Baurecht

Veränderungssperre zur Beschränkung der Zulässigkeit von Anlagen für soziale Zwecke (u.a. Asylbewerbereinrichtungen)

Aktenzeichen  15 N 15.1583

Datum:
15.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 1 Abs. 3, § 14 Abs. 1
BauNVO BauNVO § 1 Abs. 4 bis 9, § 5 Abs. 2 Nr. 7

 

Leitsatz

Eine städtebauliche Rechtfertigung für einzelne Festsetzungen oder die gesamte Planung fehlt insbesondere, wenn die Planung nur wegen der mit der Regelung verbundenen negativen (ausschließenden) Wirkung erfolgt. Ein gewisses Indiz dafür, dass die Planung in erster Linie der Verhinderung eines Bauvorhabens dient, kann schon darin gesehen werden, dass im Aufstellungsverfahren außer dem Aufstellungsbeschluss bisher nichts geschehen ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die am 27. März 2015 bekannt gemachte Satzung über die Veränderungssperre für das Gebiet „O.-…“ ist unwirksam.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kostenschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, wenn nicht die Kostengläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Über den zulässigen Normenkontrollantrag konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Der Antrag ist begründet.
Die am 27. März 2015 bekannt gemachte Veränderungssperre für das Gebiet „O.-…“ ist für unwirksam zu erklären (§ 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 VwGO), weil der zu sichernden Planung nicht ausräumbare Mängel entgegenstehen (§ 14 Abs. 1 BauGB, § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB).
Nach § 14 Abs. 1 BauGB kann die Gemeinde zur Sicherung der Planung für den künftigen Planbereich eine Veränderungssperre beschließen, wenn ein Beschluss über die Aufstellung eines Bebauungsplans (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB) gefasst ist. Die Bauleitplanung muss im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Veränderungssperre, das ist regelmäßig die ortsübliche Bekanntmachung der Satzung (vgl. § 16 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 i. V. m. § 10 Abs. 3 Satz 4 BauGB), so weit konkretisiert sein, dass die Erforderlichkeit der Veränderungssperre als Sicherungsmittel nachvollzogen werden kann. Hierfür muss ein Mindestmaß des Inhalts des Bebauungsplans abzusehen sein. Der Planung dürfen keine schon in diesem frühen Stadium erkennbaren, nicht ausräumbaren Mängel entgegenstehen (zum Ganzen König, Baurecht Bayern, 5. Auflage 2015, Rn. 333 m. w. N.).
Nach Lage der Dinge fehlt der zu sichernden Planung die Erforderlichkeit nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB. Die danach nötige städtebauliche Rechtfertigung für einzelne Festsetzungen oder die gesamte Planung fehlt insbesondere, wenn die Planung nur wegen der mit der Regelung verbundenen negativen (ausschließenden) Wirkung erfolgt, wenn die Regelung von vorneherein funktionslos ist oder zur Erreichung des mit ihr verfolgten Zwecks ungeeignet ist, oder wenn die Planung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen überhaupt nicht oder nicht innerhalb des Zeitraums verwirklicht werden kann oder soll, für den Bauleitpläne aufgestellt werden (König a. a. O. Rn. 51 ff.).
Hier liegen mehrere für die mangelnde städtebauliche Rechtfertigung der Bauleitplanung für das Gebiet „O.-…“ sprechende Gesichtspunkte vor.
Ein gewisses Indiz dafür, dass die Planung in erster Linie der Verhinderung eines Bauvorhabens der Antragstellerin dient, kann schon darin gesehen werden, dass im Aufstellungsverfahren außer dem Aufstellungsbeschluss vom 27. Mai 2014 bisher nichts geschehen ist. Der Ende August 2015 übermittelte Verfahrensordner „Bebauungsplan Nr. 46“ enthält lediglich die besagte Entscheidung der Antragsgegnerin samt deren Bekanntmachung, Vortrag zu zwischenzeitlich unternommenen Verfahrensschritten ist im gerichtlichen Verfahren auch sonst nicht erfolgt.
Das dem Aufstellungsbeschluss zugrunde gelegte städtebauliche Konzept für das Ortszentrum – die Erhaltung und Förderung der „kleinteiligen dörflichen Struktur“ – ist, was die Landesanwaltschaft Bayern in ihrer Stellungnahme bereits eingehend erläutert hat, mit den gegenwärtigen Verhältnissen vor Ort nicht vereinbar und auch als Ziel in einer überschaubaren Zukunft nicht realisierbar. Lageplan und Luftbild zeigen im Kernbereich des Plangebiets beiderseits des Kirchplatzes außer dem mit zwei großen Gebäuden bebauten Grundstück der Antragstellerin, der Kirche und dem Pfarrhaus im Wesentlichen die Gebäude von drei landwirtschaftliche Hofstellen mit mehreren entsprechend großen Zweckbauten sowie ein größeres unbebautes Grundstück unmittelbar östlich des Grundstücks der Antragstellerin. „Kleinteilige“ (Wohn)Bebauung ist nur in den im Westen und Osten an das Plangebiet anschließenden Bereichen in größerem Umfang anzutreffen.
Eine gewisse „kleinteilige Struktur“ wäre eventuell durch entsprechende Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstückflächen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB i. V. m. § 23 BauNVO) und zum Maß der Nutzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i. V. m. §§ 16 ff. BauNVO) zu erreichen. Nach dem von der Gemeinde laut der Beschlusslage verfolgten Konzept soll die Festsetzung des Maßes der baulichen Nutzung jedoch „überwiegend bestandsorientiert unter Berücksichtigung bestehenden Baurechts nach § 34 BauGB erfolgen“. Angesichts dieser Vorgabe bliebe für die Festsetzung kleinteiliger Bebauung praktisch nur die in das Plangebiet einbezogene nördliche Teilfläche des bisher unbebauten Grundstücks FlNr. …, d. h. – geschätzt – eines Fünftels des Plangebiets.
Die Gemeinde beabsichtigt, die Höchstzahl von 20 Unterbringungsplätzen für die ausnahmsweise Zulassung sozialer Einrichtungen, auch Asylbewerbereinrichtungen, auf der Grundlage von § 1 Abs. 4 bis 9 BauNVO als „exakten Ausnahmetatbestand zu formulieren“. Diese Vorgehensweise ist nicht von den in § 1 Abs. 9 BauNVO enthaltenen Möglichkeiten der Feinsteuerung der Art der baulichen Nutzung gedeckt. § 1 Abs. 9 BauNVO erlaubt es der Gemeinde unter anderem, bestimmte Unterarten ausnahmsweise zulässiger Nutzungen auszuschließen. Die Planungsfreiheit ist allerdings dadurch begrenzt, dass sich die Differenzierung auf bestimmte Anlagentypen beziehen muss, die es in der sozialen und ökonomischen Realität bereits gibt (BayVGH, U. v. 30.10.2014 – 1 N 13.2273 – juris Rn. 21 unter Hinweis auf BVerwG, B. v. 5.6.2014 – 4 BN 8/14 – ZfBR 2014, 574 = juris Rn. 10 m. w. N.). Hier fehlt es insoweit an der Beschreibung einer bestimmten Art von baulichen Anlagen; bei sozialen Anlagen wird hinsichtlich der Art der Nutzung grundsätzlich nicht danach unterschieden, ob beispielweise 10, 20 oder mehr Personen darin untergebracht oder betreut werden (können).
Da der Veränderungssperre keine Planung zugrunde liegt, die mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB in Einklang steht, ist sie unwirksam.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, weil sie unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m §§ 708 ff. ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft ebenso veröffentlichen wie die Veränderungssperre (§ 16 Abs. 2 BauGB).
Rechtsmittelbelehrung:
Nach § 133 VwGO kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig angefochten werden. Die Beschwerde ist beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (in München Hausanschrift: Ludwigstraße 23, 80539 München; Postfachanschrift: Postfach 34 01 48, 80098 München; in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach) innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung einzulegen und innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieser Entscheidung zu begründen. Die Beschwerde muss die angefochtene Entscheidung bezeichnen. In der Beschwerdebegründung muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, von der die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten, außer in Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und Rechtslehrern an den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Hochschulen mit Befähigung zum Richteramt nur die in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen. Für die in § 67 Abs. 4 Satz 5 VwGO genannten Angelegenheiten (u. a. Verfahren mit Bezügen zu Dienst- und Arbeitsverhältnissen) sind auch die dort bezeichneten Organisationen und juristischen Personen als Bevollmächtigte zugelassen. Sie müssen in Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Personen mit der Befähigung zum Richteramt handeln.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 10.000 € festgesetzt.
Gründe:
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 8 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.8.1 und 9.8.4 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ-Beilage 2013, 57).


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