Baurecht

Nachbarklage gegen Baugenehmigung: Verletzung in drittschützenden Rechten

Aktenzeichen  M 1 K 18.5988

Datum:
22.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29615
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34
VwGO § 42 Abs. 1
BayBO Art. 6, Art. 59 S. 1 Nr. 1 lit. b
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1

 

Leitsatz

Die eingereichten Baupläne genügen nicht den Anforderungen der Bauvorlagenverordnung. Die Bauvorlagen sind insoweit unbestimmt, als sich aus ihnen nicht zweifelsfrei ergibt, wie die Abstandsflächen vom Beklagten berechnet wurden und ob diese tatsächlich nur auf das streitgegenständliche Grundstück selbst fallen und somit eingehalten werden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamtes R. vom 21. November 2018 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers sowie des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung verhandeln, da diese ordnungsgemäß geladen worden waren und die Ladungen einen entsprechenden Hinweis gemäß § 101 Abs. 2 VwGO enthielten.
Die Klage hat Erfolg.
1. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht erhoben worden.
Die Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO liegt vor. Der Geltendmachung einer möglichen Rechtsverletzung steht nicht entgegen, dass die erste Baugenehmigung vom 18. Juli 2011 bereits bestandskräftig ist und der Kläger seine Zustimmung zur 4. Tekturgenehmigung durch seine Unterschrift gem. Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BayBO auf den eingereichten Bauvorlagen vom 23. Januar 2015 erteilt hatte. Die Erteilung der Nachbarunterschrift führt zu einem Verlust der Klagebefugnis nur in dem zugestimmten Umfang, also nur im Hinblick auf die Planung vom 23. Januar 2015. Eine erneute Nachbarbeteiligung war nötig und keinesfalls entbehrlich. Sie ist nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn die Änderung aus der Sicht des Nachbarn so geringfügig ist, dass sie noch durch die geleistete Unterschrift gedeckt ist, etwa wenn im Änderungsplan nur die Fassade geringfügig umgestaltet oder es sich um Dachgauben oder Oberlichte handelt (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.1992 – 15 CS 92.3199 – juris Rn. 24) und allgemein, wenn durch die Änderung des Vorhabens nur eine Verbesserung, zumindest aber keine Verschlechterung in Bezug auf die rechtlich geschützten nachbarlichen Interessen eintritt. Eine Verschlechterung der Nachbarbelange aufgrund der neu geplanten Decken mit Geländer in Richtung des klägerischen Grundstücks ist nicht ausgeschlossen. Die geleistete Nachbarunterschrift auf den Plänen der 4. Tektur deckt somit die neu eingereichten Pläne der 6. Tekturgenehmigung nicht mit ab.
2. Die Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 21. November 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in drittschützenden Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblicher Zeitpunkt ist die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung zum Zeitpunkt ihrer Erteilung (21. November 2018).
Im vorliegenden Fall war ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO durchzuführen, da es sich bei dem Wohnbauvorhaben nicht um einen Sonderbau im Sinne von Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt. Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren war zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung neben der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens auch das Abstandsflächenrecht zu prüfen, Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b) BayBO.
Der Prüfungsumfang bezieht sich nur auf die in der 6. Tekturgenehmigung genehmigten Änderungen des Bauvorhabens, da die erstmals erteilte Baugenehmigung vom 18. Juli 2011 sowie die darauf aufbauende 4. Tekturgenehmigung vom 19. April 2016 bestandskräftig sind und insoweit der Anfechtungsklage nicht mehr unterliegen können. Denn ist eine der Tektur zu Grunde liegende Erstgenehmigung bereits unanfechtbar, können und müssen die erstmalig zur Genehmigung gestellten Änderungen isoliert betrachtet werden, da die Bestandskraft insoweit eine rechtliche Zäsur darstellt. Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes wäre es nicht hinnehmbar, wenn eine unanfechtbare Baugenehmigung im Falle kleinerer Änderungen erneut in vollem Umfang überprüft werden könnte. Damit würde der Inhaber einer bestandskräftigen Baugenehmigung schlechter gestellt werden als der eines bestandskräftigen Vorbescheides, ohne dass hierfür nachvollziehbare Gründe ersichtlich wären. Es handelt sich bei der 6. Tekturgenehmigung insbesondere nicht um ein Aliud zur ursprünglichen Baugenehmigung sondern um eine Tektur mit kleineren Ergänzungen, die keine umfangreichen Änderungen des Bauvorhabens beinhaltet (vgl. hierzu König in Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 68 Rn. 21).
Ein Nachbar kann sich als Dritter gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2001 – 1 ZS 00.3650 – juris Rn. 5; B.v. 29.4.2015 – 2 ZB 14.1164 – juris Rn. 4; VG München, U.v. 3.11.2015 – M 1 K 15.3173 – juris Rn. 21).
Eine Rechtsverletzung des Klägers durch die angefochtene Baugenehmigung kommt nur in Betracht, soweit die darin getroffene Feststellung zur Zulässigkeit des Vorhabens gegen den nachbarschützenden Gehalt der im Baugenehmigungsverfahren geprüften Normen verstößt. Dies ist der Fall.
Vorliegend sind drittschützende Rechte des Klägers verletzt, da infolge der Unbestimmtheit der Bauvorlagen sowie der Baugenehmigung die Einhaltung der Abstandsflächen auf dem streitgegenständlichen Grundstück nicht eindeutig festgestellt werden kann.
Eine Baugenehmigung muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG). Sie muss Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lassen, damit die mit dem Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten des Verfahrens nachvollziehbar und eindeutig ist (vgl. BayVGH, B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 30). Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls, wobei Unklarheiten zu Lasten der Behörde gehen. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt vor, wenn die Unbestimmtheit ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft. Eine Baugenehmigung ist daher aufzuheben, wenn wegen Fehlens oder Unvollständigkeit der Bauvorlagen Gegenstand und Umfang nicht eindeutig festgestellt und aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann.
Art. 64 Abs. 2 Satz 1 BayBO bestimmt, dass mit dem Bauantrag alle für die Beurteilung des Bauvorhabens und die Bearbeitung des Bauantrags erforderlichen Unterlagen (Bauvorlagen) einzureichen sind. Art, Umfang und Inhalt der vorzulegenden Bauvorlagen ergeben sich dabei aus der Bauvorlagenverordnung (BauVorlV), vgl. Art. 80 Abs. 4 BayBO. Die vorgelegten Bauvorlagen und die in ihnen enthaltenen Angaben müssen dabei vollständig, richtig und eindeutig sein (vgl. Gaßner in Simon/Busse, BayBO, Stand: 136. EL Januar 2020, Art. 64 Rn. 75). Stellt sich bei der Prüfung durch die Behörde heraus, dass die Bauvorlagen inhaltlich unrichtige Angaben enthalten bzw. widersprüchlich oder sonst als Entscheidungsgrundlage ungeeignet sind, darf die Baugenehmigung nicht erteilt werden (vgl. Gaßner, a.a.O. Rn. 80; VG München, B.v. 28.11.2017 – M 8 SN 17.4766 – juris Rn. 57).
Ein Nachbar hat zwar keinen materiellen Anspruch darauf, dass der Bauantragsteller einwandfreie und vollständige Bauvorlagen einreicht (vgl. Gaßner, a.a.O., Art. 64 Rn. 84 m. w. N.). Nachbarrechte können aber dann verletzt sein, wenn infolge der Unbestimmtheit einer Baugenehmigung bzw. der Bauvorlagen der Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig festgestellt und deshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass das genehmigte Vorhaben gegen nachbarschützendes Recht verstößt (vgl. BayVGH, U.v. 20.05.1996 – 2 B 94.1513 – NVwZ-RR 1998, 9; B.v. 5.12.2001 – 26 ZB 01.1775 – juris Rn. 11 m. w. N.; VGH BW, B.v. 23.11.2017 – 3 S 1933/17 – juris Rn. 8).
Wenn die Baugenehmigung selbst oder die ihr zu Grunde liegenden Bauvorlagen wegen Ungenauigkeiten bzw. wegen ihres Fehlens keine Entscheidung zulassen, ob die Anforderungen derjenigen Vorschriften gewährleistet sind, die zum Prüfprogramm des konkreten bauaufsichtlichen Verfahrens gehören und die Nachbarschutz vermitteln, kann eine Nachbarrechtsverletzung zur Aufhebung einer Baugenehmigung führen (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.1999 – 1 B 97.3174 – juris Rn. 16). Betrifft die Unbestimmtheit oder Unrichtigkeit der Bauvorlagen solche Vorschriften, deren Verletzung im konkreten Fall subjektiv-öffentliche Abwehrrechte des Klägers begründen können, ist eine mögliche Rechtsverletzung des Klägers hierdurch zu bejahen (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.1999 – 1 B 97.3174 – juris Rn. 16).
Die eingereichten Baupläne genügen nicht den Anforderungen der Bauvorlagenverordnung. Die Bauvorlagen sind insoweit unbestimmt, als sich aus ihnen nicht zweifelsfrei ergibt, wie die Abstandsflächen vom Beklagten berechnet wurden und ob diese tatsächlich nur auf das streitgegenständliche Grundstück selbst fallen und somit eingehalten werden. Gem. § 3 Nr. 1 BauVorlV ist bei baulichen Anlagen mit dem Genehmigungsantrag unter anderem auch ein Lageplan bei der Genehmigungsbehörde einzureichen. Gem. § 7 Abs. 3 Nr. 13 BauVorlV muss dieser, soweit dies zur Beurteilung des Bauvorhabens erforderlich ist, die Abstände der geplanten baulichen Anlage zu anderen baulichen Anlagen auf dem Baugrundstück und auf den benachbarten Grundstücken, zu den Nachbargrenzen sowie die Abstandsflächen der geplanten baulichen Anlagen und der bestehenden Anlagen auf dem Baugrundstück und den Nachbargrundstücken enthalten. Darüber hinaus müssen gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauVorlV die katastermäßigen Flächen, Flurgrundstücksnummern und die Flurgrundstücksgrenzen des Baugrundstücks und der benachbarten Grundstücke im Lageplan enthalten sein. Ferner sind auch die Höhenlage der Eckpunkte des Baugrundstücks und der Eckpunkte der geplanten baulichen Anlage mit Bezug auf das Höhenbezugssystem anzugeben (§ 7 Abs. 3 Nr. 11 BauVorlV). Zur Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens ist es unerlässlich, einen Abstandsflächenplan einzureichen. In Richtung des klägerischen Grundstücks wurde durch die 6. Tekturgenehmigung die Errichtung einer Terrasse mit Geländer über dem 2. Obergeschoss sowie einer Decke über dem 1. Obergeschoss genehmigt. In den Plänen befindet sich bei der Grundrissdarstellung des Dachgeschosses eine gelb markierte rechteckige Einzeichnung von Abstandsflächen mit einer Breite von 3 m. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Ansicht West im Plan zur 6. Tektur. Bei dieser ist im Bereich zum klägerischen Grundstück ein Hang mit unterschiedlichen Höhen eingezeichnet. Die tiefste Stelle von Geländeroberkante bis zur natürlichen Geländeoberfläche beträgt hierbei nach Messungen des Gerichts über 4 m und kann in Anwendung von Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nicht mit dem eingezeichneten 3 m Abstand übereinstimmen. Die streitgegenständlichen Pläne stellen weder die durch die geplante Terrasse mit Geländer anfallenden Abstandsflächen exakt dar, noch ermöglichen sie es, diese exakt zu berechnen. Es ist daher nicht eindeutig ersichtlich, welche Abstandfläche noch auf dem Vorhabengrundstück und welche Abstandsfläche bereits auf dem Nachbargrundstück liegt. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, um die konkrete Betroffenheit auf dem Anwesen des Klägers ermitteln zu können. Soweit der Beklagte im gerichtlichen Verfahren ausführt, das 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO sei angewendet worden, ist dies ebensowenig in den Plänen nachvollziehbar. Das Gericht weist darauf hin, dass aufgrund der in den Baugenehmigungen vom 18. Juli 2011 sowie 19. April 2016 nach Art. 63 BayBO erteilten Abweichungen von den Abstandsflächen die Anwendung des 16 m-Privilegs ohnehin ausscheidet (vgl. BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – juris Rn. 37). Der Kläger kann sich auf die Unbestimmtheit der Bauvorlagen und genehmigten Pläne auch berufen, da für ihn nicht erkennbar ist, ob die Abstandsflächen auf sein Grundstück fallen und er dadurch in drittschützenden Rechten verletzt ist.
Der Beklagte führte in der mündlichen Verhandlung zutreffend aus, dass im Nordwesten des streitgegenständlichen Grundstücks die Abstandsflächen tatsächlich nicht eingehalten seien; die Abstandsfläche müsse ein Dreieck darstellen und würde teilweise auf das klägerische Grundstück fallen. Eine Abweichung sei hierfür bislang nicht erteilt worden.
3. Die Baugenehmigung war daher wegen ihrer Unbestimmtheit und der nach eigenen Angaben des Beklagten in der mündlichen Verhandlung fehlenden Einhaltung der Abstandsflächen mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO aufzuheben. Der Beigeladene trägt keine Kosten, weil er keinen Antrag gestellt hat (vgl. § 154 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Zugleich entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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