Europarecht

Abschiebungsanordnung nach Ungarn

Aktenzeichen  W 1 S 16.50095

Datum:
23.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a Abs. 1, § 74 Abs. 1, § 75 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 4
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 S. 1, S. 2

 

Leitsatz

Es bedarf der Prüfung im Hauptsacheverfahren, ob die neuen Regelungen im ungarischen Asylrecht europäischem und sonstigem internationalen Recht genügen oder ob sie geeignet sind, systemische Mängel des Asylverfahrens in Ungarn zu begründen, weil Anhaltspunkte für die Verletzung des Non-Refoulement-Gebots aus Art. 33 GK ebenso wie des Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO und des dadurch konkretisierten Rechts des Antragstellers auf Prüfung seines Asylantrags durch einen Mitgliedstaat des Dublin-Systems aus Art. 18 GR-Charta bestehen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben ein am … … bzw. … geborener afghanischer Staatsangehöriger und reiste auf dem Landweg bzw. per Schlauchboot über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich am 18. Juli 2015 in das Bundesgebiet ein. Am 12. November 2015 beantragte er Asyl.
2. Anhand von EURODAC-Treffern vom 12. November 2015 (Bl. 27/29 der BA-Akte) wurde festgestellt, dass der Antragsteller bereits in Ungarn sowie in Griechenland Asylanträge gestellt hatte.
3. Am 14. Dezember 2015 ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die ungarischen Behörden um Wiederaufnahme des Antragstellers aufgrund von Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Dublin II-VO. Die Hungarian Dublin Unit bestätigte mit E-Mail-Nachricht vom 14. Dezember 2015 den Eingang des Wiederaufnahmeersuchens.
Eine Antwort auf das Wiederaufnahmeersuchen erfolgte nicht.
4. Mit Bescheid vom 27. Mai 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1 des Bescheides), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 2) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 3). Nach Art. 25 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Dublin III-VO sei davon auszugehen, dass Ungarn dem Übernahmeersuchen vom 14. Dezember 2015 am 29. Dezember 2015 zugestimmt habe, da das Ersuchen nicht beantwortet worden sei. Damit sei Ungarn für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO zuständig. Außergewöhnliche humanitäre Gründe für eine Ausübung des Selbsteintrittsrechtes durch die Antragsgegnerin seien nicht ersichtlich. Der Antragsteller habe keine Gründe vorgetragen, die für die Bemessung der Frist des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes von Bedeutung wären. Gründe für eine weitere Reduzierung der Frist nach § 11 Abs. 4 AufenthG lägen nicht vor, da besonders schutzwürdige Belange nicht gegeben seien. Es seien auch sonst keine Umstände ersichtlich, die im Rahmen des Ermessens zugunsten des Antragstellers hätten berücksichtigt werden können. Der Bescheid wurde laut Aktenvermerk (Bl. 67 der BA-Akte) als Einschreiben am 1. Juni 2016 zur Post gegeben.
5. Mit am 10. Juni 2016 per Telefax eingegangenem Schriftsatz ließ der Antragsteller Klage erheben, über die noch nicht entschieden ist (Az.: W 1 K 16.50094).
Gleichzeitig beantragt er gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde auf mehrere Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Würzburg Bezug genommen, welche jeweils die frühere Rechtsprechung, wonach systemische Mängel im ungarischen Asylsystem nicht vorlägen, aufgegeben hätten und eine rechtliche Neubeurteilung aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Neuregelungen im ungarischen Asylsystem in den Hauptsacheverfahren für notwendig gehalten hätten. Inzwischen hätten etliche Gerichte eine solche Neubewertung durchgeführt und zwar unter Heranziehung der aktuellen Beurteilungen durch verschiedene Nicht-Regierungsorganisationen, insbesondere den UNHCR, sowie eines Rechtsgutachtens eines Universitätsprofessors zum ungarischen Asylrecht vom 2. Oktober 2015. Unter Auswertung dieser Erkenntnisquellen hätten inzwischen etliche Gerichte ihre bis dahin gegenteilige Meinung geändert und kämen zur Bejahung systemischer Mängel. Hingewiesen wurde auch auf einen Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 17. Juli 2015 (Az.: M 24 S 15.5058). Flüchtlingen drohe bei Rückschiebung im Dublin-Verfahren nach Ungarn die Weiterschiebung nach Serbien, sofern sie über Serbien nach Ungarn eingereist seien. Dies liege im ungarischen Asylrecht begründet, wonach nunmehr bei Einreise über einen sicheren Drittstaat kein Asylverfahren durchgeführt werde. Dies widerspreche in eklatantem Maße den Grundsätzen des europäischen Asylsystems und begründe einen schwerwiegenden systemischen Mangel. Dies gelte unabhängig davon, ob im konkreten Fall der Reiseweg über Serbien geltend gemacht worden sei oder nicht, da davon auszugehen sei, dass die Flüchtlinge von Serbien kommend nach Ungarn eingereist seien, wovon auch die ungarischen Behörden ausgingen, da bis Ende September 2015 99% der Schutzsuchenden über die ungarischserbische Grenze nach Ungarn eingereist seien. Da der Antragsteller angegeben habe, über Serbien nach Ungarn eingereist zu sein, drohe ihm bei Überstellung nach Ungarn die unmittelbare Weiterschiebung nach Serbien, verbunden mit einer Einreisesperre. Die Einstufung Serbiens als sicherer Drittstaat lasse sich nicht mit der Asylverfahrensrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie in Übereinstimmung bringen, da hierfür Voraussetzung wäre, dass dieser Drittstaat die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention nicht nur ratifiziert habe, sondern ihre Bestimmungen auch einhalte. Dies werde vom UNHCR und dem ungarischen Helsinki-Komitee verneint.
6. Die Antragsgegnerin beantragt demgegenüber,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes vom 27. Mai 2016 anzuordnen, hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurden Klage und Antrag innerhalb der Wochenfrist nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG i. V. m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG bei Gericht erhoben.
2. Der Antrag ist auch begründet, weil die Erfolgsaussichten der Hauptsache, hier der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn, bei der gebotenen summarischen Prüfung offen sind und nach der vom Gericht sonach vorzunehmenden Interessenabwägung das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
a) Die streitbefangene Abschiebungsanordnung ist auf § 34a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung u. a. in den aufgrund von Rechtsvorschriften der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald diese durchgeführt werden kann.
Zu Recht geht die Antragsgegnerin davon aus, dass Ungarn zur Wiederaufnahme des Antragstellers verpflichtet ist (Art. 25 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Dublin III-VO). Denn die Zustimmung des nach den Kriterien des Art. 3 Abs. 2 Sätze 1 und 2 Dublin III-VO zuständigen Staates Ungarn gilt wegen ergebnislosen Verstreichens der zweiwöchigen Frist zur Beantwortung des fristgemäß gestellten, auf Art. 23 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 c) Dublin III-VO gestützten Wiederaufnahmeersuchens als erteilt.
b) Offen ist jedoch nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG), ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechtes der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Sätze 2 und 3 Dublin III-VO wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn zusteht. Zu dieser Frage existieren sowohl aktuelle gerichtliche Entscheidungen, die das Vorliegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn verneinen (VG München, B.v. 17.3.2016 – M 1 S 16.50032; VG Greifswald, B.v. 14.3.2016 – 4 B 649/16 AS HGW; VG Ansbach, B.v. 17.2.2016 – AN 3 S 16.50035) als auch solche, die vom Vorliegen derartiger Mängel ausgehen (VG Potsdam, U.v. 11.3.2016 – VG 12 K 216/15.A; VG Aachen, U.v. 10.3.2016 – 5 K 1049/15.A; VG München, B.v. 27.1.2016 – M 1 S 16.50006).
Aufgrund der aus öffentlichen Quellen zugänglichen Informationen kann im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung ohne weitere Sachverhaltsaufklärung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller im Falle seiner sofortigen Überstellung nach Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würde.
Das Gericht stützt sich bei dieser Bewertung insbesondere auf die zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Neuregelungen im ungarischen Asylrecht, auf welche der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes überhaupt nicht eingeht. Rechtlichen Bedenken unterliegt insbesondere, dass es nach den gesetzlichen Neuregelungen im ungarischen Asylsystem offenbar nunmehr zulässig ist, Dublin-Rückkehrer in von Ungarn als sicher eingestufte Drittstaaten abzuschieben, ohne dass deren Asylanträge inhaltlich geprüft würden. Hiervon ist auch die Republik Serbien betroffen, welche von Ungarn am 1. August 2015 entgegen den Empfehlungen des UNHCR als sicherer Drittstaat eingestuft wird (vgl. u. a. Commissioner for Human Rights, Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, Applications No. 44825/15 and No. 44944/15 S.O. v. Austria and A.A. v. Austria v. 17.12.2015; VG Aachen, U.v. 10.03.2016 – 5 K 1049/15.A). Hiervon kann auch der Antragsteller persönlich betroffen sein, da er glaubhaft und nachvollziehbar angegeben hat, über Serbien nach Ungarn eingereist zu sein. Ein solches Vorgehen wirft die Frage der Verletzung des Non-Refoulement-Gebots nach Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie einer etwaigen Verletzung des Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO und des dadurch konkretisierten Rechts des Antragstellers auf Prüfung seines Asylantrags durch einen Mitgliedstaat des Dublin-Systems aus Art. 18 GR-Charta auf. Auch unter Berücksichtigung der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 27. Januar 2016, in der auf die Möglichkeit nach dem ungarischen Asylgesetz hingewiesen wird, gegen die Anwendung der Drittstaatenregelung im Einzelfall Einwendungen zu erheben, bleiben nach summarischer Prüfung Zweifel an der Vereinbarkeit der Einstufung Serbiens als sicherer Drittstaat mit den unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere mit den durch Art. 27 ff. RL 2005/85/EG – Asylverfahrensrichtlinie a. F. i. V. m. Art. 52 Abs. 1 RL 2013/32/EU – Asylverfahrensrichtlinie n. F. aufgestellten verfahrensrechtlichen und materiellen Kriterien.
Rechtliche Bedenken bestehen darüber hinaus auch im Hinblick auf die gesetzlichen Regelungen und den Vollzug der Inhaftierung von Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden in Ungarn, einschließlich Familien, Kindern, besonders Schutzbedürftigen sowie Dublin-Rückkehrern wie dem hiesigen Antragsteller. Der Europäische Kommissar für Menschenrechte (a. a. O.) führt insoweit aus, dass für Dublin-Rückkehrer ein erhebliches Risiko der Inhaftierung in Ungarn bestehe. Auch der UNHCR, dessen Stellungnahmen im Asylverfahren anerkanntermaßen besonderes Gewicht zukommt, hat in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2015 zu den geplanten gesetzlichen Neuregelungen in Ungarn ausgeführt, man sei „tief besorgt“ im Hinblick auf die anstehenden gesetzlichen Änderungen und befürchte, dass es die neuen Regelungen für Flüchtlinge unmöglich machten, in Ungarn Sicherheit zu erhalten (http.//www.unhcr.org./559641846.html, Abruf 23.6.2016). Ob die Ausführungen des Auswärtigen Amtes zur Asylhaft (Beantwortung der Frage 4) in seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 27. Januar 2016 zu einer anderen Beurteilung führen, muss im Hinblick auf die erforderliche Prüfung, inwieweit die einschlägigen ungarischen Regelungen und deren praktische Anwendung mit den unionsrechtlichen Bestimmungen, insbesondere Art. 8 ff. der Richtlinie 2013/33/EU – Aufnahmerichtlinie – übereinstimmen, der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten bleiben.
Nach alledem bedarf es daher nach Einschätzung des Gerichts der eingehenden Prüfung im Hauptsacheverfahren, ob die neuen gesetzlichen Regelungen im ungarischen Asylrecht europäischem und sonstigem internationalen Recht genügen oder ob sie geeignet sind, systemische Mängel des Asylverfahrens in Ungarn zu begründen. Zu dieser Frage hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Würzburg im Verfahren W 1 K 14.30290 mit Beweisbeschluss vom 4. August 2015 Auskünfte des Auswärtigen Amtes, des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sowie Pro Asyl eingeholt. Eine Beantwortung steht noch aus, die zu erwartenden Erkenntnisse werden jedoch auch der Entscheidung im Hauptsacheverfahren des Antragstellers zugrunde zu legen sein.
c) Im Rahmen der sonach vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt angesichts der inmitten stehenden, hochrangigen Rechtsgüter, die zulasten des Antragstellers im Falle seiner Abschiebung nach Ungarn berührt wären, schon im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 47 GR-Charta sein Aussetzungsinteresse derzeit gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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