Baurecht

Nachbarschutz bei Baugenehmigung unter Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans von den Baugrenzen

Aktenzeichen  W 4 K 16.601

Datum:
31.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1 Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung (hier von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich Baugrenzen und Dachneigung) unzumutbar beeinträchtigt wird. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung vom 5. April 2016, über die das Gericht ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden konnte, nachdem die Parteien hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet, da die Klägerin durch die streitgegenständliche Genehmigung nicht in drittschützenden Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen ist und trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung, ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung dieses Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96, NVwZ 1998, 58 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris Rn. 3).
Da das beantragte Bauvorhaben keinen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 BayBO darstellt, wurde es zu Recht im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren gemäß Art. 59 BayBO genehmigt. Da keine Abweichungen im Sinne des Art. 63 BayBO beantragt oder erteilt wurden und die Baugenehmigung auch nicht andere öffentlich-rechtliche Entscheidungen substituiert, umfasst der Prüfungsmaßstab für das streitgegenständliche Vorhaben gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO nur die Übereinstimmung des Vorhabens mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB sowie den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich vorliegend nach § 30 Abs. 1 BauGB, da das Vorhaben im Geltungsbereich des Bebauungsplans „…“ der Gemeinde W … ausgeführt werden soll. Damit ist das Vorhaben nach § 30 Abs. 1 BauGB nur zulässig, wenn es den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widerspricht und die Erschließung sicher ist.
Dass das Vorhaben der Beigeladenen nach der Art der baulichen Nutzung in einem allgemeinen Wohngebiet, wie vorliegend durch den Bebauungsplan festgesetzt, zulässig ist, ist offensichtlich und wird von der Klägerin auch nicht bestritten.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund des Umstands, dass der Beklagte der Beigeladenen eine Befreiung erteilt hat bezüglich Baugrenzenüberschreitung und Dachneigung (35 Grad statt 25 Grad), denn hierdurch wird die Klägerin nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt.
Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8). Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verletzt die Befreiung durch den Beklagten keine Rechte der Klägerin, denn die Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ über die Dachneigung und über die Baugrenzen haben keinen nachbarschützenden Charakter.
Grundsätzlich nachbarschützend sind die Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (BVerwG v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – juris), die hier aber nicht in Rede stehen. Drittschutz vermitteln darüber hinaus nur solche Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die auch der Rücksichtnahme auf individuelle Interessen und deren Ausgleich untereinander dienen. Dies ist im Wege der Auslegung zu ermitteln (vgl. BVerwG v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – juris Rn. 11, 14). Ob Festsetzungen auf der Grundlage des § 23 BauNVO auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BayVGH v. 23.3.2015 – 15 CS 14.2871 – juris Rn. 22). Ein solcher planerische Wille in Bezug auf die im Bebauungsplan „…“ festgesetzten Baugrenzen ist hier aber nicht erkennbar. Abgesehen davon trifft die vom Klägervertreter behauptete Regelung nicht zu, wonach seitliche und hintere Baugrenzen grundsätzlich dem Schutz der angrenzenden Grundstücke dienten. Die Frage, ob Baugrenzen nachbarschützend sind, ist aufgrund einer einzelfallbezogenen Auslegung der Festsetzungen des Bebauungsplans zu ermitteln. Eine wesentliche Orientierung hierfür gibt der funktionale Zusammenhang mit den abstandsflächenrechtlichen Vorschriften des Art. 6 und Art. 7 BayBO (vgl. BayVGH v. 17.4.2002, 14 ZB 00.2854 – juris Rn. 4). Die danach zu Gunsten der Klägerin erforderlichen Abstände werden im vorliegenden Fall jedoch nicht unterschritten.
In Bezug auf die Festsetzung einer Dachneigung ist dem Bebauungsplan gleichfalls kein auf Nachbarschutz gerichteter planerischer Wille zu entnehmen.
Die erteilten Befreiungen sind auch nicht unter Verstoß gegen das Gebot der Würdigung nachbarlicher Belange erteilt worden, denn die geltend gemachte Verletzung des Rücksichtnahmegebots liegt nicht vor.
Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass das Maß der nach § 15 Abs. 1 BauNVO gebotenen Rücksichtnahme, wie sich schon aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, gerade von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängt. Gegeneinander abzuwägen sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist. Feste Regeln lassen sich dabei nicht aufstellen. Erforderlich ist eine Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen (vgl. BVerwG v. 10.1.2013 – 4 B 48.12 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Unter Berücksichtigung dessen kann die Kammer für den konkreten Fall nicht erkennen, dass das aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO abzuleitende bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot verletzt ist. Eine solche Verletzung etwa durch eine erdrückende oder eventuell abriegelnde Wirkung des Bauvorhabens wird klägerseits auch nicht substanziiert behauptet.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Da die Beigeladenen keinen eigenen Sachantrag gestellt haben und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben, entspricht es billigem Ermessen, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen (§ 154 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.


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