Baurecht

Verwaltungsgerichte, Terrassenüberdachung, Öffentliche Belange, Nachbarliche Belange, Verfahrensfreie Vorhaben, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Nachbarschutz, Abstandsvorschriften, Rechtsmittelbelehrung, Nachbargrundstück, Nachbarliches Interesse, Abstandsflächenverstoß, Abstandsflächenrecht, Isolierte Abweichung, Grenzbebauung, Aufenthaltsräume, Rechtsauffassung des Gerichts, Kostenentscheidung, Baugenehmigung, Bauaufsichtsbehörde

Aktenzeichen  Au 4 K 20.793

Datum:
27.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2172
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, 63 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.  
II.    Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen. 
III.    Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über die Klage konnte aufgrund des übereinstimmenden Einverständnisses der Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zulassung der Abweichung bzw. auf erneute Verbescheidung ihres Antrags auf Zulassung der Abweichung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Der dies ablehnende Bescheid des Beklagten vom 15. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
Die Terrassenüberdachung verstößt gegen die Abstandsflächenvorschrift des Art. 6 BayBO und es besteht kein Anspruch auf die beantragte isolierte Abweichung bzw. auf erneute Verbescheidung gem. Art. 63 BayBO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.
1. Der beantragte Neubau der Terrassenüberdachung, der zwar gemäß Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g BayBO verfahrensfrei aber abstandsflächenpflichtig ist, hält unstreitig den nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstand zum nördlich angrenzenden Grundstück nicht ein.
Die Terrassenüberdachung kann dabei auch die abstandsflächenrechtliche Privilegierung des Art. 6 Abs. 9 BayBO nicht in Anspruch nehmen. Balkone oder Terrassen sind, auch wenn sie selbst keine Aufenthaltsräume sind, funktional typischerweise der Nutzung von Aufenthaltsräumen zuzurechnen. Sie stellen gleichsam eine der Nutzung von Aufenthaltsräumen gleichstehende, ins Freie verlagerte Nutzung auf Balkonen oder Terrassen dar. Grenzgebäude nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO dürfen aber gerade keine Aufenthaltsräume enthalten (vgl. Hahn in Simon/Busse, BayBO, Stand: Oktober 2020, Art. 6 Rn. 548; BayVGH, B.v. 10.7.2015 – 15 ZB 13.2671 – juris Rn. 15), sodass der Privilegierungstatbestand seinem Zwecke nach nicht auf die vorliegende Terrassenüberdachung anwendbar ist.
Auch ungeachtet der Frage, ob für die Terrassenüberdachung der Privilegierungstatbestand des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO in Anspruch genommen werden kann, wäre jedenfalls der Mindestabstand von 3 m zu der Grundstücksgrenze einzuhalten. Das ist unstreitig nicht der Fall.
Die Terrassenüberdachung verstößt daher, so wie sie errichtet werden soll, gegen die Abstandsflächenvorschriften. In der von der Klagepartei in Bezug genommenen Vereinbarung die Errichtung eines gemeinsamen Sichtmauerwerks betreffend kann angesichts der neuen Planungssituation keine Abstandsflächenübernahme im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO erblickt werden.
2. Die Voraussetzungen, unter denen die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abweichungen von den Anforderungen der Bayerischen Bauordnung und damit auch von den Vorschriften über die Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO zulassen kann, liegen indes nicht vor.
Eine Abweichung kann gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO nur dann zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind (vgl. BayVGH, B.v. 20.4.2020 – 15 ZB 19.1846 – juris Rn. 18).
Unabhängig von der Frage, ob das bislang von der Rechtsprechung geforderte Vorliegen einer atypischen, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfassten oder bedachten Fallgestaltung (vgl. BayVGH, B.v. 13.2.2002 – 2 CS 01.1506 – juris Rn. 16; B.v. 15.11.2005 – 2 CS 05.2817 – juris Rn. 2; B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; U.v. 22.12.2011 – 2 B 11.2231 – BayVBl. 2012, 535; B.v. 29.4.2020 – 15 ZB 18.946 – juris Rn. 13) erforderlich ist (vgl. zum Meinungsstand: VG Augsburg U.v. 28.10.2020 – Au 4 K 20.773 – Rn. 28 ff.; B.v. 19.11.2019 – Au 4 S 19.1926 – juris Rn. 27 ff.), ist im Rahmen der Abwägung der öffentlichen Belange mit den nachbarlichen Belangen der Beklagte zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Abstandsflächenverstoß nicht durch die Erteilung einer Abweichung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO legalisiert werden kann.
Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Die Abweichung dient daher gerade dem Interessensausgleich zwischen den Nachbarbelangen und den sonstigen öffentlichen Belangen, die durch das konkrete Bauvorhaben berührt werden. Den mit der Norm verfolgten Zielen soll dabei so weit wie möglich Rechnung getragen werden (Dhom/Simon in Simon/Busse, BayBO, Stand: Oktober 2020, Art. 63 Rn. 21). Dabei wurde die Erteilung einer Abweichung ebenfalls unter das Gebot der Rücksichtnahme gestellt, wie dies im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB der Fall ist. Bei der Anwendung des Art. 63 Abs. 1 BayBO sind daher dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie bei der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes nach § 31 Abs. 2 BauGB (Dhom/Simon in Simon/Busse, BayBO, Stand: Oktober 2020, Art. 63 Rn. 31 ff.). Wird folglich von Normen abgewichen, die nicht dem Nachbarschutz dienen, so hat der Nachbar nur einen Anspruch darauf, dass seine nachbarlichen Interessen mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie den Abstandsflächenvorschriften, kann der Nachbar hingegen nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen. Er ist darüber hinaus auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund, etwa weil sie nicht mit den öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist, (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17). Bei der Frage, ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt sind (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 23). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist dabei auch der Zweck der jeweiligen Anforderung‚ in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht darin‚ eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Sicherung des sozialen Wohnfriedens zu gewährleisten (vgl. zu Letzterem: BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 14, 17; U.v. 5.5.2015 – 1 ZB 13.2010 – juris Rn. 5; B.v. 1.6.2012 – 15 ZB 10.1405 – juris Rn. 7; U.v. 30.5.2003 – 2 BV 02.689 – juris Rn. 43). Die gesetzlichen Ziele der Abstandsflächenvorschriften gelten für Neubauten und Umbauten gleichermaßen (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2011 – 15 ZB 11.1882 – juris). Auf eine nachprägende Wirkung eines früheren Altbestandes kann sich der Bauherr grundsätzlich nicht berufen, da ein nachwirkender Bestandsschutz nur ausnahmsweise anerkannt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2012 – 15 CS 11.2628 – juris Rn. 28). Abstandsflächenwidrige Verhältnisse sollen nach Möglichkeit auch bereinigt werden, wenn – wie im vorliegenden Fall – ein vorhandener baulicher Bestand durch einen Neubau ersetzt wird (vgl. BayVGH, U.v. 22.11.2006 – 25 B 05.1714 – juris Rn. 20).
Gemessen an diesen Maßstäben kann eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften in Bezug auf das nördliche Grundstück nicht erteilt werden, da die nachbarlichen Belange insoweit überwiegen. Unter Berücksichtigung des Zwecks der Abstandsflächenvorschriften, insbesondere der Sicherung des sozialen Wohnfriedens, beeinträchtigt der geplante Neubau einer Terrassenüberdachung die Interessen der nördlich angrenzenden Nachbarn derart, dass eine Abweichung nicht erteilt werden kann. Eine Terrasse dient naturgemäß als eine ins Freie verlagerte Aufenthaltsfläche und nicht nur dem kurzweiligen Verweilen. Es handelt sich mithin um eine an die Grenze gelangende Wohnnutzung, sodass nicht zuletzt auch dadurch der soziale Wohnfrieden in nicht unerheblicher Weise gestört wird. Dabei muss vor allem auch der Zweck der Privilegierungsvorschrift des Art. 6 Abs. 9 BayBO in die Abwägung miteinbezogen werden. Der Gesetzgeber hat ausweislich des Gesetzeswortlauts nur für den Fall, dass es sich um ein Gebäude ohne Aufenthaltsräume handelt, unter bestimmten baulichen Voraussetzungen die Möglichkeit der Grenzbebauung geschaffen. Eine an die Grenze gerückte Wohnbebauung wollte er gerade ausschließen (vgl. Hahn in Simon/Busse, BayBO, Stand Oktober 2020, Art. 6 Rn. 519 m.w.N.), um u.a. den Einsichtsmöglichkeiten auf das nachbarliche Grundstück entgegenzuwirken. Nicht zuletzt deshalb dienen die Abstandsflächenvorschriften dem Nachbarschutz (BayVGH, U.v. 14.10.1985 – 14 B 85 A.1224 – BayVBl 1986, 143). Selbst die Tatsache, dass die Terrasse seit über 30 Jahren besteht und es seither angeblich zu keiner Beeinträchtigung des Wohnfriedens gekommen sei, vermag eine andere Bewertung nicht zu rechtfertigen. Der Beklagte soll gerade bei der Neubewertung einer baulichen Anlage die Möglichkeit bekommen, abstandsflächenwidrige Verhältnisse zu beseitigen und rechtmäßige Zustände zu schaffen. Auch wenn die Klägerin zu ihren Nachbarn momentan ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis pflegt, muss die Sicherung des sozialen Wohnfriedens grundstücksbezogen betrachtet werden, da es jederzeit zu einem Eigentümerwechsel kommen kann.
Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die nachbarlichen Belange sowie die öffentlichen Belange überwiegen und daher eine Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nicht in Betracht kommt. Das private Interesse der Klägerin an der Überdachung ihrer Terrasse muss insofern zurücktreten.
3. Insgesamt steht der Klägerin daher kein Anspruch auf Erteilung der beantragten isolierten Abweichung zu, sodass sie durch den ablehnenden Bescheid des Beklagten nicht in ihren Rechten verletzt ist. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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