch ohne die Festsetzung MD zur Art der baulichen Nutzung im Bereich der Vorhabengrundstücke zu beschließen, kommt vor allem in der Bebauungsplanbegründung zum Ausdruck, wo es wörtlich heißt:
„…Die Aufstellung des Bebauungsplans war notwendig, um für den örtlichen Bedarf Wohnbauflächen zu schaffen und in diesem Bereich eine geordnete Bebauung und sinnvolle Straßenführung zu erreichen. (…) Die Baugebiete sind als Wohnbauflächen ausgewiesen. Ein Teil der bestehenden Baukörper zählt noch zum Dorfgebiet bzw. wird landwirtschaftlich genutzt. …“
Hieraus wird deutlich, dass es der Beigeladenen offenkundig um die Schaffung von Wohnbauflächen und eine räumlich und dimensional geordnete städtebauliche Entwicklung ging, nicht aber darum, Flächen für die Landwirtschaft zu schaffen. Die verbleibenden Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, der überbaubaren Grundstücksfläche und der Bauweise sind noch immer in der Lage eine sinnvolle städtebauliche Ordnung zu bewirken und den nach wie vor im untechnischen Sinn „dörflichen“ Charakter der Beigeladenen zu gestalten.
Auch der Umstand, dass die Beigeladene inzwischen in mehreren Änderungsverfahren Umplanungen vorgenommen und Abweichungen von der Gebäudehöhe sowie von den Baugrenzen zugelassen hat, um Bauwünschen Rechnung zu tragen, führt nicht zur Obsoletheit des Bebauungsplans. Dies wäre erst dann der Fall, wenn das planerische Konzept endgültig nicht mehr zu verwirklichen wäre. So liegt es aber nicht, denn die Grundzüge der Planung werden durch die eher geringfügigen Abweichungen vom planerischen Grundkonzept (0,3 m Wandhöhe mehr, kleinere Überschreitungen der Baugrenze) nicht berührt und im Übrigen teils auch durch Bebauungsplanänderungen, also eine Anpassung des planerischen Willens legitimiert.
Der Bebauungsplan Nr. 1 „… West“ litt ursprünglich an einem Bekanntmachungsfehler, konnte somit jedoch am 2. Februar 2017 wirksam rückwirkend in Kraft gesetzt werden. Im Regelfall – und so auch hier – steht eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse einer Fehlerbehebung nicht entgegen, weil gemäß § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der (ursprünglichen) Beschlussfassung über den Plan maßgebend ist. Nur wenn sich – im Ausnahmefall – die Verhältnisse so grundlegend geändert haben, dass der Bebauungsplan inzwischen einen funktionslosen Inhalt hat oder das ursprünglich unbedenkliche Abwägungsergebnis unhaltbar geworden ist, kommt eine Fehlerbehebung nicht mehr in Betracht (BVerwG, B. v. 12.3.2008 – 4 BN 5.08 – BRS 73 Nr. 32 – juris Rn.5). So liegt es hier nicht.
2. Gemäß § 30 Abs. 3, § 34 BauGB ist das streitige Vorhaben zwar der Art der baulichen Nutzung (Wohnen) nach, jedoch nicht nach dem Maß der baulichen Nutzung und der Grundstücksfläche die überbaut werden soll städtebaulich zulässig.
Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass Wohnnutzung in der näheren Umgebung vorherrscht, so dass das Vorhaben sich der Art der baulichen Nutzung nach einfügt, ohne dass entschieden werden muss, ob die Eigenart der näheren Umgebung einem Baugebiet im Sinne der Baunutzungsverordnung entspricht (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 oder § 6 BauNVO) oder es sich um eine Gemengelage handelt (§ 34 Abs. 1 BauGB).
Die Festsetzung im Bebauungsplan Nr. 1 „… West“, dass nur Einzel- und Doppelhäuser zulässig sind, betrifft nicht den ursprünglich als MD festgesetzten Bereich, in dem sich die zur Bebauung vorgesehenen Grundstücke befinden, sondern gilt nur im allgemeinen Wohngebiet sowie im Mischgebiet. Die diesbezügliche Festsetzung stand dem Vorhaben des Klägers somit von Anfang an nicht entgegen. Es widerspricht aber sowohl der Festsetzung zur Wandhöhe von 6,20 m bei Wohngebäuden mit zwei Vollgeschoßen wie auch der planerisch festgesetzten Baugrenze und bedarf deshalb nach § 31 Abs. 2 BauGB der Befreiung von den entsprechenden Festsetzungen des Bebauungsplans.
3. Eine Verpflichtung zur Erteilung der vom Kläger erstrebten Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB von der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenze und der Wandhöhe kommt nicht in Betracht.
Eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB scheitert bereits daran, dass eine Umsetzung des klägerischen Vorhabens die Grundzüge der Planung berühren würde. Mit den Grundzügen der Planung umschreibt das Gesetz die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Hierzu gehören die Planungsüberlegungen, die für die Verwirklichung der Hauptziele der Planung sowie den mit den Festsetzungen insoweit verfolgten Interessenausgleich und damit für das Abwägungsergebnis maßgeblich sind. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Veränderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Weg der Umplanung möglich ist. Ob eine Befreiung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Willen (vgl. BayVGH, U.v. 14.12.2016 – 2 B 16.1574 – juris Rn. 33 ff. – NVwZ-RR 2017, 483 ff.). Abzustellen ist auf die konkrete Planungssituation und das im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachte planerische Wollen. Es muss angenommen werden können, dass die Abweichung noch im Bereich dessen liegt, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes für die Abweichung gekannt hätte (BVerwG, U.v. 4.8.2009 – 4 CN 4.08 – juris Rn.12 – BVerwGE 134, 264 ff.). Eine Befreiung darf insbesondere nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (BVerwG, B.v. 29.7.2008 – 4 B 11.08 – juris Rn. 11 m.w.N.).
Gemessen an diesen Grundsätzen berührt die durch das streitige Vorhaben vorgesehene Baugrenzenüberschreitung im Norden in östlicher und westlicher Richtung die Grundzüge der Planung. Der Bebauungsplan schafft durch die in seinem gesamten Geltungsbereich festgesetzten Baugrenzen eine städtebauliche Ordnung, die einen Grundzug der Planung darstellt und die durch eine Überschreitung im geplanten Umfang (Richtung Westen um immerhin ca. 4,5 Meter in einer Tiefe von rund 8 Metern) durchbrochen würde. Die Festlegung von Bauräumen im Bebauungsplan lässt insbesondere zu den öffentlichen Verkehrsflächen hin das Besterben erkennen, ein Heranrücken der Baukörper an die öffentliche Straße zu verhindern. Die geplante Bebauung würde dieser Plankonzeption deutlich widersprechen, weil entgegen der Festsetzung ein um 4,5 Meter näher an die Straße vorgerückter Baukörper entstünde. Bei Zulassung einer derartigen Überschreitung wäre im Falle berechtigter Bezugnahme auf anderen Grundstücken mit einem Verlust der Ordnungsfunktion des Bebauungsplans hinsichtlich der gewünschten Mindestabstände zum Straßenraum zu rechnen.
Es besteht kein Anspruch auf Erteilung dieser Befreiungen, denn das in § 31 Abs. 2 BauGB eröffnete Befreiungsermessen ist nicht in einer Weise auf null reduziert, dass sich allein nur die Zulassung der klägerischen Planung als einzig richtige Entscheidung aufdrängen würde (BVerwG, U. v. 19.9.2002 – 4 C 13.01 – BVerwGE 117, 50 ff. – juris Rn. 29 ff.). Die Ermessensentscheidung könnte im Übrigen sogar dann ohne Rechtsfehler zu Ungunsten eines Antragstellers getroffen werden, wenn Grundzüge der Planung nicht berührt sind (BVerwG, B. v. 28.4.2008 – 4 B 16.08 – BRS 73 Nr. 69 – juris Rn. 7).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Da die Beigeladene einen eigenen Klageantrag gestellt und sich damit in ein Kostenrisiko begeben hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten gemäß § 162 Abs. 3 VwGO dem Kläger aufzuerlegen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.


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