Baurecht

kein Drittschutz des Maßes der baulichen Nutzung, kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot wegen

Aktenzeichen  AN 9 K 21.01966

Datum:
1.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 14905
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
BauGB § 34 Abs. 1 und Abs. 2
BayBO Art. 6

 

Leitsatz

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Beigeladene trägt ihre Kosten selbst.
4. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
5. Die Vollstreckungsschuldner können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

A.
Streitgegenstand ist die vonseiten der Kläger begehrte Aufhebung der Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienhauses mit drei Wohneinheiten, welche die Beklagte der Beigeladenen mit Bescheid vom 5. Oktober 2021 erteilt hat.
B.
Die zulässige Anfechtungsklage bleibt ohne Erfolg. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 5. Oktober 2021 verletzt keine drittschützenden Vorschriften. Demnach verletzt sie die Kläger nicht in ihren Rechten.
Die Anfechtungsklage eines Dritten hat unter zwei Voraussetzungen Erfolg: Zum einen muss der angefochtene Verwaltungsakt – hier die streitgegenständliche Baugenehmigung – rechtswidrig sein. Zum anderen muss der Verwaltungsakt den jeweiligen Kläger in dessen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Folglich führt eine etwaige objektive Verletzung einer Rechtsnorm allein nicht zum Erfolg einer Nachbarklage. Vielmehr muss die Rechtsverletzung zum Prüfungsumfang des bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahrens gehören. Ferner muss sich die Rechtswidrigkeit auch aus einer Norm ergeben, die dem Schutz des Nachbarn dient (Schutznormtheorie, BayVGH, B.v. 24. März 2009 – 14 CS 08.3017). Das gerichtliche Verfahren bildet insofern keine allumfassende Rechtmäßigkeitskontrolle. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich auf die Prüfung drittschützender Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln (BayVGH, B.v. 24. März 2009 – 14 CS 08.3017). Vermitteln kann einen Abwehranspruch im Übrigen der Umstand, dass es einem Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt (BVerwG, U.v. 25. Februar 1977 – IV C 22/75; BayVGH, B.v. 3. Mai 2018 – 9 CS 18.543).
Rechtsgrundlage für die Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung ist Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Danach hat der Bauherr einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Mangels Sonderbaueigenschaft des streitgegenständlichen Mehrfamilienhauses richtet sich der Prüfungsumfang der Beklagten nach dem vereinfachten Verfahren des Art. 59 Satz 1 BayBO. Hiernach prüft die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung des Vorhabens mit den abstandsrechtlichen Vorschriften nach Art. 6 BayBO (s.u. Ziffer I.). Des Weiteren hat die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit zu prüfen (s.u. Ziffer II.). Sofern das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme in den zu prüfenden Vorschriften verankert ist, ist auch dieses vonseiten der Bauaufsichtsbehörde zu prüfen (s.u. Ziffer III.). Prüfgegenstand ist zudem die Übereinstimmung des Vorhabens mit den örtlichen Bauvorschriften nach Art. 81 Abs. 1 BayBO (s.u. Ziffer IV. zur Stellplatzsatzung). Abschließend prüft die Bauaufsichtsbehörde vom Bauherrn beantragte Abweichungen nach Art. 63 BayBO sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird.
I. Gegenstand des vereinfachten Genehmigungsverfahren ist das Abstandsflächenrecht nach Art. 6 BayBO. Die Vorschriften über die Abstandsflächen dienen in ihrer Gesamtheit auch dem Nachbarschutz (BayVGH, B.v. 30. November 2005 – 1 CS 05.2535; BayVGH, B.v. 13. Dezember 2004 – 20 CS 04.2915).
Das gegenständliche Wohngebäude verstößt allerdings nicht gegen das Abstandsflächenrecht.
Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen freizuhalten. Die Abstandsflächen müssen nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO grundsätzlich auf dem Baugrundstück selbst liegen. Die Tiefe einer Abstandsfläche bemisst sich nach der Wandhöhe des Gebäudes. Das sich ergebende Maß ist H (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 und 5 BayBO). In Gemeinden mit mehr als 250.000 Einwohnern beträgt die Abstandsfläche in Wohngebieten grundsätzlich 1H, mindestens jedoch 3 Meter. Allerdings hat die Beklagte kraft Abstandsflächensatzung vom 11. Juli 2016 eine abweichende Tiefe der Abstandsflächen festgelegt. Die Satzung erging auf der Grundlage der seinerzeit geltenden, sog. Experimentierklausel (Art. 6 Abs. 7 BayBO a.F.). Ausweislich der Vollzugshinweise des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr zum Gesetz zur Vereinfachung baurechtlicher Regelungen und zur Beschleunigung sowie Förderung des Wohnungsbaus (BayBO-Novelle 2021) gilt der Vorrang abweichender Abstandsflächenregelungen aus Satzungen, welche auf der Grundlage der sog. Experimentierklausel geschaffen wurden, fort (vgl. Vollzugshinweise Seite 5). Die Tiefe der Abstandsfläche beträgt damit vorliegend 0,4H, mindestens 3 Meter (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 Abstandsflächensatzung der Beklagten). Hinsichtlich der Abstandsflächenpflicht von Dächern gilt vorliegend, dass die Höhe von Dächern mit einer Neigung von weniger als 70 Grad der Wandhöhe zu einem Drittel, bei einer größeren Neigung der Wandhöhe hingegen voll hinzugerechnet wird (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Abstandsflächensatzung der Beklagten).
Ausweislich des genehmigten Abstandsflächenplans sowie der genehmigten Grundrisse beträgt die Breite des streitgegenständlichen Gebäudes 15,00 Meter. Diese Seite des streitgegenständlichen Gebäudes ist dem klägerischen Grundstück zugewandt. Die für das Gebäude erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück der Kläger hin werden im Abstandsflächenplan mit 3,20 Meter im westlichen Bereich und mit 3,80 Meter im östlichen Bereich dieser Gebäudeseite angegeben. Dem liegt laut Abstandsflächenplan folgende Berechnung zugrunde: westlicher Bereich 0,4H x (6,44 Meter Wandhöhe + 4,62/3 Dachfläche) = 3,20 Meter; östlicher Bereich 0,4H x (7,14 Meter Wandhöhe + 4,62/3 Dachfläche) = 3,80 Meter. Ausweislich des Abstandsflächenplans liegen diese Abstandsflächen vollständig auf dem Baugrundstück.
Nach den Messungen des Gerichts auf dem genehmigten Abstandsflächenplan im Maßstab 1:100 beträgt der Abstand von der Außenwand des streitgegenständlichen Gebäudes zur Grundstücksgrenze im östlichen Bereich der besagten Außenwand ca. 7,50 Meter und im westlichen Bereich ca. 5,70 Meter. Die zutreffend errechneten Abstandsflächen liegen somit in Richtung der Kläger vollständig auf dem Grundstück der Beigeladenen. Hierbei ist auch unerheblich, ob hinsichtlich den Angaben zur Wandhöhe von den Angaben im Abstandsflächenplan (6,44 Meter sowie 7,14 Meter) oder von den sogar geringeren Angaben im Schnitt A (6,37 Meter sowie 6,70 Meter) auszugehen ist. Die Dachneigung wird im genehmigten Schnitt mit 40,00 Grad angegeben, sodass auch – wie von der Beklagten zutreffend ausgeführt – ein Drittel der Dachhöhe der Wandhöhe zuzurechnen war. Die Dachhöhe wird im Abstandsflächenplan sowie im Schnitt A übereinstimmend mit 4,62 Metern angegeben. Die dargelegten gesetzlichen Anforderungen an die Abstandsflächen werden von der genehmigten Planung daher erfüllt.
II. 1. Nach Art. 59 Satz 1 a) BayBO hat die Bauaufsichtsbehörde im Baugenehmigungsverfahren auch die Übereinstimmung des Vorhabens mit den Vorschriften über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit zu prüfen.
Vorliegend befindet sich das Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten – unbeplanten – Ortsteil, sodass das Vorhaben sich dann als zulässig erweist, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 Abs. 1 BauGB).
Die Auffassung der Kläger, das Vorhaben wäre vorliegend nach dem Bebauungsplan Nr. … der Beklagten vom … zu beurteilen, kann hingegen nicht überzeugen.
Das streitgegenständliche Grundstück FlNr. …, Gemarkung …, befindet sich ausweislich des sich in der Planmappe befindlichen „Lageplans mit Planungsrecht“, dem Geodatenportal der Beklagten sowie dem Geodateninformationssystem „BayernAtlas“ nur zu einem sehr geringen Teil im nordöstlichen Bereich des Grundstücks im Geltungsbereich dieses Bebauungsplans. Im Übrigen ist das Grundstück unbeplant. Das Vorhaben selbst befindet sich ausweislich der Lagepläne nicht im nordöstlichen Bereich des Grundstücks, sondern in dessen südlichen bzw. zentralen Bereich. Das Vorhaben ist bauplanungsrechtlich auch nicht auf Grundlage des Bebauungsplans zu behandeln, weil ein räumliche begrenzter (unbebauter) Teilbereich des Grundstücks in den Umgriff des Bebauungsplans fällt. So stellen die Rechtsprechung sowie rechtswissenschaftliche Literatur zutreffend klar, dass bei der Überplanung eines unbeplanten Innenbereichs nur der überplante Teil aus dem Bebauungszusammenhang ausscheidet, ohne das es auf etwaige Grundstücksgrenzen ankommt. Es wird zur Verdeutlichung exemplarisch zitiert:
„Der Geltungsbereich eines Bebauungsplans ist nach Maßgabe der Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 BauGB zu bestimmen. Dabei mag es vielfach zweckmäßig sein, sich hierbei an den Grenzen der sog. Buchgrundstücke auszurichten. Geboten ist dies indes nicht, wenn dem – wie z.B. bei großen Flurstücken – nach berechtigter Auffassung der Gemeinde planerische Gründe entgegenstehen.“
(Orientierungssatz zu BVerwG, B.v. 30. Juni 1994 – 4 B 136/94)
„Erstreckt sich der räumliche Geltungsbereich eines solchen qualifizierten Bebauungsplans nur auf einen Teil des Bebauungszusammenhanges, so scheidet dieser rechtlich aus dem im Zusammenhang bebauten Ortsteil iSd § 34 Abs. 1 aus.“
(EZBK/Söfker, 143. EL August 2021, BauGB § 34 Rn. 27)
„Sofern das Vorhaben im Geltungsbereich eines einfachen (nicht-qualifizierten) Bebauungsplans liegt, darf des Vorhabens dessen Festsetzungen nicht widersprechen.“
(Battis/Krautzberger/Löhr/Mitschang/Reidt, 15. Aufl. 2022, BauGB § 34 Rn. 17)
„Soweit die planerischen Festsetzungen reichen, verdrängen sie den von Abs. 1 herangezogenen Maßstab des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung.“
(Jarass/Kment, 3. Aufl. 2022, BauGB § 34 Rn. 23)
Die vorliegende Auffassung, dass allein darauf abzustellen ist, ob das Bauvorhaben selbst im Umgriff des Bebauungsplans situiert ist, wird auch vom Wortlaut der § 30 Abs. 1, Abs. 3, § 34 Abs. 1 BauGB gestützt. Sämtliche Normen stellen darauf ab, ob sich das „Vorhaben“ im Umgriff des Bebauungsplans befindet. Auf das Baugrundstück wird dem Gesetzeswortlaut nach hingegen nicht abgestellt. Das „Vorhaben“ im Sinne der dargelegten Normen ist nach § 29 Abs. 1 BauGB allerdings die Errichtung oder Änderung einer baulichen Anlage. Auch § 29 Abs. 1 BauGB stellt damit dem Wortlaut nach nicht auf das Baugrundstück, sondern auf das Gebäude ab.
Die vonseiten der Kläger vorgetragene Argumentation hinsichtlich der etwaigen drittschützenden Bestimmungen des Bebauungsplans Nr. … ist daher nicht entscheidungserheblich.
2. Die Kläger können sich nicht auf eine Verletzung des – generell drittschützenden – Gebietserhaltungsanspruchs berufen.
Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung kommt zwar grundsätzlich ohne Weiteres kraft Bundesrecht nachbarschützende Funktion zu (BVerwG, U.v. 16. September 1993 – 4 C 28/91; BVerwG, B.v. 27. August 2013 – 4 B 39/13; BayVGH, B.v. 24. Juli 2020 – 15 CS 20/1332). Hintergrund ist, dass diese Festsetzungen ein auf wechselseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen beruhendes Gegenseitigkeits- oder Austauschverhältnis zwischen den Eigentümern der Grundstücke im Plangebiet begründen. Den Eigentümern in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet wird durch den hier bestehenden Gebietserhaltungs- bzw. Gebietsbewahrungsanspruch das Recht eingeräumt, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen (BayVGH, B.v. 27. Dezember 2017 – 15 CS 17.2061). Dieser Anspruch gilt auch im faktischen Baugebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB (BVerwG, B.v. 27. August 2013 – 4 B 39.13; BayVGH, B.v. 8. Januar 2019 – 9 CS 17.2482).
Der Gebietserhaltungsanspruch ist vorliegend allerdings nicht verletzt.
Für eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs wurde von den Beteiligten weder etwas vorgetragen, noch sind dem Gericht anderweitig Umstände ersichtlich, welche für eine Verletzung sprechen könnten.
3. Die Kläger können sich nicht auf einen Verstoß gegen das Einfügegebot des § 34 Abs. 1 BauGB im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung berufen, da den diesbezüglichen Kriterien bereits keine drittschützende Wirkung zukommt.
Die Rechtsprechung des BVerwG sowie die weitere (ober) verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geht im Grundsatz davon aus, dass § 34 BauGB – abgesehen vom bereits thematisieren Gebietserhaltungsanspruch bezüglich der Art der baulichen Nutzung – regelmäßig nicht drittschützend ist (st. Rpsr. seit BVerwG, U.v. 13. Juni 1969 – 4 C 234.65). Dabei wird auch darauf verwiesen, dass der baurechtliche Nachbarschutz im unbeplanten Innenbereich nicht denselben Grundsätzen folgen muss wie im Geltungsbereich eines Bebauungsplans (BVerwG, B. v. 19. Oktober 1995 – 4 B 215.95). Das BVerwG lässt dem § 34 BauGB nur „ausnahmsweise“ dann Drittschutz zukommen, wenn das in § 34 Abs. 1 BauGB bzw. in § 15 BauNVO verankerte Gebot der Rücksichtnahme verletzt ist (EZBK/Söfker, 143. EL August 2021, BauGB § 34 Rn. 141).
Im Übrigen bleibt es bei dem Grundsatz, dass das Maß der baulichen Nutzung keinen Drittschutz vermittelt (BayVGH, B.v. 20. Mai 2020 – 9 ZB 18.2585; VG Ansbach, U.v. 4. Juni 2019 – AN 3 K 19.00340; VG Augsburg, U.v. 6. August 2014 – Au 4 K 13.1807; VGH BW, B.v. 20. März 2012 – 3 S 223/12). Der mangelnde Drittschutz gilt insbesondere für die vonseiten der Kläger thematisierte Zahl der Vollgeschosse (BVerwG, B.v. 9. August 2018 – 4 C 7.17; BayVGH, B.v. 11. August 2021 -15 CS 21.1775). Auch die Eigenart der näheren Umgebung hinsichtlich der vom Kläger gerügten Raumhöhe sowie der Gesamtwohnfläche vermitteln keinen Drittschutz (VG Regensburg, U.v. 4. August 2020 – RN 6 K 19.1992; BayVGH, B.v. 28. April 2020 – 9 ZP 18.2074; VG Würzburg, B.v. 3. Juli 2018 – W 4 K 17.1037). Hinsichtlich der Raumhöhe und der Gesamtwohnfläche ist darüber hinaus bereits sehr zweifelhaft, ob diese Merkmale maßbestimmende Faktoren im Sinne des § 34 BauGB sein können, die optisch wahrnehmbar sind und die die maßgebenden Bezugsgrößen in der näheren Umgebung ohne weiteres erkennen lassen (BeckOK BauGB/Spannowsky, 54. Ed. 1.1.2022, BauGB § 34 Rn. 39; vgl. auch BVerwG, B.v. 27. Juli 2011 – 4 B 4/11 zur fehlenden maßstabbildenden Funktion von nicht wahrnehmbaren Vollgeschossen). Dasselbe gilt auch für die Grundflächen- und Geschossflächenzahl, welche die Rechtsprechung regelmäßig für die Beurteilung des Einfügens nach § 34 BauGB als wenig geeignet ansieht (BVerwG, B.v. 27. Juli 2011 – 4 B 4/11; BVerwG, B.v. 21. Juni 2007 – 4 B 8.07).
Offenbleiben kann daher, ob sich das streitgegenständliche Vorhaben dem Maß der baulichen Nutzung nach in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
III. Auch der Sachvortrag der Kläger zum Gebot der Rücksichtnahme kann der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Die angefochtene Baugenehmigung verletzt nicht das bauplanungsrechtliche, vorliegend in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte, Gebot der Rücksichtnahme.
Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, U.v. 18. November 2004 – 4 C 1/04; BayVGH, B.v. 12. September 2013 – 2 CS 13.1351; BayVGH, B.v. 3. Juni 2016 – 1 CS 16.747). Schon daraus folgt, dass das Gebot der Rücksichtnahme durch Gegenseitigkeit geprägt ist (NdsOVG, B.v. 12. April 2017 – 1 ME 34.17; BayVGH, B.v. 28. April 2020 – 9 ZB 18.1493). Wesentlich ist, ob unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Zulässigkeit von Vorhaben, die sich im vorgegebenen Rahmen halten, gewichtigere Belange der Nachbarschaft entgegenzuhalten sind. Das Gebot der Rücksichtnahme schützt vor allem regelmäßig nicht vor Verschlechterungen der freien Aussicht oder vor Einsichtsmöglichkeiten benachbarter Häuser (BVerwG, B.v. 3. Januar 1983 – 4 B 224.82; BayVGH, U.v. 7. Oktober 2010 – 2 B 09.328; BayVGH, B.v. 9. Oktober 2012 – 15 CS 12.1852).
Vorliegend wurde ein etwaiger Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nur unter dem Aspekt diskutiert, dass von dem streitgegenständlichen Vorhaben eine „erdrückende“ oder „einmauernde“ Wirkung gegenüber dem klägerischen Grundstück ausgehen könnte. Wie das Gebot der Rücksichtnahme auch im Hinblick auf andere Aspekte verletzt sein könnte, wurde nicht vorgetragen und ist dem Gericht auch nicht sonst wie ersichtlich.
Das Vorhaben hält die notwendigen Abstandsflächen ein (s.o. Ziffer I.). Allein dies spricht indiziell gegen die Rücksichtslosigkeit des Vorhabens als Folge seiner erdrückenden oder abriegelnden Wirkung (BVerwG, B.v. 11. Januar 1999 – 4 B 128.98; BayVGH, B.v. 15. März 2011 – 15 CS 11.9). Darüber hinaus ist nichts ersichtlich, was diese Indizwirkung entkräften könnte:
Zwar kommt eine erdrückende, abriegelnde Wirkung bei nach Höhe, Breite und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht. Bejaht wurde eine solche Wirkung beispielsweise bei einem zwölfgeschossigen Gebäude in Entfernung von 15 Metern zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus (BVerwG, U.v. 13. März 1981 – 4 C 1.78). Ebenfalls angenommen wurde eine solche Wirkung bei einer 11,5 Meter hohen und ca. 13 Meter langen, wie eine „riesenhafte metallische Mauer“ wirkenden, Siloanlage im Abstand von 6 Metern zu einem Wohnanwesen (BVerwG, U.v. 23. Mai 1986 – 4 C 34.85). Allein anhand dieser Beispielsfälle wird allerdings deutlich, dass es für die Rüge einer erdrückenden Wirkung auf ein krasses Missverhältnis zwischen dem Umfang des gerügten Baukörpers und dessen Nähe zum jeweils betroffenen Gebäude ankommt.
Gerade bei der Annahme einer etwaig erdrückenden oder abriegelnden Wirkung von Wohngebäuden ist die Rechtsprechung seit jeher sehr restriktiv. Exemplarisch wird verwiesen auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichts München (VG München, B.v. 24. Januar 2019 – M 8 SN 18.5522: keine erdrückende Wirkung von 4 Stadthäusern in 11 Metern Entfernung zum klägerischen Wohngebäude), des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 5. September 2016 – 15 CS 16.1536: keine erdrückende Wirkung eines Mehrfamilienhauses in 17 Metern Entfernung zum klägerischen Gebäude) sowie des Oberverwaltungsgerichts Hamburg (OVG Hamburg, B.v. 26. September 2017 – 2 Bs 188/07: keine erdrückende Wirkung bei 3 Metern Abstand zur gemeinsamen Grundstücksgrenze von einem dreigeschossigen Wohngebäude mit 11,60 Metern Firsthöhe).
Festzustellen ist, dass das geplante Gebäude auf der den Klägern zugewandten Seite eine Länge von 15 Metern aufweist. Das geplante Gebäude soll ausweislich des Abstandsflächenplans auf einer Länge von 1,25 Metern an das bestehende Gebäude der Beigeladenen (* … …*) angebaut werden. Dieses Bestandsgebäude weist auf der den Klägern zugewandten Seite eine Länge von 20 Metern auf.
Nicht erheblich ist vorliegend, ob für die Frage der Rücksichtslosigkeit – wie die Beklagte meint – nur auf die Kubatur des streitgegenständlichen Gebäudes oder – den Kläger folgend – auf ein einheitliches Gebäude mit insgesamt 35 Metern Länge abzustellen ist. Selbst wenn es sich vorliegend um ein einheitliches Gebäude mit 35 Metern Länge handeln sollte, ginge namentlich keine erdrückende oder einmauernde Wirkung von dem Gebäude aus. Es darf exemplarisch auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs verwiesen werden, nach welcher sogar die erdrückende Wirkung eines Baukörpers mit einer Länge von ca. 160 Metern verneint wurde. Die Höhe des Baukörpers betrug im dortigen Fall zwischen 6,36 und 10,50 Metern. Der Abstand zwischen den Wänden des Gebäudes der dortigen Antragstellerin und des dortigen Vorhabens betrug an der engsten Stelle ca. 16 Meter (BayVGH, B.v. 5. Februar 2015 – 2 CS 14.2456). Auch für ein viergeschossiges Mehrfamilienhaus mit einer Gesamtbreite des Baukörpers von ca. 33 Metern (und einer maximalen Höhe von 11 Metern) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine erdrückende Wirkung verneint (BayVGH, B.v. 4. Juli 2016 – 15 ZB 14.891).
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Kubatur von 35 Metern Länge – auch in der Gesamtschau der örtlichen Gegebenheiten – nicht so übermächtig, dass das Gebäude der Kläger nur noch oder überwiegend wie eine von einem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen würde (BayVGH, B.v. 5. Januar 2019 – 9 CS 19.1767). Dies ergibt sich zunächst daraus, dass ausweislich des genehmigten Lageplans das streitgegenständliche Vorhaben selbst an der nächstgelegenen Entfernung mit einem Abstand von ca. 23 Metern zum Wohnhaus der Kläger errichtet werden soll. Im Bereich der nächstgelegenen Entfernung zum klägerischen Anwesen ist die Außenwand des streitgegenständlichen Vorhabens bereits 7 Meter von der gemeinsamen Grundstücksgrenze entfernt. Auf dem Grundstück der Kläger folgen zunächst der Garten und die Terrasse, bevor sich das klägerische Wohngebäude anschließt. Die Gesamtentfernung zwischen den beiden Gebäuden ist daher um ein wesentliches größer als bei denjenigen Fällen, in denen eine erdrückende oder einmauernde Wirkung vonseiten der Rechtsprechung bejaht wurde.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Höhe des streitgegenständlichen Gebäudes die Höhe des klägerischen Gebäudes – jeweils gemessen von der natürlichen Geländeoberfläche – um wenige Meter übertrifft. Ausweislich des bei dem Augenschein vonseiten der Kammer gewonnenen Eindrucks befindet sich das klägerische Anwesen sowie die weiteren am … gelegenen Grundstücke im Vergleich zum streitgegenständlichen Gebäude auf einer Anhöhe. Ausweislich der bei der Inaugenscheinnahme gefertigten Lichtbilder steigt die natürliche Geländeoberfläche vom streitgegenständlichen Gebäude bis hin zum klägerischen Gebäude an. Schon daher wird der Höhenunterschied, welcher bei einer Abmessung der Wandhöhe von der natürlichen Geländeoberfläche zwischen den beiden Gebäuden besteht, größtenteils – wenn nicht sogar vollständig – durch das Gefälle ausgeglichen. Es wird zudem auf weitere Rechtsprechung verwiesen, nach welcher ein einmauernder oder erdrückender Effekt bei wenigen Metern Höhenunterschied von zwei Wohngebäuden bzw. bei einem Höhenunterschied von einem Vollgeschoss selbst bei geringen Entfernungen zwischen den Gebäuden verneint wurde (VG Augsburg, U.v. 6. August 2014 – Au 4 K 13.1807; VG Ansbach, U.v. 28. Juni 2007 – AN 18 K 07.00442).
Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Fall das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme durch die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 5. Oktober 2021 nicht verletzt.
IV. Auch die weiteren vonseiten der Kläger vorgetragenen Umstände können der Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
Die bauordnungsrechtlichen Vorschriften über die Verpflichtung zur Errichtung der für eine ordnungsgemäße Nutzung notwendigen Stellplätze sind nicht nachbarschützend, sondern dienen ausschließlich dem öffentlichen Interesse an der Entlastung öffentlicher Verkehrsflächen vom ruhenden Verkehr (VG München, B.v. 23. Mai 2018 – M 11 SN 18.1512; VG Ansbach, U.v. 12. September 2012 – AN 9 K 11.01743; BayVGH, B.v. 25. August 2009 – 1 CS 09.287). Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Genehmigung des Vorhabens vorliegend ausnahmsweise gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen könnte, da die bauordnungsrechtlich erforderlichen Stellplätze etwaig nicht nachgewiesen sind.
Ob die Auflagen zur Bepflanzung und zur Herstellung des Kinderspielplatzes aus der Baugenehmigung zu dem bestehenden Gebäude der Beigeladenen auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung … (* … …*), erfüllt sind, kann vorliegend dahinstehen. Die Auflagen sind weder Gegenstand der streitgegenständlichen Baugenehmigung, noch ist ersichtlich, wie die Auflagen zugunsten der Kläger Drittschutz entfalten sollen. Entsprechenden Sachvortrag bleiben die Kläger schuldig.
Dass die wegemäßige Erschließung des gegenständlichen Vorhabens unter Verletzung drittschützender – d.h. hier die Kläger schützenden Vorschriften – ergangen ist, ist bereits auszuschließen, da ausweislich des streitgegenständlichen Bauantrags und des genehmigten Freiflächengestaltungsplan die Erschließung des Bauvorhabens über eine Stichstraße nach Süden zur … straße erfolgen soll. Die wegemäßige Erschließung des klägerischen Grundstücks erfolgt hingegen über den im Norden des streitgegenständlichen Grundstücks befindlichen …weg.
Auch die etwaig unterbliebene Nachbarbeteiligung kann der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Der die Nachbarbeteiligung regelnde Art. 66 BayBO ist nicht in dem Sinne dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt, dass der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt ist, wenn die nach Art. 66 BayBO gebotene Beteiligung unterblieben ist oder fehlerhaft durchgeführt wurde (VG München, B.v. 26. Oktober 2020 – M 8 SN 20.4673; BayVGH, B.v. 28. Januar 2016 – 9 ZB 12.839; BayVGH, B.v. 9. Januar 2018 – 9 C 17.88).
C)
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO. Die Beigeladene trägt billigerweise gemäß § 162 Abs. 3 VwGO ihre außergerichtlichen Kosten selbst, da sie keinen Antrag gestellt hat und sich damit keinem Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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