Baurecht

Schülerbeförderung in der Stadt – Vergabeverfahren

Aktenzeichen  Verg 15/15

Datum:
2.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
VergabeR – 2016, 775
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
GWB GWB aF § 101a Abs. 1, § 101b Abs. 1, Abs. 2, § 107 Abs. 2
VgV VgV aF § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Maßstab für die Erkennbarkeit eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften iSd § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB aF (jetzt § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB) ist die Erkenntnismöglichkeit des betreffenden Bieters bei Anwendung der üblichen Sorgfalt (Fortführung von OLG München BeckRS 2010, 23564).  (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei der Frage, welche Sorgfalt insoweit von einem verständigen Bieter erwartet werden muss, sind auch die betrieblichen Verhältnisse, insbesondere die Branche, der Zuschnitt des Unternehmens und die aus der Unternehmenstätigkeit resultierende Häufigkeit der Teilnahme am Vergabeverfahren in die Wertung einzubeziehen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Führt der öffentliche Auftraggeber verfahrenswidrig lediglich eine nationale Ausschreibung durch, genügt es zur Darlegung eines drohenden Schadens iSd § 107 Abs. 1 S. 2 GWB aF (jetzt § 160 Abs. 1 S. 2 GWB), wenn der Bieter nachvollziehbar darlegt, dass er im Falle einer europaweiten Ausschreibung bessere Chancen auf den Zuschlag gehabt hätte (Fortführung von BGH BeckRS 2009, 23025). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der Vergabekammer Südbayern vom 27.10.2015 AZ: Z3-3-3194-1-46-08/15 aufgehoben.
II.
Es wird festgestellt, dass der zwischen der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen geschlossene Schülerbeförderungsvertrag vom 22.7./7.8.2015 nichtig ist.
III.
Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, beim Fortbestehen ihrer Beschaffungsabsicht ein europaweites Vergabeverfahren durchzuführen.
IV.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Antragstellerin. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für das Verfahren vor der Vergabekammer wird für die Antragstellerin für notwendig erklärt.
V.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf € 10.900.- festgesetzt.

Gründe

A. Mit Schreiben vom 23.04.2015 forderte die Antragsgegnerin acht Busunternehmen, darunter auch den Antragsteller auf, ein Angebot für die Leistung „Schülerbeförderung in der Stadt L.“ für das Schuljahr 2015/2016 bis zum 18.06.2015 abzugeben.
Es wurde darauf hingewiesen, dass die Angebotseröffnung unter Ausschluss der Bieter erfolgt und die Verdingungsordnung für Leistungen (VOL) keine Anwendung findet. Der Vertrag sollte für zwei Schuljahre gelten (Ziffer 22 der Allgemeinen Vertragsbedingungen). In Ziffer 23 heißt es, dass weitere Fahrten, die schulbedingt stattfinden, z. B. Schwimmunterricht, Sportfeste etc. zum Angebotspreis abgerechnet werden.
Neben dem Antragsteller reichte nur die Beigeladene ein Angebot fristgerecht bei der Antragsgegnerin ein. Nach Prüfung und Wertung der Angebote wurde der Antragsteller telefonisch darüber informiert, dass er den Zuschlag nicht erhalten könne, da ein Mitbewerber ein günstigeres Angebot abgegeben habe. Auf Nachfrage des Antragstellers teilte ein Mitarbeiter der Antragsgegnerin mit, dass nur das niedrigste Angebot beim Zuschlag Berücksichtigung finden werde.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 30.06.2015 bat der Antragsteller die Antragsgegnerin, ihm schriftlich und unverzüglich mitzuteilen, welche Gründe für die Ablehnung seines Angebots ausschlaggebend gewesen seien und welche Merkmale und Vorteile das erfolgreichere Angebot des Mitbewerbers beinhaltet habe.
Daraufhin verfasste die Antragsgegnerin ein Schreiben vom 10.07.2015 mit dem Inhalt, dass das Angebot des Antragstellers aus preislichen Gründen keine Berücksichtigung gefunden habe.
Mit Schreiben vom 29.07.2015 rügte der Antragsteller, dass trotz Überschreitens des EU-Schwellenwerts von 207.000.- € (für Liefer- und Dienstleistungen) die streitgegenständliche Ausschreibung nicht europaweit durchgeführt worden sei und dass keine den Vorschriften des GWB entsprechende Benachrichtigung erfolgt sei.
In ihrem Antwortschreiben vom 30.07.2015 verwies die Antragstellerin darauf, dass der 4. Teil des GWB nicht zur Anwendung komme, da der Gesamtauftragswert netto nicht über 200.000,00 € und damit unter dem Schwellenwert von 207.000,00 € liege. Im Übrigen sei der behauptete Vergabeverstoß aus den Vergabeunterlagen erkennbar gewesen und hätte spätestens bis zum Ablauf der Angebotsfrist gerügt werden müssen.
Mit Vertrag vom 22.7./7.8.2015 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen den Auftrag.
Weil die Rügen die Antragsgegnerin nicht zur Änderung ihrer Rechtsauffassung veranlassten, beantragte der Antragsteller am 11.08.2015 die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens mit dem Ziel, den erteilten Zuschlag für unwirksam zu erklären und das Vergabeverfahren neu durchzuführen.
Der Antragsteller trug vor:
Der Auftrag sei nicht europaweit ausgeschrieben worden, obwohl der maßgebliche Schwellenwert überschritten worden sei. Eine Benachrichtigung gemäß § 101a Abs.2 GWB sei unterblieben. Dem Antragsteller sei auch ein Schaden entstanden, wobei es ausreiche, dass sich durch den Verstoß eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation ergeben könne. Ein Verstoß gegen die Rügepflicht liege nicht vor, da die Verstöße für den Antragsteller nicht erkennbar gewesen seien.
Die Antragsgegnerin trat dem Nachprüfungsantrag entgegen und trug vor:
Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig, da der maßgebliche Schwellenwert nicht erreicht werde. Der Auftragswert sei korrekt festgesetzt worden. Mögliche Sonderfahrten seien bei der Berechnung des Auftragswertes nicht zu berücksichtigen gewesen, da der Umfang in der Vergangenheit stark geschwankt habe und in der Vergangenheit auch Dritte mit diesen Fahrten beauftragt worden seien.
Selbst wenn eine europaweite Ausschreibung erfolgen hätte müssen, sei der Antragsteller nicht in seinen eigenen Rechten verletzt, da er an dem Verfahren beteiligt worden sei und nur das zweitgünstigste Angebot abgegeben habe. Ihm drohe daher auch kein Schaden.
Außerdem sei der Antragsteller mit seinen Rügen präkludiert, da aus der Bekanntmachung ersichtlich gewesen sei, dass ein nationales Verfahren durchgeführt werde. Der Antragsteller, dem die Kosten aus den vorangegangenen Jahren bekannt gewesen seien, hätte auch erkennen können, dass die Schwellenwerte überschritten worden seien.
Die Vergabekammer wies den Antrag mit Beschluss vom 27.10.2015 als unzulässig zurück und führte zur Begründung aus:
Die Vergabekammer sei für die Überprüfung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens zuständig, da die ausgeschriebene Dienstleistung den maßgeblichen Schwellenwert nach § 2 VgV überschreite. Es fehle bereits an einer ordnungsgemäß dokumentierten qualifizierten Schätzung der Antragsgegnerin. Daher habe die Vergabekammer den Auftragswert eigenständig unter Berücksichtigung des Sachverhaltes geschätzt. Bei der Berechnung des maßgeblichen Auftragswertes seien auch die unter Ziff. 23 genannten weiteren Fahrten einzubeziehen, auch wenn es sich hierbei nur um einen weiteren geschätzten Wert handele.
Der Nachprüfungsantrag sei jedoch unzulässig, da für den Antragsteller erkennbar gewesen sei, dass die nationale Ausschreibung unzulässig gewesen sei, und der Antragsteller die Wahl des unzulässigen nationalen Verfahrens nicht gemäß § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 GWB vor Angebotsabgabe gerügt habe. Dem Antragsteller sei in tatsächlicher Hinsicht als bisherigen Erbringer der Leistungen bekannt gewesen, welchen Umfang die Leistungen in den vergangenen Jahren gehabt hätten und er hätte unter Berücksichtigung der sogenannten Sonderfahrten daraus schließen müssen, dass der Schwellenwert überschritten werde. Auch in rechtlicher Hinsicht sei die Erkennbarkeit gegeben gewesen, weil es zu dem grundlegenden Wissen von Bietern, die an unionsweiten Vergabeverfahren teilnähmen, gehöre, dass bei einem Auftragswert von über 207.000,00 € eine EU-weiten Ausschreibung erfolgen müsse.
Der Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des zwischen der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen abgeschlossenen Vertrages sei zudem wohl auch unbegründet. Die fehlende europaweite Ausschreibung und die fehlende Vorabinformation hätten sich nicht zulasten des Antragstellers ausgewirkt, da sein Angebot keine Berücksichtigung finden habe können, weil es an zweiter Stelle gelegen habe. Der Feststellungsantrag eines Bieters nach § 101b Abs.1 GWB könne nur dann begründet sein, wenn sich dieser Verstoß auch zu seinen Lasten ausgewirkt habe, er also kausal in seinen Rechten verletzt worden sei oder dies zumindest nicht auszuschließen sei. Das Nachprüfungsverfahren diene aber nicht einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle, sondern dem Individualschutz des einzelnen Bieters.
Mit Schriftsatz vom 11.11.2015 legte der Antragsteller gegen den Beschluss sofortige Beschwerde ein und trägt zur Begründung vor:
Die Vergabekammer habe zu Recht ausgeführt, dass der maßgebliche Schwellenwert überschritten worden sei. Die Auffassung der Vergabekammer, dass der Antragsteller seiner Rügeobliegenheit nicht Genüge getan habe, sei unzutreffend. Es sei für den Antragsteller nicht erkennbar gewesen, dass unter Verstoß gegen die Normen des GWB nur eine nationale Ausschreibung erfolgt sei. Der Antragsteller sei ein lokaler Busunternehmer. Irgendwelche Kenntnisse bezüglich des GWB und Vergabeverfahren im europäischen Raum besitze der Antragsteller nicht. Auch nehme er an solchen europaweiten Ausschreibung nicht teil, wenngleich der streitgegenständliche Auftrag europaweit ausgeschrieben hätte werden müssen. Es sei auch zu beachten, dass selbst die Antragsgegnerin als Auftraggeberin davon ausgegangen sei, dass der Auftragswert unter € 207.000.- liege.
Die Antragsgegnerin habe gegen § 101 a GWB verstoßen, da der Antragsteller zu keinem Zeitpunkt eine Information erhalten habe, die den Anforderungen des § 101a Abs.1 GWB entsprochen habe. Der Vertrag zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen sei daher nach § 101b Abs. 1 Nr.1 GWB unwirksam.
Dem Antragsteller sei durch den Verstoß gemäß § 107 Abs.2 GWB ein Schaden entstanden, wobei es ohnehin ausreichend sei, dass durch diesen Verstoß eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation bzw. Chancen gegeben sein könne.
Der Antragsteller beantragt:
1. Der Beschluss der Regierung von Oberbayern – Vergabekammer Südbayern – vom 27.10.2015 zum Aktenzeichen Z3-3-3194-1-46-08/15 wird aufgehoben.
2. Der gegebenenfalls erteilte Zuschlag zur Durchführung der Schülerbeförderung in der Stadt L. ab dem Schuljahr 2015/16 an einen Mitbewerber wird für unwirksam erklärt.
3. Der Antragsgegnerin wird auferlegt, das Vergabeverfahren für die Durchführung der Schülerbeförderung ab dem Schuljahr 2015/16 neu durchzuführen.
Die Antragsgegnerin beantragt die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde und trägt zur Begründung vor:
Die Vergabekammer habe den Nachprüfungsantrag zu Recht als unzulässig zurückgewiesen.
Hinsichtlich des Schwellenwertes werde auf den Vortrag vor der Vergabekammer verwiesen.
Der gerügte Verstoß sei für den Antragsteller im Sinne des § 107 Abs.3 S.1 Nr.2 und 3 GWB erkennbar gewesen. Soweit der Antragsgegnerin bekannt, habe sich der Antragsteller bereits mehrfach an Ausschreibungen vergleichbarer Art beteiligt. Von ihm könne erwartet werden, dass er den Unterschied zwischen europaweiter Ausschreibung und nationaler Ausschreibung sowie das Abgrenzungskriterium Schwellenwert kenne. Der Antragsteller habe seit Jahrzehnten die streitgegenständliche Leistung für die Antragsgegnerin erbracht und sei daher von Anfang an in der Lage gewesen, aufgrund seines bisherigen jährlichen Aufwands den Auftragswert mit dem Schwellenwert zu vergleichen. Das Argument des Antragstellers, die Antragsgegnerin habe den Verstoß auch nicht erkannt, verfange nicht.
Der Antragsteller sei nicht antragsbefugt, da er nicht gelten machen könne, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Er sei am Verfahren beteiligt gewesen und habe von den beiden wertbaren Angeboten das zweitgünstigste abgegeben. Selbst wenn die Antragsgegnerin europaweit ausgeschrieben hätte, wäre der Antragsteller nicht zum Zug gekommen. Entsprechend sei ihm auch kein Schaden entstanden.
Der Senat hat mit Beschluss vom 7.3.2016 das Busunternehmen A. H. beigeladen. Das Unternehmen hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.
B. Die zulässige Beschwerde erwies sich als begründet.
I. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
1. Der Weg zu den Nachprüfungsinstanzen ist eröffnet, weil der Schwellenwert (§ 2 Abs.1 VgV i. V. m. VO EU Nr. 1336/2013) in Höhe von 207.000,00 € überschritten ist.
a) Der Vergabekammer ist zunächst zuzustimmen, dass seitens der Antragsgegnerin keine ordnungsgemäß dokumentierte qualifizierte Schätzung des Auftragswertes vorgelegt wurde. Abgesehen von den Zweifeln, ob die Kostenschätzung vor Aufforderungen zur Angebotsabgabe erfolgt ist, ist die Schätzung unvertretbar, da die Sonderfahrten (Ziffer 23 der Allgemeinen Vertragsbedingungen) nicht berücksichtigt worden sind. Des Weiteren ist ein konkreter Auftragswert auch nicht in den Aufstellungen benannt, sondern es befindet sich in den Vergabeakten lediglich eine Aufstellung der an den Antragsteller gezahlten Nettobeträge in dem Zeitraum von Januar 2013 – Mai 2015 wieder, etwaige Kostensteigerungen oder sonstige zu berücksichtigende Änderungen gegenüber den vorangegangenen Jahren enthält diese Aufstellung nicht.
b) Der Senat schließt sich der Schätzung der Vergabekammer an.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 VgV ist bei der Schätzung des Auftragswerts von der geschätzten Gesamtvergütung für die vorgesehene Leistung auszugehen. Ausschlaggebender Zeitpunkt für die Schätzung des Auftragswerts ist der Tag, an dem die Bekanntmachung der beabsichtigten Auftragsvergabe abgesendet oder das Vergabeverfahren auf andere Weise eingeleitet wird. Bei der Kostenschätzung kann auf die für die gleiche Leistung gezahlten Beträge der vorangegangenen Jahre zurückgegriffen werden, wobei jedoch stets zu prüfen ist, ob aufgrund der allgemeinen Kostensteigerung sich der Auftragswert erhöht.
Der Senat folgt der Auffassung der Vergabekammer, dass kein Grund besteht, die in Ziff. 23 der Allgemeinen Vertragsbedingungen beschriebenen Sonderfahrten nicht in die Kostenschätzung einzubeziehen. Die Sonderfahrten sind Teil des Vertrages, da dort geregelt wird, dass diese Sonderfahrten zum Angebotspreis abzurechnen sind. Auch wenn der Umfang der Sonderfahrten nicht feststeht, kann auf den Leistungsumfang der vorangegangenen Schuljahre zurückgegriffen werden und auf Grundlage der in diesem Zeitraum durchgeführten Sonderfahrten der Auftragswert dieser Position geschätzt werden.
Da der Antragsteller in beiden vorangegangenen Schuljahren (2013/2014 und 2014/2015) über 218.000,00 € mit dem Antragsteller abgerechnet hat, ist der Auftragswert auf über 207.000,00 € zu schätzen. Die Antragstellerin wäre daher verpflichtet gewesen, eine europaweite Ausschreibung vorzunehmen.
2. Der Antragsteller hat, insoweit er die Feststellung der Unwirksamkeit des zwischen der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen geschlossenen Vertrags begehrt, die Frist nach § 101 b Abs. 2 GWB gewahrt.
Gemäß § 101 b Abs. 2 GWB hat der Antragsteller die Unwirksamkeit des Vertrages innerhalb von 30 Kalendertagen ab Kenntnis des Verstoßes, jedoch nicht später als sechs Monate nach Vertragsschluss im Nachprüfungsverfahren geltend zu machen. Diese Frist beginnt frühestens mit Vertragsschluss zu laufen (OLG Düsseldorf Beschluss vom 03.08.2011 Verg 33/11). Der Vertrag wurde am 7.8.2015 durch die Antragsgegnerin gegengezeichnet, so dass die 30-Tagefrist durch die Einreichung des Nachprüfungsantrags am 12.8.2015 gewahrt wurde.
3. Der Antragsteller hat nicht gegen die ihm obliegenden Rügepflichten gemäß § 107 Abs. 1 GWB verstoßen.
Nach § 107 Abs.3 S.1 Nr.2 und Nr.3 GWB muss der Bieter Verstöße gegen Vergabevorschriften, die in der Bekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Angebotsabgabe rügen.
a) Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller, sofern er eine Rügepflicht bis zur Angebotsabgabe gehabt hätte, sich nicht auf eine Verletzung der Informationspflicht nach § 101a GWB berufen kann (vgl. OLG München Beschluss vom 31.1.2013 Verg 31/12).
b) Der Bekanntmachung bzw. den Vergabeunterlagen konnte entnommen werden, dass eine nationale Ausschreibung durchgeführt wird, jedoch nicht, von welchem Auftragswert die Antragsgegnerin ausgeht. Aus den Unterlagen ergibt sich lediglich, dass das Entgelt pro Beförderungskilometer anzubieten und pro Schultag von einer Gesamtfahrleistung von ca. 150 – 200 km auszugehen ist, wobei die jeweils notwendigen Fahrleistungen stark von Stundenplan abhängig sind.
c) Nach Bewertung des Senates war für ein Busunternehmen mit dem Zuschnitt des Unternehmens des Antragstellers weder aus der Bekanntmachung noch den Vergabeunterlagen erkennbar, dass unter Verletzung von vergaberechtlichen Vorschriften eine europaweiter Ausschreibung unterblieben ist.
(1) Es ist umstritten, nach welchen Maßstäben die Erkennbarkeit i. S. von § 107 Abs.1 GWB zu beurteilen ist. Grundsätzlich soll Maßstab für die Erkennbarkeit die Erkenntnismöglichkeit des betreffenden Unternehmens bei Anwendung üblicher Sorgfalt sein. Die Erkennbarkeit muss sich sowohl auf die den Verstoß begründenden Tatsachen als auch auf deren rechtliche Beurteilung beziehen. Fraglich ist aber, ob objektiv auf die Erkenntnismöglichkeit eines durchschnittlichen Unternehmens oder subjektiv auf das konkrete Unternehmen abgestellt werden soll.
Sinn der Rügepräklusion ist es, ein Taktieren des Bieters in der Form zu verhindern, dass mit der Rüge solange gewartet wird, bis klar ist, wer den Auftrag erhalten soll. Denn Sinn der Rügepflicht ist es in erster Linie, dem Auftraggeber im laufenden Verfahren eine Heilung des gerügten Mangels zu ermöglichen. Es spricht daher einiges für den subjektiven Maßstab (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.07.2010 – Aktenzeichen Verg 9/10).
(2) Auf die Unterscheidung kommt es vorliegend nicht an, da selbst bei Anwendung des sogenannten objektiven Maßstabs zu konkretisieren ist und bei der Frage, welche Sorgfalt insoweit von einem verständigen Bieter oder bewährter Bewerber erwartet werden muss, durchaus die betrieblichen Verhältnisse, d. h. insbesondere die Branche, der Zuschnitt des Unternehmens und die aus der Unternehmenstätigkeit resultierende Häufigkeit der Teilnahme am Vergabeverfahren einzubeziehen sind. Anderenfalls würden kleinere mittelständische Unternehmen, die über keine Rechtsabteilung verfügen und nach Unternehmensgegenstand und -zuschnitt selten an Ausschreibungen teilnehmen, benachteiligt werden.
(3) Von einem Geschäftsführer bzw. Inhaber kleinen Busunternehmen mit kleinem Fuhrpark und regionalem Tätigkeitsschwerpunkt können keine genauen Kenntnisse über die maßgeblichen Schwellenwerte und die Berechnung des Auftragswertes erwartet werden.
Es war dabei zu berücksichtigen, dass ausschreibungspflichtige Aufträge der öffentlichen Hand hinsichtlich der Erbringung von Beförderungsleistungen mittels Bussen eher eine Ausnahme, denn die Regel darstellen und kleinere Busunternehmen nicht tagtäglich mit Ausschreibungen konfrontiert werden. Es kann daher nach Auffassung des Senates nicht erwartet werden, dass ein Inhaber oder ein Geschäftsführer kleinerer Busunternehmen über genaue Kenntnisse des aktuellen Schwellenwertes verfügt und darüber hinaus über Kenntnisse, wie genau die maßgeblichen Auftragswerte zu berechnen sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn hinsichtlich des Auftragswertes eine Prognose zu treffen ist und der Schwellenwert nur knapp überschritten wird. Vorliegend kann der zu erbringende Leistungsumfang nicht festgelegt werden, da die Fahrten und Tageskilometerleistungen von der Anzahl der Schüler, den Wohnorten der Schüler und dem Stundenplan abhängig sind. Wie diese Unabwägbarkeiten bei der Festsetzung des Auftragswertes zu berücksichtigen sind, erfordert genauere Kenntnisse des Vergaberechts, über die ein Inhaber oder ein Geschäftsführer eines kleineren Busunternehmens in der Regel nicht verfügt und die auch von ihm nicht verlangt werden können.
4. Der Antragsteller hat hinreichend dargelegt, dass ihm durch den behaupteten Vergaberechtsverstoß ein Schaden entstanden ist oder droht (§ 107 Abs.2 GWB).
Der Bundesgerichtshof hat in dem Beschluss vom 10.11.2009, Aktenzeichen X ZB 8/09 (NZBau 2010,124) folgendes ausgeführt:
Einem Bieter, der sich an dem beanstandeten Vergabeverfahren durch die Abgabe eines Gebots beteiligt hat, droht regelmäßig auch dann im Sinne von § 107 Abs. 2 Satz 2 GWB ein Schaden durch eine Verletzung von Vergabevorschriften, wenn das eingeleitete Vergabeverfahren aufgrund der Wahl der falschen Verfahrensart nicht durch Zuschlag beendet werden darf und zur Bedarfsdeckung eine Neuausschreibung in Betracht kommt.
Nach der Rechtsprechung des Senats ist ein drohender Schaden im Sinne von § 107 Abs. 2 Satz 2 GWB bereits dargetan, wenn der Vortrag des Antragstellers ergibt, dass er im Fall eines ordnungsgemäßen (neuerlichen) Vergabeverfahrens bessere Chancen auf den Zuschlag haben könnte als in dem beanstandeten Verfahren (BGHZ 169, 131, 141). Ein Schaden droht bereits dann, wenn die Aussichten dieses Bieters auf die Erteilung des Auftrags zumindest verschlechtert worden sein können (vgl. BVerfG NZBau 2004, 564, 565). Das ist nicht nur der Fall, wenn dies für den Zuschlag in dem eingeleiteten und zur Nachprüfung gestellten Vergabeverfahren zutrifft. Denn es ist die tatsächliche Erteilung des Auftrags, welche die Vermögenslage von Bietern beeinflusst, nicht der Umstand, in welchem Vergabeverfahren sie erfolgt. § 107 Abs. 2 GWB lässt auch nicht erkennen, dass für die Antragsbefugnis allein auf die Möglichkeit abzustellen sein könnte, den ausgeschriebenen Auftrag gerade in dem eingeleiteten und zur Nachprüfung gestellten Vergabeverfahren zu erhalten. Nach seinem Wortlaut muss vielmehr ganz allgemein ein (drohender) Schaden dargelegt werden, für den die behauptete Verletzung von Vergabevorschriften kausal ist. Es genügt deshalb, wenn es nach dem Vorbringen des das Nachprüfungsverfahren betreibenden Bieters möglich erscheint, dass er ohne den behaupteten Vergaberechtsverstoß den Bedarf, dessentwegen die Ausschreibung erfolgt ist, gegen Entgelt befriedigen kann. Das ist regelmäßig auch der Fall, wenn das eingeleitete Vergabeverfahren nicht ohne weiteres durch Zuschlag beendet werden darf, und zur Bedarfsdeckung eine Neuausschreibung in Betracht kommt. Dass im Voraus nicht abzusehen ist, ob die darin liegende Chance eine realistische Aussicht darstellt, den Auftrag zu erhalten, und sich eine solche Chance keinesfalls zwangsläufig für den betreffenden Bieter auftun muss, ist angesichts der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unerheblich. Denn hiernach reicht schon die Möglichkeit einer Verschlechterung der Aussichten des den Nachprüfungsantrag stellenden Bieters infolge der Nichtbeachtung von Vergabevorschriften.
Der Entscheidung des Bundesgerichtshofs lag zugrunde, dass statt einem offenen ein Verhandlungsverfahren durchgeführt wurde. Daher bedurfte die Frage, unter welchen Voraussetzungen für die Konstellation, dass eine nationale statt einer europaweiten Ausschreibung erfolgte, eine Rechtsverletzung im Sinne von § 107 Abs.2 GWB als dargelegt gilt, keiner Entscheidung.
Die wesentlichen Grundsätze der Entscheidung des Bundesgerichtshofs sind nach Auffassung des Senats auf die vorliegende Fallgestaltung übertragbar. Es kann daher nicht von vorneherein ein drohender Schaden mit der Begründung verneint werden, dass der Bieter in dem nationalen Verfahren unterlegen sei, sondern der Bieter kann sich darauf berufen, bei einer europaweiten Ausschreibung bessere Chancen auf einen Zuschlag gehabt zu habe.
Ein nach den Vorschriften des vierten Teils des GWB bzw. der VOL/A durchgeführtes Verfahrens erweitert nicht nur den Kreis der möglichen Bieter, sondern unterscheidet sich hinsichtlich der einzelnen Verfahrensschritte und der Bindung an formelle Vorgaben grundsätzlich von dem hier gewählten Vorgehen. Insbesondere wäre dann die Beschränkung auf einen Kreis von acht Unternehmen und der Ausschluss der Anwendung der VOL/A unzulässig gewesen. Wie in dem von dem Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hätte das Verfahren nicht mit Zuschlagserteilung abgeschlossen werden dürfen.
Es handelt sich nicht um eine abstrakt zu beantwortende Rechtsfrage, sondern darum, ob hinreichend dargelegt ist, dass im Einzelfall ein Schaden nicht auszuschließen ist, wobei alleine der Verweis, dass das Verfahren neu ausgeschrieben hätte werden müssen, für sich alleine noch nicht ausreicht, um eine Rechtsverletzung im Sinne von § 107 Abs. 2 GWB zu bejahen.
Dem Beschluss des Oberlandesgericht Koblenz (OLG Koblenz, Beschluss vom 4.2.2009 1 Verg 4/08) kann lediglich die Auffassung entnommen werden, dass ein Verstoß gegen die Pflicht zur EU-weiten Ausschreibung nicht ohne weiteres auf eine (potentiell) schadenskausale Weise die Rechte eines Bieters verletzt, der in dem national ausgeschrieben Verfahren ein Angebot abgegeben hat. Das OLG Rostock (Beschluss vom 6.11.2015 17 Verg 2/15) hat unter Berufung auf den obigen Beschluss des Bundesgerichtshofs entschieden, dass ein drohender Schaden bereits dann dargetan ist, wenn der Antragsteller im Falle eines ordnungsgemäßen (neuerlichen) Vergabeverfahrens bessere Chancen auf den Zuschlag haben könnte. Das OLG Rostock hat eine bessere Chance des Bieters angenommen, weil der Bieter ein billigeres Angebot und die konkurrierenden Bieter teurere Angebot einreichen hätte können. Der Senat hat einzelfallbezogen entschieden, dass eine Rechtsverletzung dann nicht dargetan ist, wenn das Angebot des Antragstellers wegen Abweichung vom Leistungsverzeichnis zu Recht aus dem Verfahren ausgeschlossen worden ist (OLG München Beschluss vom 31.1.2013 Verg 31/12).
Es ist daher entscheidend, ob der Antragsteller hinreichend dargelegt hat, dass er in einem neu durchzuführenden Vergabeverfahren mit einer europaweiten Ausschreibung eine bessere Chance auf den Zuschlag hätte.
Die Darlegungen des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat reichen aus, um von einen drohenden Schaden i. S.v. § 107 Abs.2 ZPO auszugehen, d. h., dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Vergaberechtsverstoß (nationale statt europaweiter Ausschreibung) sich kausal zu seinen Lasten ausgewirkt hat.
Der Antragsteller hat nachvollziehbar dargelegt, dass er im Falle einer europaweiten Ausschreibung anders kalkuliert hätte und wohl die Preise nicht gegenüber der vorangegangenen Auftrag erhöht hätte. Dies ist plausibel. Bei einer europaweiten Ausschreibung ist der Bieterkreis schwerer einzuschätzen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Stadt L. im Grenzgebiet zu Österreich liegt ist und es durchaus möglich ist, dass sich auch ausländische Busunternehmen an einer europaweiten Ausschreibung beteiligen.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich bei einer europaweiten Ausschreibung die Chancen des Antragstellers auf den Zuschlag aufgrund einer abgeänderten Kalkulation verbessern würden.
II. Der Antrag auf Feststellung, dass der Vertrag von Anfang an unwirksam war, ist begründet, da die Antragsgegnerin gegen ihre Informationspflicht nach § 101 a GWB verstoßen hat und ein über die Informationspflicht nach § 101 Art GWB hinausgehender Vergaberechtsverstoß sich zulasten des Antragstellers ausgewirkt hat und nicht auszuschließen ist, dass er in seinen Rechten verletzt wurde.
1. Die Antragsgegnerin ist der ihr nach § 101a GWB obliegenden Informationspflicht nicht nachgekommen. Nach dieser Vorschrift hat der Auftraggeber die betroffenen Bieter, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, den Namen des Unternehmens, dessen Angebot angenommen werden soll, mitzuteilen sowie über die Gründe der vorgesehenen Nichtberücksichtigung ihres Angebots und über den frühesten Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unverzüglich in Textform zu informieren.
Die telefonische Mitteilung, dass der Antragsteller nicht berücksichtigt wird, genügt bereits nicht dem Formerfordernis des § 101 GWB und enthält keine Angaben über den Bieter, der den Zuschlag erhalten soll sowie über den frühesten Zeitpunkt des Vertragsschlusses.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller das Schreiben der Antragsgegnerin vom 10.7.2015 erhalten hat, da wiederum der Name des erfolgreichen Bieters und die Angabe, zu welchem Zeitpunkt frühestens ein Vertragsabschluss erfolgt, nicht aufgeführt werden.
2. Da, wie oben, ausgeführt eine europaweite Ausschreibung hätte erfolgen müssen, liegt auch ein über den Verstoß gegen die Informationspflichten hinausgehender Vergaberechtsverstoß vor.
3. Insoweit für die Begründetheit verlangt wird, dass sich der Verstoß zulasten des Bieters ausgewirkt hat und der Bieter in seinen Rechten verletzt wird oder dies zumindest nicht auszuschließen ist, kann auf die obigen Ausführungen unter I. 4 verwiesen werden.
III. Der Nachprüfungsantrag erwies sich auch insoweit als begründet, als bei fortbestehender Beschaffungsabsicht eine europaweite Ausschreibung zu erfolgen hat (Vgl. OLG Rostock Beschluss vom 6.11.2015 – 17 Verg 2/15).
C. Die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer und des Beschwerdeverfahrens einschließlich des Verfahrens nach § 118 GWB einschließlich der notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin trägt der Antragsgegner. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für das Verfahren vor der Vergabekammer wird für die Antragstellerin für notwendig erachtet.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 120 Abs. 2, 78 GWB, § 91 ZPO, § 128 Abs. 4 GWB. Der Streitwert wurde nach § 50 Abs. 2 GKG mit 5% der geschätzten -Auftragssumme festgesetzt.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben