Baurecht

Keine Präklusion von Normenkontrollanträgen in Übergangsfällen

Aktenzeichen  4 CN 3/19

Datum:
25.6.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2020:250620U4CN3.19.0
Normen:
§ 47 Abs 2a VwGO
Spruchkörper:
4. Senat

Leitsatz

§ 47 Abs. 2a VwGO steht der Zulässigkeit eines Normenkontrollantrags nicht entgegen, über den ab dem 2. Juni 2017 entschieden wird. Dies gilt auch, wenn der Antrag vor dem 2. Juni 2017 und damit vor Außerkrafttreten der Norm gestellt worden ist.

Verfahrensgang

vorgehend OVG Lüneburg, 16. August 2018, Az: 1 KN 87/16, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Antragstellers wird das auf die mündliche Verhandlung vom 16. August 2018 ergangene Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Der Antragsteller wendet sich gegen einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan.
2
Die Antragsgegnerin beschloss am 8. Oktober 2013 die Aufstellung des vorhabenbezogenen Bebauungsplans Nr. 4 “Südlich der Hannoverschen Straße”. Während der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs vom 29. Dezember 2014 bis zum 30. Januar 2015 erhob der Antragsteller keine Einwendungen. Die Antragsgegnerin machte den am 15. März 2015 beschlossenen Bebauungsplan am 15. Juli 2015 bekannt. Der Plan setzt auf einer Fläche von 1,19 ha zwei Sondergebiete SO1 und SO2 mit der Zweckbestimmung “Seniorenwohnen” fest. Die im südlichen Plangebiet gelegene Fläche SO2 soll nach dem Vorhabenplan der Beigeladenen mit barrierefreien Mehrfamilienhäusern bebaut werden. Westlich an das Sondergebiet SO2 grenzt das Grundstück des Antragstellers, das für einen Einzelhandelsbetrieb genutzt wird.
3
Unter dem 20. Oktober 2015 erteilte der Landkreis O. der Beigeladenen eine Baugenehmigung, mit der die Planfestsetzungen jedenfalls im südlichen Planbereich im Wesentlichen ausgenutzt werden können. Gegen diese Baugenehmigung erhob der Antragsteller Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Die Gebäude sind zwischenzeitlich im Wesentlichen errichtet. Der Antragsteller erhielt unter dem 24. August 2015 die Genehmigung, zwei Bestandsgebäude auf seinem Grundstück zusammenzulegen. Gegen diese Genehmigung legte die Beigeladene Widerspruch ein mit der Begründung, der Betrieb des Lebensmittelgeschäfts führe zu unzumutbaren Lärmimmissionen. Eine Entscheidung über den Widerspruch steht noch aus.
4
Mit seinem am 1. Juli 2016 gestellten Normenkontrollantrag beanstandete der Antragsteller, die vom Plan ausgelösten Lärmkonflikte seien nicht gelöst. Dies gelte besonders für die im Nordosten seines Grundstücks gelegenen Stellplätze.
5
Das Oberverwaltungsgericht hat den Normenkontrollantrag verworfen, weil er nach § 47 Abs. 2a VwGO unzulässig sei. Die Norm finde Anwendung, weil die Antragsgegnerin eine schutzwürdige Position erlangt habe, die ihr durch die zwischenzeitliche Aufhebung des § 47 Abs. 2a VwGO nicht entzogen worden sei.
6
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner vom Senat zugelassenen Revision. Antragsgegnerin und Beigeladene verteidigen das angegriffene Urteil.

Entscheidungsgründe

7
Der Senat entscheidet nach § 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
8
Die Revision des Antragstellers ist begründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Weil für eine abschließende Entscheidung die notwendigen Feststellungen fehlen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zurückzuverweisen.
9
1. § 47 Abs. 2a VwGO hindert die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags nicht.
10
Nach § 47 Abs. 2a VwGO in der Fassung von Art. 3 Nr. 1 Buchst. b des Gesetzes zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte vom 21. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3316) war der Normenkontrollantrag einer natürlichen oder juristischen Person, der (u.a.) einen Bebauungsplan zum Gegenstand hatte, unzulässig, wenn die den Antrag stellende Person nur Einwendungen geltend machte, die sie im Rahmen der öffentlichen Auslegung (§ 3 Abs. 2 BauGB) oder im Rahmen der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 und § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB) nicht oder verspätet geltend gemacht hatte, aber hätte geltend machen können, und wenn auf diese Rechtsfolge im Rahmen der Beteiligung hingewiesen worden war. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Oberverwaltungsgericht bejaht; die Revision erhebt insoweit keine Einwendungen.
11
§ 47 Abs. 2a VwGO durfte indes keine Anwendung finden. Art. 5 des Gesetzes zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben vom 29. Mai 2017 (BGBl. I S. 1298) hat die Vorschrift mit Wirkung zum 2. Juni 2017 aufgehoben. Diese Rechtsänderung war zu berücksichtigen.
12
Nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts erfasst eine Änderung des Verfahrensrechts anhängige Rechtsstreitigkeiten (BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 – 2 BvR 1631, 1728/90 – BVerfGE 87, 48 ; BVerwG, Urteile vom 24. März 2010 – 4 CN 3.09 – Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 178 Rn. 16 und vom 21. Januar 2016 – 4 A 5.14 – BVerwGE 154, 73 Rn. 46). Daher hält die Mehrheit der Oberverwaltungsgerichte § 47 Abs. 2a VwGO nicht für anwendbar, wenn über einen Normenkontrollantrag nach dem Außerkrafttreten dieser Norm entschieden wird (OVG Münster, Urteile vom 25. September 2017 – 2 D 18/16.NE – juris Rn. 41 und vom 15. November 2017 – 7 D 55/16.NE – juris Rn. 28; OVG Schleswig, Urteil vom 28. September 2018 – 1 KN 19/16 – NVwZ-RR 2019, 351 Rn. 23 unter Abweichung von Urteil vom 29. August 2017 – 1 KN 10/16 – juris Rn. 46 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 17. April 2018 – 1 D 280/16 – BauR 2018, 1372 ; OVG Hamburg, Urteil vom 11. April 2019 – 2 E 10/16.N – juris Rn. 44; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 2 A 6.16 – juris Rn. 24; OVG Bautzen, Urteil vom 28. Dezember 2018 – 1 C 16/17 – SächsVBl 2019, 221 Rn. 31; OVG Koblenz, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 1 C 11131/16 – KommJur 2018, 78 ; OVG Greifswald, Urteil vom 27. September 2017 – 3 K 28/14 – juris Rn. 33; offen gelassen in VGH München, Urteil vom 29. Januar 2019 – 1 N 15.1832 – juris Rn. 22; VGH Mannheim, Urteile vom 16. Oktober 2018 – 8 S 2368/16 – ZfBR 2019, 47 und vom 24. Juli 2019 – 5 S 2405/17 – ZfBR 2019, 806; VGH Kassel, Urteil vom 14. Dezember 2017 – 4 C 59/15.N – BauR 2018, 940). Diese Auffassung trifft zu.
13
Die Gegenmeinung (VGH Mannheim, Urteil vom 18. Oktober 2017 – 3 S 642/16 – ZfBR 2018, 74 ; OVG Saarlouis, Beschluss vom 22. Mai 2018 – 2 C 427/17 – KommJur 2019, 104 ) weist allerdings mit Recht darauf hin, dass § 47 Abs. 2a VwGO einer Gemeinde als Antragsgegnerin eine schutzwürdige Verfahrensstellung vermitteln konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. März 1998 – 4 CN 12.97 – BVerwGE 106, 237 ), weil die Vorschrift ihr einen Anspruch auf ein den Antrag verwerfendes Prozessurteil einräumte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Dezember 2018 – 6 B 133.18 – Buchholz 442.066 § 47 TKG Nr. 5 Rn. 21). Diese Position hatte besondere Bedeutung, wenn eine Gemeinde nach Ablauf der Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO weitere Normenkontrollanträge nicht zu gewärtigen und damit eine allgemein verbindliche Unwirksamkeitserklärung nach § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht zu befürchten hatte. Diese Verfahrensstellung genießt Vertrauensschutz, auch wenn die Antragsgegnerin eine öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaft ist. Denn der Gedanke des Vertrauensschutzes hat seine Grundlage nicht in der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, sondern im Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG (BVerwG, Urteil vom 12. März 1998 a.a.O.). Zudem verschaffte § 47 Abs. 2a VwGO auch beigeladenen natürlichen oder juristischen Personen eine schutzwürdige Verfahrensstellung, wirkte also nicht nur zugunsten öffentlich-rechtlicher Körperschaften.
14
Die verfahrensrechtliche Stellung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen hat der Gesetzgeber indes mit einer noch hinreichend deutlichen gesetzlichen Regelung entzogen. § 47 Abs. 2a VwGO wurde ohne Übergangsregelung aufgehoben. Im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Oktober 2015 – C-137/14 [ECLI:EU:C:2015:683] – (NJW 2015, 3495) hielt der Gesetzgeber eine Einschränkung des § 47 Abs. 2a VwGO für geboten, weil es für die Norm in Art. 11 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 26 S. 1) (UVP-Richtlinie) und Art. 25 der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (ABl. L 334 S. 17) keine Grundlage gebe (BT-Drs. 18/9526 S. 51). Damit erschien § 47 Abs. 2a VwGO im Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie unionsrechtswidrig (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2016 – 4 CN 4.16 – Buchholz 406.11 § 13a BauGB Nr. 3 Rn. 30). Dies zugrunde gelegt, begründete § 47 Abs. 2a VwGO in diesen Fällen keine schutzwürdige Verfahrensposition. Die Anwendung des § 47 Abs. 2a VwGO in Übergangsfällen war damit ohne Übergangsregelung ausgeschlossen, um dem Anliegen zu genügen, das Unionsrecht “1:1” umzusetzen (BT-Drs. 18/9526 S. 2).
15
Für Bebauungspläne, die – wie der verfahrensgegenständliche (vgl. UA S. 13) – nicht in den Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie fallen, gilt nichts Anderes: Über das aus seiner Sicht unionsrechtlich Gebotene hinaus hat der Gesetzgeber § 47 Abs. 2a VwGO im Ganzen aufgehoben, weil ein teilweises Fortgelten der Vorschrift nicht praxisgerecht wäre (BT-Drs. 18/9526 S. 51). Diesem pragmatischen Ansatz stünde eine unterschiedliche Regelung in Übergangsfällen entgegen. Der Gesetzgeber unterscheidet – wie auch in anderem Zusammenhang (vgl. § 50 Abs. 1 UVPG) – nicht danach, ob Bebauungspläne in den Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie fallen. Materiell-rechtlich ist das unbedenklich: Die schutzwürdige Verfahrensstellung der Gemeinde und der Beigeladenen hatte nur geringes Gewicht, weil § 47 Abs. 2a VwGO die inzidente Kontrolle des Bebauungsplans im gerichtlichen Verfahren unberührt ließ (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2014 – 4 CN 1.13 – BVerwGE 149, 88 Rn. 16).
16
2. Der Antrag scheitert nicht am Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses.
17
Bei bestehender Antragsbefugnis ist regelmäßig das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Das Erfordernis dieses Bedürfnisses soll nur verhindern, dass Gerichte in eine Normprüfung eintreten, deren Ergebnis für den Antragsteller wertlos ist, weil es seine Rechtsstellung nicht verbessern kann. Ist ein Bebauungsplan durch genehmigte oder genehmigungsfreie Maßnahmen vollständig verwirklicht, so wird der Antragsteller allerdings in der Regel seine Rechtsstellung durch einen erfolgreichen Angriff auf den Bebauungsplan nicht mehr aktuell verbessern können (vgl. zuletzt BVerwG, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 4 BN 15.18 – juris Rn. 5 m.w.N.). Dies bedarf keiner Vertiefung. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Erklärung des Bebauungsplans als unwirksam für den Antragsteller vorteilhaft ist. Dies gilt sowohl für das Widerspruchsverfahren gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung als auch für das Widerspruchsverfahren gegen die Baugenehmigung, die der Antragsteller erhalten hat. Im Revisionsverfahren haben im Übrigen weder die Antragsgegnerin noch die Beigeladene das Rechtsschutzbedürfnis in Zweifel gezogen.


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