Baurecht

Verwaltungsgemeinschaft, Passivlegitimation, Isolierte Befreiung, Sichtschutzzaun, Nachbarklage, Drittschützende Festsetzung, Gebot der Rücksichtnahme, Erdrückende Wirkung

Aktenzeichen  AN 3 K 20.01152

Datum:
2.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40602
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 78
BayBO Art. 63 Abs. 3
BauGB § 31 Abs. 2
StVO § 10

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klage richtet sich zwar gegen den richtigen Beklagten (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), jedoch ist die Klägerin durch die streitgegenständliche isolierte Befreiung nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I. Die Beklagte ist gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO passivlegitimiert.
Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist die Klage gegen den Bund, das Land oder die Körperschaft, deren Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat, zu richten. Zur Bezeichnung des Beklagten genügt die Angabe der Behörde. Bei einer Verwaltungsgemeinschaft bestimmt sich die Passivlegitimation danach, ob diese lediglich als ausführende Behörde der Mitgliedsgemeinde tätig wird (Art. 4 Abs. 2 VGemO) oder ob sie als selbstständige Körperschaft eine eigene Aufgabe erfüllt (Art. 4 Abs. 1 VGemO). Dies richtet sich danach, ob es sich für die Mitgliedsgemeinde um eine Aufgabe des eigenen oder des übertragenen Wirkungskreises handelt. Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 VGemO gibt es Ausnahmen von diesem Grundsatz.
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Beklagte passivlegitimiert und nicht die Verwaltungsgemeinschaft. Die Klage wurde demnach auch richtigerweise gegen die Mitgliedsgemeinde gerichtet. Es kann dabei dahinstehen, ob es sich bei der Aufgabe aus Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO um eine solche des übertragenen oder des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde handelt (für übertragenen Wirkungskreis vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, Stand Juli 2021, BayBO Art. 54 Rn. 18; für eigenen Wirkungskreis vgl. VG München, U.v. 25.7.2019 – M 11 K 17.2522 – juris Rn. 33). Denn es wurde durch den Gesetzgeber, welcher von einer Aufgabe des übertragenen Wirkungskreises ausging, gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 3 VGemO i.V.m. § 1 Ziffer 1 der Verordnung über Aufgaben der Mitgliedsgemeinden von Verwaltungsgemeinschaften vom 30. April 1995 (GVBl. S. 259, BayRS 2020-2-1-1-I) festgelegt, dass die Aufgabe des Art. 63 Abs. 3 BayBO bei den Mitgliedsgemeinden verbleibt. Danach kommt es nicht darauf an, ob es sich um eine Aufgabe des eigenen oder des übertragenen Wirkungskreises handelt, da in beiden Fällen die Aufgabe der Mitgliedsgemeinde obliegt und diese folglich im gerichtlichen Verfahren passivlegitimiert ist. Hiernach ist auch der streitgegenständliche Bescheid nicht zu beanstanden, da sich aus diesem ergibt, dass die Verwaltungsgemeinschaft für die Beklagte tätig wurde. Die angefügte Rechtsbehelfsbelehrungverweist ordnungsgemäß auf die Mitgliedsgemeinde als richtige Beklagte.
II. Die Klägerin wird durch die streitgegenständliche isolierte Befreiung nicht in ihren nachbarschützenden Rechten verletzt.
Die Klägerin als Dritte kann sich mit einer Anfechtungsklage nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen eine erteilte Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig ist sowie die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie, vgl. u.a. BayVGH, B.v. 30.7.2021 – 1 CS 21.1506 – juris Rn. 9 m.w.N.). Ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung des Nachbarrechtsschutzes kommt dabei grundsätzlich nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nachbarliche Abwehrrechte verfassungskonform ausgestaltet hat und unter Einschluss der Grundsätze des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitstellt (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.2021 – 15 CS 21.1081 – juris Rn. 23 m.w.N.).
Vorliegend besteht keine Verletzung solcher drittschützender Rechte der Klägerin.
1. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB sind nicht Prüfungsgegenstand, da vorliegend die Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung angefochten wird. Auch lässt sich kein Drittschutz aus einer „Schicksalsgemeinschaft“ der Planbetroffenen herleiten.
a) Es liegt eine nicht nachbarschützende Festsetzung vor.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, einer der in Nrn. 1 bis 3 genannten Tatbestände erfüllt ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn hängt dabei davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Bei einer Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, das aufgrund der gemäß § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet (BayVGH, B.v. 8.11.2021 – 15 CS 21.2447 – juris Rn. 19 m.w.N.). Während Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung grundsätzlich generell und unabhängig davon, ob der Nachbar durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird, schon kraft bundesrechtlicher Vorgabe als drittschützend angesehen werden (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – ZfBR 2013, 783 = juris Rn. 3 m.w.N.), folgt aus Art. 14 GG kein Gebot, sonstige Festsetzungen drittschutzfreundlich auszulegen. Ob der Plangeber z.B. eine Festsetzung über das Maß der baulichen Nutzung oder zur überbaubaren Grundstücksfläche auch zum Schutze des Nachbarn trifft oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet, darf er regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 = juris Rn. 11; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363 = juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 7.10.2019 – 1 CS 19.1499 – juris Rn. 17; B.v. 5.8.2019 – 9 ZB 16.1276 – juris Rn. 5 m.w.N.). Ausschlaggebend für die Frage des Nachbarschutzes ist mithin, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst (etwa kraft ausdrücklicher Regelung von Drittschutz), aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben kann (zusammenfassend BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – NVwZ-RR 2020, 961 = juris Rn. 21 ff. m.w.N.).
Diese Grundsätze gelten entsprechend bei Abweichungen von örtlichen Bauvorschriften, die gem. Art. 81 Abs. 2 BayBO, § 9 Abs. 4 BauGB auch in einem Bebauungsplan geregelt werden können, wobei auch hier § 31 Abs. 2 BauGB entsprechend gilt (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2012 – 15 B 11.801 – juris Rn. 18 ff.), wobei ggf. ergänzend Art. 63 BayBO heranzuziehen ist (BayVGH, U.v. 14.2.2012 a.a.O. – juris Rn. 23 f.; OVG RhPf, B.v. 22.11.2019 – 8 A 11277/19 – juris Rn. 23; VG Freiburg, B.v. 9.1.2019 – 5 K 6358/18 – juris Rn. 7; VG Neustadt / Weinstr., U.v. 10.5.2017 – 3 K 812/16.NW – juris Rn. 50). Örtliche Bauvorschriften nach Art. 81 Abs. 1 BayBO dienen grundsätzlich nur dem öffentlichen Interesse – insbesondere der Durchsetzung gestalterischer Ziele der Gemeinde – und räumen dem Nachbarn grundsätzlich keine subjektiv-öffentlichen Abwehrrechte ein. Nachbarschutz vermag eine örtliche Bauvorschrift nur ausnahmsweise zu vermitteln, wenn die Gemeinde der Festsetzung erkennbar eine entsprechende Wirkung geben wollte (vgl. VGH BW, B.v. 1.8.2018 – 5 S 272/18 – BauR 2018, 1997 = juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 16.3.2021 – 15 CS 21.545 – juris Rn. 57).
Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei der streitgegenständlichen Festsetzung um eine solche, die keinen Nachbarschutz vermittelt.
Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, wie vorliegend über die zulässige Höhe von Einfriedungen im Bebauungsplan Nr. … der Beklagten, haben nicht schon kraft Gesetzes eine nachbarschützende Funktion. Der für den Nachbarschutz erforderliche Planungswille der Gemeinde lässt sich der streitgegenständlichen Festsetzung jedoch nicht entnehmen. Ein solcher Wille ergibt sich anhand einer Auslegung weder aus der Festsetzung selbst noch aus dem Bebauungsplan noch aus den zugehörigen Materialien. Vielmehr ergibt sich in einer Gesamtschau, dass die streitgegenständliche Festsetzung ausschließlich städtebauliche Gründe hat und der Gestaltung des Ortsbilds dient. Dafür spricht zum einen der Festsetzungszusammenhang und zum anderen der Satzungstext des Bebauungsplans.
Die streitgegenständliche Festsetzung befindet sich im Bebauungsplan unter der Überschrift „Weitere Festsetzungen“. In diesem Abschnitt wurden vom Plangeber weit überwiegend Festsetzungen zum Maß der Bebauung und zur Gestaltung des Ortsbilds getroffen. So wurden unter anderem die Dachformen und -neigungen und die Fertigfußbodenoberkante geregelt sowie die offene Bauweise festgesetzt. Außerdem wurde bestimmt, welche Bäume zu pflanzen und welche zu erhalten sind. Hieraus ergibt sich, dass auch die Festsetzung über die Höhe der Einfriedungen nur im Sinne der Gestaltung des Ortsbildes verstanden werden kann. Hieran ändert auch nichts, dass sich die Festsetzung sowohl auf die straßenseitigen Einfriedungen als auch auf diejenigen zwischen den Grundstücken bezieht, da auch die zweitgenannten Einfriedungen das Ortsbild bestimmen und prägen.
Der Satzungstext zum Bebauungsplan spricht ebenfalls gegen die Annahme einer drittschützenden Festsetzung. Unter § 9 der Satzung zum Thema der Einfriedungen finden sich vor allem in den Absätzen 3 und 4 Regelungen über die konkrete Ausgestaltung der Einfriedungen und welche Materialien verwendet werden sollen. Es wird dadurch deutlich, dass es dem Plangeber um die Gestaltung des Plangebiets ging. Es ist dem Satzungstext dagegen nicht zu entnehmen, dass durch die Höhe der Einfriedung ein Nachbarschutz vermittelt werden sollte. Hinsichtlich der Tatsache, dass sich der Satzungstext bezüglich der Höhe der Einfriedung in Widerspruch zu den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans setzt, ist von einer offenbaren Unrichtigkeit auszugehen, aus welcher sich jedenfalls kein Drittschutz ableiten lässt.
Der Begründung des Bebauungsplans ist keinerlei Drittschutz zu entnehmen.
Nach alldem ist die streitgegenständliche Festsetzung keine nachbarschützende Festsetzung (vgl. zu ähnlichen Fällen BayVGH, B.v. 16.3.2021 – 15 CS 21.545 – juris; U.v. 7.8.2009 – 15 B 09.1239 – juris; U.v. 22.11.2000 – 26 B 95.3868 – juris; B.v. 22.11.1999 – 15 ZB 99.2187 – juris; VG Ansbach, U.v. 6.5.2021 – AN 17 K 20.00444 – juris; U.v. 12.5.2009 – AN 9 K 08.01321 – juris; U.v. 14.9.2005 – AN 9 K 05.01350 – juris).
b) Das Argument des Bevollmächtigten der Klägerin, die Planbetroffenen des Bebauungsplangebietes Nr. … „…“ seien nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum sogenannten Gebietserhaltungsanspruchs durch die Lage ihrer Anwesen im selben Baugebiet zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden, aus dem bauplanungsrechtlicher Nachbarschutz abgeleitet werden könne, trifft für den zu entscheidenden Fall nicht zu. Denn nach der Rechtsprechung besteht eine aus dem durch den Bebauungsplan begründeten Gemeinschaftsverhältnis der Planbetroffenen kraft Gesetzes abgeleitete nachbarschützende Wirkung lediglich für die Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 2 BauNVO. Ein darüber hinaus gehender Nachbarschutz im vorgetragenen Sinne, der den Nachbarn ein Vorgehen gegen jede Abweichung eines Bauherrn im Plangebiet ermöglicht, ist vom Gesetz nicht vorgesehen (BayVGH, B.v. 21.11.2008 – 15 CS 08.2683 – juris Rn. 9).
2. Das folglich nur noch zu prüfende Gebot der Rücksichtnahme aus § 31 Abs. 2 BauGB ist durch die erteilte isolierte Befreiung nicht verletzt. Der von den Beigeladenen errichtete Sichtschutzzaun ist gegenüber der Klägerin nicht rücksichtslos. Insbesondere entsteht hierdurch weder eine Gefährdungssituation bei der Ausfahrt aus dem klägerischen Grundstück noch kommt dem Zaun eine erdrückende oder abriegelnde Wirkung zu.
Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (zum Ganzen vgl. BayVGH, B.v. 4.12.2019 – 15 CS 19.2048 – juris Rn. 23 m.w.N.; B.v. 9.6.2020 – 15 CS 20.901 – juris Rn. 27).
a) Hinsichtlich der vorgetragenen versperrten Einsichtsmöglichkeit in die Straße „…“ bei der Ausfahrt aus dem klägerischen Grundstück durch den errichteten Zaun sowie der damit korrespondierenden Gefährdungen für die Klägerin und die Verkehrsteilnehmer ist die Kammer bereits davon überzeugt, dass die Klägerin bei der Ausfahrt aus ihrem Grundstück nicht in ihrer Sicht eingeschränkt ist. Überdies wäre selbst bei einer Annahme einer verschlechterten Einsehbarkeit der Straße nicht von einer Rücksichtslosigkeit auszugehen.
Es ist diesbezüglich schon fraglich, ob sich die Klägerin auf diesen Einwand berufen kann (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.1998 – 19 B 96.1858 – juris Rn. 41). Jedenfalls könnte allein der in Betracht zu ziehende, durch Art. 14 Abs. 1 GG eigentumsrechtlich geschützte Kern des Anliegergebrauchs verletzt sein. Dieser reicht grundsätzlich nur so weit, wie die angemessene Nutzung des Grundeigentums eine Benutzung der Straße erfordert. Gewährleistet sind danach vor allem der Zugang zur Straße und die Zugänglichkeit des Grundstücks von der Straße her. Hierzu zählt unter heutigen Verhältnissen des Straßenverkehrs die ausreichende Möglichkeit, das Grundstück mit Kraftfahrzeugen zu erreichen. Insoweit garantiert Art. 14 Abs. 1 GG aber nur eine genügende Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz. Diese Gewährleistung der Zugänglichkeit umfasst keine Bestandsgarantie hinsichtlich der Ausgestaltung und des Umfangs der Grundstücksverbindung mit der Straße. Erst recht vermittelt sie keinen Anspruch auf die Beibehaltung vorteilhafter Verkehrsverbindungen sowie der Bequemlichkeit oder Leichtigkeit der Zu- und Abfahrt (OVG NRW, B.v. 28.2.2001 – 21 B 1889/00 – juris Rn. 14).
Dabei ist auch zu beachten, dass, wer aus einem Grundstück auf eine Straße einfahren will, sich nach § 10 StVO dabei so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen. Der Einfahrende muss ohnehin durch besonders vorsichtige Fahrweise Rücksicht auf den fließenden Verkehr nehmen, weil er davon ausgehen muss, dass der fließende Verkehr sich im Allgemeinen darauf verlässt, dass ein aus einem Grundstück Ausfahrender besonders vorsichtig ist. In diesem Zusammenhang kann eine verkehrswidrige bzw. unangepasste Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer nicht den beigeladenen Bauherren angelastet werden; ihr ist mit sicherheitsbehördlichen oder polizeilichen Maßnahmen zu begegnen (BayVGH, B.v. 17.6.2010 – 15 CS 10.1077 – juris Rn. 7 ff.).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist keine Rücksichtslosigkeit gegenüber der Klägerin erkennbar.
Ausgehend von den durch den Beklagtenvertreter übermittelten Lichtbildern und den Satellitenbildern der örtlichen Straßenverhältnisse ist die Kammer davon überzeugt, dass ein gefahrloses Befahren der Straße vom klägerischen Grundstück aus möglich und die Einsehbarkeit nicht relevant eingeschränkt ist. Das Tor zur Zufahrt zum klägerischen Grundstück ist aufgrund des Straßenverlaufs an dieser Stelle circa 2 m nach hinten versetzt. Bei der Ausfahrt aus dem Grundstück kann dadurch erst der durch die rückwärtige Versetzung entstehende Bereich befahren werden, bevor das Fahrzeug in die Straße hineinreicht. Hierdurch ist es der Klägerin möglich, sich mit ihrem Fahrzeug aus der Einfahrt zu „tasten“ und die Straße einzusehen. Aufgrund der Einmündung der … straße auf Höhe des klägerischen Grundstücks ist darüber hinaus davon auszugehen, dass sich der aus Norden kommende Verkehr grundsätzlich am rechten Fahrbahnrand orientieren wird und damit auf der aus klägerischer Sicht gegenüberliegenden Straßenseite fährt. Der aus Westen und Süden kommende Verkehr ist für die Klägerin ohnehin unproblematisch einsehbar.
Selbst wenn man eine eingeschränkte Einsehbarkeit aufgrund des Sichtschutzzauns annehmen würde, wäre das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt. Wie oben geschildert, ist es ausreichend, dass das Grundstück von der Straße aus zugänglich ist. Es besteht kein Anspruch auf die Beibehaltung vorteilhafter Verkehrsverbindungen sowie der Bequemlichkeit oder Leichtigkeit der Zu- und Abfahrt. Jedenfalls steht außer Zweifel, dass die Grundstückszufahrt bei Beachtung der durch § 10 StVO gebotenen Vorsicht, die der Klägerin bei der Grundstücksausfahrt mit Kraftfahrzeugen obliegt, uneingeschränkt nutzbar bleibt.
b) Das Gebot der Rücksichtnahme ist auch nicht aufgrund der Ausmaße des streitgegenständlichen Zauns verletzt. Insbesondere ist keine abriegelnde oder erdrückende Wirkung erkennbar. Die Kammer konnte auch keine „Gefängnishofsituation“ erkennen oder den klägerischen Vortrag hinsichtlich des von dem Zaun ausgehenden „Gefühls der Einmauerung“ nachvollziehen.
Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund einer vom Baukörper ausgehenden „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung kann ungeachtet des grundsätzlich fehlenden Nachbarschutzes bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung als unzumutbare Beeinträchtigung nur bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht kommen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – DVBl. 1981, 928 = juris Rn. 32 ff.: elf- bzw. zwölfgeschossiges Gebäude in naher Entfernung zu zweieinhalb geschossigem Wohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – DVBl. 1986, 1271 = juris Rn. 15: grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange, wie eine „riesenhafte metallische Mauer“ wirkende Siloanlage bei einem 7 m breiten Nachbargrundstück). Es besteht diesbezüglich kein Recht des Nachbarn, vor jeglicher Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung seines Grundstücks verschont zu bleiben (BayVGH, B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12). Insbesondere besteht für die Annahme einer erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes grundsätzlich dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes oder wenn die Gebäude so weit voneinander entfernt liegen, dass eine solche Wirkung ausgeschlossen ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30; B.v. 8.2.2017 – 1 NE 16.2226 – juris Rn. 22; B.v. 23.8.2018 – 1 NE 18.1123 – juris Rn. 24; VGH BW, U.v. 15.9.2015 – 3 S 975/14 – BauR 2015, 1984 = juris Rn. 29). Auch wenn aus einer Nichteinhaltung bauordnungsrechtlich geforderter Abstandsflächen nicht automatisch auf eine unzumutbare Beeinträchtigung und damit auf eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots geschlossen werden kann (BayVGH, B.v. 5.4.2019 – 15 ZB 18.1525 – BeckRS 2019, 7160 Rn. 10 m.w.N.), scheidet eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots regelmäßig aus tatsächlichen Gründen aus, wenn die Vorgaben des Art. 6 BayBO eingehalten sind (zu dieser Indizwirkung vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 7 m.w.N.; B.v. 15.2.2019 – 9 CS 18.2638 – juris Rn. 23 m.w.N.). Das Rücksichtnahmegebot kann allerdings auch dann verletzt sein, wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind. Da das Abstandsflächenrecht im Hinblick auf die Belichtung, Belüftung und Besonnung von Nachbargrundstücken aber zumindest indizielle Bedeutung auch für die Einhaltung des Rücksichtnahmegebots hat, kommen für seine Verletzung nur seltene Ausnahmefälle in Betracht. Ein Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme unter dem Aspekt der „Einmauerung“ setzt nach allgemeiner Rechtsprechung voraus, dass die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d.h. dort ein Gefühl des „Eingemauertseins“ oder eine „Gefängnishofsituation“ hervorruft (vgl. BayVGH, U.v. 11.4.2011 – 9 N 10.1373 – juris Rn. 56; B.v. 22.8.2012 – 14 CS 12.1031 – juris Rn. 13; OVG RhPf, B.v. 27.4.2015 – 8 B 10304/15 – juris Rn. 6; OVG Berlin-Bbg, B.v. 27.2.2012 – OVG 10 S 39.11 – juris Rn. 4).
Nach diesen Maßstäben ist eine erdrückende oder abriegelnde Wirkung durch den 1,60 m hohen Sichtschutzzaun ausgeschlossen. Ausgehend von den von den Beteiligten vorgelegten Lichtbildern und dem Lichtbild in der Behördenakte ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass der Zaun nicht rücksichtslos gegenüber der Klägerin ist. Der Zaun reicht nicht annähernd an die Höhe des klägerischen Gebäudes heran und es kann bei diesem nicht von einem übergroßen Baukörper ausgegangen werden. Er erstreckt sich zwar auf einer Länge von 20 m entlang der gesamten gemeinsamen Grundstücksgrenze, jedoch erreicht der Zaun keine Höhe, bei welcher von einer erdrückenden Wirkung gesprochen werden könnte. Dies gilt umso mehr als nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO grundsätzlich geschlossene Einfriedungen bis zu einer Höhe von 2 m in den Abstandsflächen sowie ohne eigene Abstandsflächen zulässig sind. Der Gesetzgeber ging demnach davon aus, dass Einfriedungen bis zu einer Höhe von 2 m an der Grundstücksgrenze für den Nachbarn noch als zumutbar hinzunehmen sind. Diese Höhe unterschreitet der streitgegenständliche Zaun deutlich. Überdies war anhand der Lichtbilder zu erkennen, dass die nördlichen Fenster im Erdgeschoss des klägerischen Gebäudes den Sichtschutzzaun überragen und folglich die Sicht nicht relevant eingeschränkt wird. Es ist daher nicht ersichtlich, wie durch den Sichtschutzzaun der Beigeladenen auf dem klägerischen Grundstück ein objektiv begründetes Gefühl des „Eingemauertseins“ oder eine „Hinterhof-„bzw.„Gefängnishofsituation“ hervorgerufen werden könnte. In der Gesamtschau sind bauliche Situationen, wie sie hier für die Klägerin durch die Errichtung des Zauns entstanden ist, in innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Lagen nicht ungewöhnlich.
Im Ergebnis war die Klage folglich abzuweisen.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entsprach vorliegend der Billigkeit, dass die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen, da sie mangels Antragsstellung kein Prozesskostenrisiko eingingen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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