Baurecht

Zum Vorliegen eines atypischen Sachverhalts im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO bei großflächigen Einzelhandelsbetrieben

Aktenzeichen  9 ZB 18.1849

Datum:
30.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6707
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 4

 

Leitsatz

1. Zu der Frage, ob eine drohende Unterversorgung das Vorliegen eines atypischen Sachverhalts im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO rechtfertigt (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein aufgrund der Existenz eines Fuß- und Radwegs sowie einer Busverbindung kann ein Lebensmittelmarkt, der ca. 800 m von der nächsten Wohnbebauung entfernt liegt, nicht als wohnortnah oder städtebaulich integriert angesehen werden. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 3 K 17.430 2018-07-26 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Vorbescheids betreffend die bauliche Erweiterung eines bestehenden Lebensmittelmarktes mit 800 m² Verkaufsfläche und ca. 1.200 m² Geschossfläche auf den Grundstücken FlNr. … und … Gemarkung S… Die Verkaufsfläche soll nach dem geplanten Anbau ca. 1.100 m² betragen; die Geschossfläche soll dabei auf ca. 1.560 m² erweitert werden. Das Bauvorhaben liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans der Beigeladenen Nr. … „Gewerbegebiet … …“, wo sich auch noch ein Discounter, ein Drogeriemarkt, ein Getränkemarkt sowie weitere Gewerbebetriebe befinden.
Die Beklagte versagte mit Bescheid vom 14. Februar 2017 den Antrag der Klägerin auf Erteilung eines Vorbescheids. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 26. Juli 2018 mit der Begründung abgewiesen, dass das Vorhaben mit seiner geplanten Verkaufsfläche als großflächiger Einzelhandelsbetrieb im ausgewiesenen Gewerbegebiet nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO unzulässig sei. Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung der Klägerin.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Die Klägerin beruft sich allein auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
Bei dem Bauvorhaben handelt es sich – unstreitig – um einen großflächigen Einzelhandelsbetrieb im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO, nachdem der Lebensmittelmarkt nach dem Anbau eine Verkaufsfläche von 800 m² um etwa 300 m² überschreiten würde (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2005 – 4 C 10.04 – juris Rn. 12). Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO sind großflächige Einzelhandelsbetriebe, die sich nach Art, Lage oder Umfang auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können, außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten zulässig. Solche – in Satz 2 der Vorschrift beispielhaft bezeichneten – Auswirkungen sind gemäß § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO in der Regel anzunehmen, wenn die Geschossfläche – wie hier nach der Erweiterung deutlich – 1.200 m² überschreitet. § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO geht dabei in einer typisierenden Betrachtungsweise davon aus, dass bei großflächigen Einzelhandelsbetrieben mit einer Geschossfläche von mehr als 1.200 m² Auswirkungen auf die städtebauliche Ordnung und Entwicklung, insbesondere auf die infrastrukturelle Ausstattung, auf den Verkehr und auf die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich dieser Betriebe eintreten können (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2019 – 9 CS 18.177 – juris Rn. 23).
Die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO kann allerdings widerlegt werden. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO gilt die Regel des Satzes 3 nicht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen bei mehr als 1.200 m² Geschossfläche nicht vorliegen; dabei sind in Bezug auf die in Satz 2 bezeichneten Auswirkungen insbesondere die Gliederung und die Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile, die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und das Warenangebot des Betriebs zu berücksichtigen.
Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen eines atypischen Sachverhalts im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO unter Berücksichtigung der von der Klägerin vorgelegten Antragsunterlagen, insbesondere der “Erweiterten Wirkungsanalyse für die Erweiterung des …Supermarktes in S…, … … *“ („Erweiterte Wirkungsanalyse“) vom Juli 2016 überprüft und zu Recht verneint. Es hat dabei die erforderliche Gesamtbetrachtung des vorliegenden Einzelfalls vorgenommen (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2005 – 4 C 10/04 – juris Rn. 26) und in seine Überlegungen eingestellt, dass der geplante Lebensmittelmarkt mit seinem breiten, zentrenrelevanten Warenangebot in der Größenordnung eines Supermarkts weit außerhalb des Ortskerns, nämlich ca. 800 m von der nächsten Wohnbebauung entfernt liegt. In Anbetracht der Größe der Gemeinde mit nur etwa 3.100 Einwohnern, des Fehlens zentralörtlicher Funktionen und des Umstands, dass nach der „Erweiterten Wirkungsanalyse“ der Umsatz des erweiterten Lebensmittelmarkts zu ca. 88% außerhalb des Gemeindegebiets erwirtschaftet würde, hat es das Bauvorhaben nicht als der Sicherung der verbrauchernahen Versorgung dienend angesehen. Vielmehr ist es auch unter Einbeziehung der deutlichen Überschreitung der Geschossflächenschwelle des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO um mehr als 25% zu der Einschätzung gelangt, dass es sich bei dem geplanten Markt um ein Musterbeispiel eines vom Gesetzgeber angedachten Vorhabens nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO handelt, das in einem Kern- oder Sondergebiet zulässig sein kann, nicht jedoch in einem Gewerbegebiet.
Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht mit dieser Sachverhaltswürdigung nicht das Vorliegen einer atypischen städtebaulichen Situation im Hinblick auf die Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs verkannt, weil das Bauvorhaben an einem auf unabsehbare Zeit einzigen gemeindlichen Nahversorgungsschwerpunkt im Gemeindegebiet im „Gewerbegebiet … …“ verwirklicht werden soll. Indem die Klägerin unter Verweis auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westphalen vom 2. Dezember 2013 (2 A 1510/12 – juris) hierzu darlegt, dass die Lage eines Vorhabenstandorts innerhalb eines zentralen Versorgungsbereichs ein gewichtiges Indiz für eine städtebauliche Atypik sein könne, setzt sie sich schon nicht mit den betreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander, die auch noch den Hinweis enthalten, dass die Zulassung des Bauvorhabens die bestehende Situation (der hier nicht verbrauchernahen Versorgung) vertiefen würde und etwa die Ansiedlung städtebaulich integrierter Geschäfte verhindern könnte. Es ist abgesehen davon damit auch nichts vorgetragen, was die Regelvermutung widerlegen würde.
Insbesondere ist das von der Klägerin zitierte Urteil auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragbar. In dem dort entschiedenen Fall leitete sich die Atypik aus den Besonderheiten des Standorts einer zentralen Stadtlage, innerhalb eines interkommunal abgestimmten zentralen Versorgungsbereichs, sowie aus der Ausrichtung des wesentlich fußläufig erreichbaren Betriebs auf die lokale Nahversorgung ab. Diese Eigenheiten sind bei dem streitgegenständlichen Vorhaben nicht gegeben, vielmehr weist es mit ca. 800 m einen erheblichen Abstand zum nächstgelegenen Ortsrand auf und könnte somit allenfalls für einen kleinen Siedlungsbereich als fußläufig erreichbar angesehen werden. Der Lebensmittelmarkt liegt zudem nicht innerhalb eines interkommunal abgestimmten Versorgungsbereichs und die Erweiterung dient weder bezogen auf einen zentralen Versorgungsbereich noch sonst dem Ausgleich einer bestehenden Unterversorgung im Gemeindegebiet. Stattdessen würde nach der „Erweiterten Wirkungsanalyse“ der deutlich überwiegende Teil des Umsatzes außerhalb der Gemeinde erwirtschaftet werden. Es kann somit in diesem Zusammenhang auch nicht bedeutsam sein, dass zentrale Versorgungsbereiche an anderen Standorten im Einzugsgebiet nicht geplant sind (vgl. OVG NW, U.v. 2.12.2013 – 2 A 1510/12 – juris Rn. 61 und 73).
Auch das weitere Vorbringen der Klägerin, dass es sich bei dem bestehenden Lebensmittelmarkt, der erweitert werden soll, um den einzigen Vollsortimenter handelt, der bei fehlender Erweiterungsmöglichkeit schließen könnte, kann vorliegend nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Es kommt für die Beurteilung der Auswirkungen des Gesamtvorhabens und somit weder für das Eingreifen der Regelvermutung noch für deren Widerlegung darauf an, ob der Einzelhandelsbetrieb von vornherein in der nun zu beurteilenden Größe errichtet oder ob ein bestehender Betrieb nachträglich erweitert werden soll (vgl. BVerwG, B.v. 29.11.2005 – 4 B 72.05 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 20.11.2017 – 1 ZB 15.1561 – juris Rn. 15). Dass bei fehlender Erweiterungsmöglichkeit die Schließung des Marktes und dann Unterversorgung drohen könnte, ist von der Klägerin schon nicht ausreichend dargelegt worden. Zudem hat sie nichts Substantiiertes dazu vorgetragen, wie einem solchen drohenden Szenario im Hinblick auf Auswirkungen des Gesamtvorhabens im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO Bedeutung zukommen könnte. Das öffentliche Baurecht kennt jedenfalls keinen Konkurrenzschutz; § 11 Abs. 3 BauNVO ist wettbewerbsneutral (vgl. BayVGH, B.v. 7.8.2012 – 15 ZB 11.434 – juris Rn. 10 m.w.N.).
Der von der Klägerin angeführte Umstand, dass das Vorhaben, abgesehen von einer Metzgerei und einer Bäckerei im Ortskern, am für die Wohnbevölkerung nächstgelegenen Standort innerhalb der Gemeinde angesiedelt sein würde, an dem sie sich mit Waren des täglichen Bedarfs versorgen könne, ist ebenfalls nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zu wecken. Der Standort kann deshalb nicht – wie die Klägerin meint – als wohnortnah oder städtebaulich integriert angesehen werden. Auch die Existenz eines Fuß- und Radwegs sowie einer Busverbindung ändert nichts daran, dass der Lebensmittelmarkt keinen räumlichen Bezug zu einer Wohnbebauung von wesentlichem Ausmaß im fußläufigen Bereich aufweist (vgl. BayVGH, U.v. 18.4.2013 – 2 B 13.423 – juris Rn. 34), aufgrund der Entfernung zum Ortsrand allenfalls untergeordnet fußläufigen Kundenverkehr anziehen und im Wesentlichen mit Kraftfahrzeugen angesteuert werden würde, die noch dazu nach der mitgeteilten zu erwartenden Umsatzverteilung zu einem Großteil als gebietsfremd einzustufen wären. Dementsprechend kommt auch die von der Klägerin vorgelegte „Erweiterte Wirkungsanalyse“ (S. 11) zu der Einschätzung, dass der Kernort in recht deutlicher Entfernung gelegen ist und ein anteilig fußläufiger Einzugsbereich „im klassischen Sinne“ nicht besteht. Fuß- und Radweg sowie ÖPNV-Anbindung führten dazu, dass diese Situation „abgemildert“ sei.
Schließlich kann auch dem Hinweis der Klägerin auf das Ziel 5.3.1 des Landesentwicklungsprogramms Bayern (LEP), wonach zwar Flächen für Betriebe im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 BauNVO nur in zentralen Orten ausgewiesen werden dürfen, jedoch Betriebe bis 1200 m² Verkaufsfläche, die ganz überwiegend dem Verkauf von Waren des Nahversorgungsbedarfs dienen, in allen Gemeinden – unabhängig von den zentralörtlichen Funktionen anderer Gemeinden – zulässig sind, keine entscheidungserhebliche Bedeutung zukommen. Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen seiner – oben bereits angesprochenen – Gesamtbetrachtung zwar u.a. darauf abgestellt, dass die Gemeinde S…, in der das Bauvorhaben verwirklicht werden soll, keine zentralörtlichen Funktionen erfüllt. Diese Argumentation ist aber ersichtlich darauf gerichtet, dass im Hinblick auf den Aspekt der Sicherung einer verbrauchernahen Versorgung nur diese mit ihrem Gebiet betroffene Gemeinde in den Blick zu nehmen ist. Die Frage, ob mit dem Vorhaben u.a. Auswirkungen auf Ziele der Landesplanung im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO verbunden sind oder sein können, bzw. die Ausweisung im Hinblick auf das Ziel 5.3.2 des LEP ausnahmsweise nicht an einem städtebaulich integrierten Standort erfolgen müsste, weil die Gemeinde nachweisen kann, dass geeignete städtebaulich integrierte Standorte auf Grund der topographischen Gegebenheiten nicht vorliegen, würde sich erst stellen, wenn die Vermutungsregel wegen einer atypischen Fallgestaltung nicht greift (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2007 – 4 C 9.07 – juris Rn. 19).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG; sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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