Europarecht

Abschiebungsanordnung nach Polen, Aufenthalt in Klinik beim angekündigten Überstellungstermin, Überstellungsfrist, Flüchtigsein

Aktenzeichen  M 10 K 21.50320

Datum:
3.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 16079
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a)
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 3
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 12 Abs. 2
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 2

 

Leitsatz

Ein einmaliges Nichtantreffen des Betroffenen an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort begründet regelmäßig kein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO (Anschluss an BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20).

Tenor

I. Soweit die Klage durch den Kläger zu 1. zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. April 2021 (Geschäftszeichen …) hinsichtlich der Klägerin zu 2. in den Ziffern 1., 3. und 4. aufgehoben.
III. Im Übrigen wird die Klage der Klägerin zu 2. abgewiesen.
IV. Soweit das Verfahren eingestellt wurde, trägt der Kläger die Kosten des Verfahrens. Im Übrigen tragen die Klägerin und die Beklagte die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
V. Ziffer IV. ist vorläufig vollstreckbar. Jeder Beteiligter kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht vorher die andere Seite
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Das Gericht entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
2. Infolge der Klagerücknahme des Klägers zu 1. war das Verfahren in Bezug auf ihn entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO in dieser Entscheidung einzustellen. Da die Klägerin ihre Klage aufrechterhalten hat, ist über sie in der Sache zu entscheiden.
3. Die noch zu entscheidende Klage der Klägerin ist nur teilweise zulässig. Gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart (BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 1 C 6/16 – juris Rn. 9). Aufgrund der unionsrechtlichen Eigenständigkeit des Dublin-Verfahrens im Verhältnis zum nationalen Asylsystem besteht deshalb kein Raum für über das Anfechtungsbegehren hinausgehende und in der Sache abzielende Verpflichtungsanträge (VG Würzburg, U.v. 5.7.2018 – W 2 K 17.50701 – juris Rn. 15). Hiernach sind die in Ziffer 2. – 4. gestellten Anträge nicht statthaft. Die gegen Ziffer 1 im Übrigen statthafte Klage wurde fristgerecht innerhalb der Wochenfrist gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erhoben.
4. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 26. April 2021 erweist sich in dem für das Gericht maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
4.1. Die Beklagte ist im Ausgangspunkt zutreffend von der internationalen Zuständigkeit Polens für die Bearbeitung des Asylantrags der Klägerin ausgegangen, weil diese dort mit einem gültigen Visum eingereist ist (Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung). Nachdem auch das Übernahmeersuchen vom 1. Februar 2021 fristgerecht gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-Verordnung innerhalb von 3 Monaten seit Asylantragstellung erfolgte, war Polen zunächst für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin zuständig und verpflichtet, die Klägerin innerhalb der Überstellungsfrist i.S.d. Art. 29 Dublin III-Verordnung aufzunehmen; dementsprechend hatten die polnischen Behörden mit Schreiben vom 17. Februar 2021 dem Ersuchen der Beklagten zugestimmt.
4.2. Die Überstellung nach Polen war ursprünglich auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-Verordnung. Dies wäre nur dann der Fall, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gebe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Polen systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen.
a) Das Gemeinsame Europäische Asylsystem wurde in einem Kontext entworfen, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (EuGH, U.v. 10.12.2013 – C-394/12 – Abdullahi/Bundesasylamt, juris Rn. 52; EuGH, U.v. 21.12.2011 − C-411/10, C-493/10 – N.S./Secretary of State for the Home Department u. a., juris Rn. 78). Nach diesem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens bzw. nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der GFK, der EMRK und der Charta der Grundrechte i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EUV entspricht. Diese Vermutung ist allerdings nicht unwiderleglich (EuGH, U.v. 21.12.2011 – a.a.O., Rn. 99, 104). Wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist die Vermutung jedoch nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt (EuGH, U.v. 21.12.2011 – a.a.O., Rn. 81 ff). Vielmehr ist von systemischen Mängeln nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6; im Anschluss hieran B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – juris).
b) Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der aktuellen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass das polnische Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist. Nach der aktuellen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird das Vorliegen systemischer Mängel im polnischen Asylsystem in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, soweit ersichtlich, durchgängig verneint (vgl. u.a. jüngst VG Düsseldorf, B.v. 3.2.2022 – 12 L 8/22.A – juris Rn. 18 ff.; VG Bremen, B.v. 26.1.2022 – 3 V 2530/21 – juris Rn. 14 ff.; ebenso VG Berlin, B.v. 26.8.2021 – 31 L 158/21 A – juris Rn. 13 ff.; VG Ansbach, B.v. 20.7.2021 – AN 18 S 20.50221 – juris Rn. 28; VG Düsseldorf, U.v. 21.7.2020 – 22 K 8762/18.A – juris Rn. 149 ff.; VG Regensburg, B.v. 5.2.2020 – RO 12 S 20.50020 – juris Rn. 45 ff.; VG Würzburg, B.v. 3.1.2020 – W 8 S 19.50825 – juris Rn. 15 f.). Soweit in der jüngeren Vergangenheit seit Herbst 2021 über an der Grenze zwischen Polen und Belarus dort stattfindende unzulässige Pushbacks berichtet wird, die auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu entsprechenden Verfahren und (teilweise erfolgreichen) Anträgen auf Erlass einstweiliger Anordnungen nach Art. 39 EGMR-VerfO geführt haben (siehe etwa Pressemitteilungen ECHR 051 [2022] vom 21.2.2022 – abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/fre-press?i=003-7264687-9892524, sowie Pressemitteilung ECHR 372 [2021] vom 6.12.2021 – https://hudoc.echr.coe.int/fre-press?i=003-7202976-9785391), ist festzuhalten, dass diese gerade nicht nach Polen überstellte Personen im Wege des Dublin-Verfahrens betreffen; jedenfalls liegen dem Gericht diesbezüglich keine Erkenntnisse vor (vgl. auch VG Bremen, B.v. 26.1.2022 – 3 V 2530/21 – juris Rn. 18).
4.3. Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich allerdings in Ziffern 1., 3. und 4. als rechtswidrig, da mittlerweile die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung abgelaufen ist und Polen nicht mehr zur Aufnahme der Klägerin verpflichtet ist (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung). Entgegen der Auffassung der Beklagten wurde die Frist zur Überstellung auch nicht i.S.v. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung wegen Flüchtigseins der Klägerin auf 18 Monate verlängert. Demnach kann auch die Abschiebung im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht mehr durchgeführt werden.
a) Nachdem die Zustimmung zum Übernahmeersuchen am 17. Februar 2021 erfolgte und die Klägerin keinen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellte, wurde der Anlauf der 6-monatigen Überstellungsfrist nicht gehemmt (vgl. § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG) und endete am 17. August 2021. Mit Ablauf der der 6-monatigen Überstellungsfrist ging die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags der Klägerin auf die Beklagte über, es sei denn, die Überstellungsfrist hatte sich wegen Flüchtigseins der Klägerin i.S.v. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung auf 18 Monate verlängert. Entgegen der Auffassung der Beklagten war dies jedoch nicht der Fall.
b) In der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie des Bundesverwaltungsgerichts sind die maßgeblichen Rechtsfragen zum Begriff des Flüchtigseins geklärt. Zu den maßgeblichen rechtlichen Grundsätzen führt das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 17.8.2021 (1 C 38.20 – Rn. 19-20) aus:
aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 53 ff.; s.a. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875, Rn. 25) ist ein Antragsteller flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff „flüchtig“ objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 60); das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 70). Subjektiv ist erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entzieht und seine Überstellung vereiteln will (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 56).
Ein Flüchtigsein kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 70). Aufgrund erheblicher Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Anwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 61f.). Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO („flüchtig ist“) folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 27).
bb) Mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.8.2021 ist weiter geklärt, dass für ein kausales Sichentziehen nicht jedes sich irgendwie nachteilig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkende Verhalten des Betroffenen bzw. jedwedes vorübergehende Verunmöglichen einer Überstellung genügt. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung bzw. Kooperation der Betroffenen der für eine zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöht und möglicherweise zu einer Verzögerung führt, stellt objektiv kein Sich-Entziehen dar. Demnach reicht sowohl bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt der Antragsteller ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung
oder Unterkunft als auch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig, nicht aus (BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 22). Lediglich in Ausnahmefällen, namentlich etwa bei Verhinderung fortgesetzter Überstellungsversuche trotz bekannter Anschrift oder einem Verhalten, das einer fortdauernden Flucht gleichsteht, kann in einer Gesamtwürdigung ein (fortbestehendes) Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-Verordnung in Betracht kommen (BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 23).
c) Nach den oben dargestellten Maßstäben ist im konkreten Fall nicht von einem Flüchtigsein der Klägerin im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alternative 2 Dublin III-Verordnung auszugehen.
Der stationäre Klinikaufenthalt des Klägers zu 1. vom 20. bis 28. Juli 2021 sowie die Begleitung durch seine Ehefrau dort begründet in einer Gesamtwürdigung keinen Ausnahmefall im Sinne der oben dargestellten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, da hierin weder eine Verhinderung fortgesetzter Überstellungsversuche trotz bekannter Anschrift oder ein Verhalten, das einer fortdauernden Flucht gleichsteht, vorliegt. Den zuständigen Behörden war die Wohnadresse der Klägerin bekannt, es liegt ein einmaliges Nichtantreffen am 21. Juli 2021 um 6:40 Uhr vor, als die Klägerin nach Polen überstellt werden sollten. Zusätzlich ist in der Gesamtwürdigung zu sehen, dass das Zimmer der Klägerin in der Aufnahmeeinrichtung, welches die Polizeibeamten um 6:40 Uhr am 21. Juli 2021 betraten, nach eigenen Eindrücken „bewohnt aussah“, und die Klägerin nach eigenen Angaben die Aufnahmeeinrichtung über ihren Aufenthaltsort informiert hatte. Vor diesem Hintergrund liegt keine Verhinderung fortgesetzter Überstellungsversuche trotz bekannter Anschrift und auch kein Verhalten vor, das einer fortgesetzten Flucht der Klägerin gleichstünde.
Das Gericht verkennt nicht, dass die zeitliche Koinzidenz der damaligen stationären Behandlung des Klägers zu 1. mit dem angekündigten Überstellungstermin auf der Hand liegt. Auf der anderen Seite wäre es unvertretbar, vom Kläger zu 1. – der nach der Behördenakte und den vorliegenden Arztberichten Verletzungen aufgrund eines Säureangriffs davongetragen hat und an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet – zu verlangen, kurzfristig auf die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zu verzichten, wenn er diese benötigt. Dass die Klägerin als seine Ehefrau ihn in seiner von ihm empfundenen Ausnahmesituation in das Klinikum begleitet hat, erscheint aus Sorge um sein Wohlergehen jedenfalls nachvollziehbar, was wiederum die subjektive Seite im Sinne des sich gezielten und bewussten Entziehens vor den nationalen Behörden zweifelhaft erscheinen lässt.
Nach alledem liegt mit dem vorliegenden Fall eine Fallkonstellation vor, die sich nicht wesentlich von der im vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall unterscheidet (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 23 a.E.).
d) Mangels Flüchtigseins der Klägerin wurde demnach nicht die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung auf 18 Monate verlängert. Da die 6-monatige Überstellungsfrist im Sinne von Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung mit Ablauf des 17. August 2021 abgelaufen ist, ist die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags der Klägerin auf die Beklagte übergegangen, die hierüber im nationalen Verfahren zu entscheiden hat.
Da die Beklagte zur Durchführung des nationalen Asylverfahrens in Bezug auf den Asylantrag der Klägerin verpflichtet ist, ist die Folgeentscheidung in Ziffer 3. des Bescheids mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ebenfalls rechtswidrig und aufzuheben. Ebenso umfasst von der Aufhebung ist die auf Grundlage der Unzulässigkeitsentscheidung ergangene Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot (BVerwG, B.v. 25.4.2019 – 1 C 51.18 – juris Rn. 20). Nicht von der Aufhebung umfasst ist Ziffer 2. des Bescheids, da die Klägerin dies von ihrem Anfechtungsbegehren ausdrücklich ausgenommen hat, woran das Gericht gebunden ist (vgl. § 88 VwGO).
Die Kostenregelung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gem. § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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