Europarecht

Anspruch, Leistungserbringung, Ermessen, Berufung, Vertrauensschutz, Gesellschaft, Zahlung, Verbraucher, Verfahren, Sozialstaatsprinzip, Nebenforderung, Verbreitung, Beseitigung, Unternehmen, Bundesrepublik Deutschland, billigem Ermessen, Fortbildung des Rechts

Aktenzeichen  154 C 6021/20

Datum:
29.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 44976
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird als derzeit unbegründet abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 205,80 € festgesetzt.

Gründe

Gemäß § 495a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.
I. Die zulässige Klage ist derzeit unbegründet.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch aus abgetretenem Recht gegen die Beklagte auf Zahlung in Höhe von 205,80 €.
Der Anspruch auf Rückzahlung des Entgelts für eine Veranstaltung am 31.03.2020 ist zwar entstanden, derzeit jedoch nicht durchsetzbar.
a. Nach Rücktritt vom Vertrag wegen Unmöglichkeit gemäß § 275 Abs. 1 BGB stand der Zedentin zunächst ein Anspruch auf Rückzahlung des gezahlten Preises gemäß §§ 326 Abs. 5, 346 Abs. 1 BGB zu.
b. Gemäß Art. 240 § 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB ist die Beklagte jedoch derzeit berechtigt, der Zedentin einen Gutschein zu übergeben und die Auszahlung des Geldbetrages zu verweigern.
aa. Der Anwendungsbereich des Art. 240 § 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB ist eröffnet.
Bei der gebuchten Veranstaltung handelt es sich unstreitig um eine sonstige Freizeitveranstaltung. Die Nutzungsberechtigung wurde vor dem 08.03.2020, nämlich am 31.12.2019, erworben. Und die Veranstaltung konnte aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht stattfinden.
bb. Art. 240 § 5 EGBGB ist nicht verfassungswidrig.
(1) Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip ist nicht verletzt. Art. 240 § 5 EGBGB entfaltet keine unzulässige Rückwirkung.
(a) Ein uneingeschränktes Verbot rückwirkender Gesetze besteht gemäß Art. 103 Abs. 2 GG nur für strafrechtliche Vorschriften. Diese enthalten einen erheblichen Eingriff des Staates in die Freiheit des Einzelnen. Ein Rückwirkungsverbot gilt über das Rechtsstaatsprinzip auch für andere Gesetze, da das Vertrauen des Einzelnen in die Rechtssicherheit zu schützen ist. Der Vertrauensschutz muss jedoch zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung der Normen erfordern (BVerfGE 13, 261).
(b) Solche überragenden Belange des Gemeinwohls liegen hier vor.
Eine solche Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Gemeinwohl kann nur in seltensten Ausnahmefällen zulasten des Vertrauensschutzes ausfallen. Durch die Verbreitung des Coronavirus und der damit einhergehenden umfassenden Kontaktverbote, Geschäftsschließungen und Veranstaltungsverbote ist die größte Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entstanden, die sicherlich auch noch geraume Zeit andauern wird. Es liegt eine extreme Ausnahmesituation vor, die es so bislang noch nicht gegeben hat.
Die höchste Priorität galt und gilt zunächst dem Gesundheits- und Lebensschutz. Es ging und geht darum, die Ausbreitung des Virus zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Mit den ergriffenen Maßnahmen wird dieser Schutz verfolgt. Die Folge der Einschränkungen für Unternehmen aller Wirtschaftszweige sind jedoch erhebliche finanzielle Einbußen. Dabei steht außer Frage, dass die negativen wirtschaftlichen Folgen ungleich auf verschiedene Personen und Unternehmen verteilt sind. Manche Branchen, wie Anbieter von IT-Dienstleistungen, Hardware und Software, haben sogar profitiert. Manche Branchen, die nicht systemrelevante Dienstleistungen anbieten, wie die Kultur- und Reiseveranstalter, haben derzeit keine oder sehr geringe Einkünfte, sind aber gleichzeitig einer hohen Anzahl an Rückzahlungsansprüchen ausgesetzt.
Der Ursprung dieser Ungleichheit liegt in der Covid-19-Pandemie begründet, einer höheren Gewalt, die keine Person und kein Unternehmen zu verantworten hat. Das Ziel, die Folgen dieser höheren Gewalt auf „möglichst vielen Schultern“ zu verteilen, anstatt Einzelne diese Belastung alleine tragen zu lassen, stellt einen legitimen Zweck des Gemeinwohls dar. Dieser Gedanke ist auch im Sozialstaatsprinzip enthalten und stellt einen Grundpfeiler unseres Staates und unserer Gesellschaft dar.
Ziel der Einführung des Art. 240 § 5 EGBGB ist zunächst der zumindest vorläufige Schutz der Unternehmen vor einer Insolvenz. Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass die Verhinderung oder Verzögerung von Insolvenzen nicht nur die betroffenen Unternehmen schützen soll, sondern die Gesamtwirtschaft Deutschlands. Mit verhinderten oder verzögerten Insolvenzen können auch Entlassungen von Arbeitnehmern verhindert oder verzögert werden. Selbst wenn mit der Einführung des Art. 240 § 5 EGBGB (und den parallel dazu erfolgten übergangsweisen Änderungen im Insolvenzrecht) nicht alle Insolvenzen in der Veranstaltungsbranche verhindert werden können, werden nach Ansicht des Gerichts jedenfalls manche, die auf kurzfristige Liquiditätsengpässe zurückzuführen sind, verhindert werden können (anders: Pape in „Außerkraftsetzung des Insolvenzrechts auf Zeit, Allheilmittel zur Überwindung der Folgen der COVID-19-Pandemie oder Verlängerung der Krise auf unbestimmte Dauer?“, NZI 2020, 393). Auch die reine Verzögerung von Insolvenzen und die damit einhergehende vorläufige Sicherung von Arbeitsplätzen stellt einen Wert an sich dar.
(c) Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nicht in Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat eingegriffen wird, sondern „nur“ in ein Gesetz, das das Verhältnis der Bürger untereinander regelt.
Die Normen des BGB enthalten keinen absoluten Vertrauensschutz. Bereits jetzt sind im Gesetz Ausnahmen vorgesehen für den Fall, dass aufgrund unvorhersehbarer Gründe, die nicht in den Verantwortungsbereich nur einer Partei fallen, ein Festhalten am Vertrag unzumutbar wird, vgl. §§ 313, 314 BGB. Ein unbedingtes Vertrauen des Bürgers, dass sich seine Rechtsposition gegenüber einem Dritten nicht bei Fällen von höherer Gewalt ändern kann, besteht gerade nicht.
(2) Der Eingriff in Art. 14 GG ist gerechtfertigt.
(a) Ein Eingriff in die Eigentumsfreiheit liegt vor. Denn auch die rechtliche Zuordnung vermögenswerter Rechtspositionen sind vom Eigentumsschutz umfasst. Hierzu zählt auch das Recht auf Rückzahlung nach berechtigter Ausübung des Rücktrittsrechts.
(b) Der Eingriff ist jedoch gerechtfertigt. Es liegt ein legitimes Ziel vor, und die Maßnahme ist geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne.
(aa) Ein legitimes Ziel wird durch Art. 240 § 5 EGBGB verfolgt.
Insolvenzen von Veranstaltern sollen verhindert oder wenigstens verzögert werden. Die negativen Folgen der Pandemie sollen auf möglichst Viele verteilt werden (s.o. unter Ziffer I.1.b.bb.(b)).
(bb) Die zeitweise Stundung der Rückforderungsansprüche ist auch ein geeignetes Mittel für den verfolgten Zweck.
Die Wahrscheinlichkeit wird erhöht, dass Insolvenzen verhindert oder verzögert werden, wenn ihnen ein Teil der gegen sie bestehenden Forderungen gestundet wird. Diesbezüglich besteht für den Gesetzgeber zudem eine Einschätzungsprärogative (so auch Eibenstein in „Verfassungswidrigkeit der „Gutscheinlösung“ im Veranstaltungsrecht“, COVuR 2020, 249).
(cc) Die Maßnahme des Art. 240 § 5 EGBGB ist auch erforderlich, um Insolvenzen in der Veranstaltungsbranche zu verzögern und zu verhindern.
Die Kombination von gegenwärtigen und zukünftigen Einnahmeausfällen sowie Rückforderungsansprüchen für ausgefallene Veranstaltungen trifft die entsprechenden Unternehmen so hart, dass eine Maßnahme des Gesetzgebers alleine die finanziellen Ausfälle nicht auffangen kann. Nur das beschlossene „Paket“ von Maßnahmen, bestehend aus unmittelbaren Finanzhilfen, „Gutscheinlösung“ und vorübergehenden Insolvenzrechtsänderungen, kann sofortige Insolvenzen auch tatsächlich verhindern (anders: Eibenstein, a.a.O.). Eine Beschränkung darauf, dass der Staat nur durch Finanzhilfen eingreift, wie von Eibenstein vertreten, würde den Staatshaushalt noch weiter belasten. Noch höhere Verschuldung und Steuererhöhungen wären die Folge.
(dd) Nach Auffassung des Gerichts ist auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gewahrt.
Die Forderungen, die die streitgegenständliche Vorschrift einschränkt, sind nach Ansicht des Gerichts weniger schutzwürdig als andere vom Eigentumsrecht umfasste Rechte.
Dem Rückerstattungsanspruch wegen der abgesagten Veranstaltung geht eine Leistung für eine Kultur- oder Sportveranstaltung voraus. Das heißt, der Kunde, der ein Ticket kauft, hat für sein Geld den Anspruch auf Teilnahme an der Veranstaltung erworben. Dabei handelt es sich jedoch um kulturellen Genuss, nicht hingegen um eine für das Leben existenzielle Anschaffung oder eine systemrelevante Leistung. Auch wenn Kultur ein wichtiges Gut für die Gesellschaft ist, so ist sie im Rahmen einer Rangordnung der zum Leben wichtigsten Güter nicht ganz oben anzusiedeln.
Hinzu kommt, dass der Kauf eines Tickets für eine kulturelle Veranstaltung eher von finanziell leistungsstarken Personen vorgenommen wird, gerade aus den soeben genannten Gründen. Der mit der Regelung des Art. 240 § 5 EGBGB betroffene Verbraucher ist in diesem Sinne kein finanziell schwacher Verbraucher, der hier besonders geschützt werden müsste. Für den Fall, dass doch im Einzelfall ein finanziell schwacher Kunde betroffen ist, sieht Art. 240 § 5 Abs. 5 Nr. 1 EGBGB eine Härtefallklausel vor.
Die Höhe der Rückforderungsansprüche ist im Regelfall auch nicht so hoch, dass es zu existenziellen Verlusten bei den Ticketinhabern kommt. Zumal diese die Vermögensdisposition, ihr Geld für eine nicht greifbare ideelle Leistung auszugeben, bereits getroffen haben. Der Verbraucher hat den Geldbetrag bereits nicht mehr in seine zukünftige Finanzplanung mit einbezogen. Bei Ausnahmefällen greift wiederum die Härtefallklausel.
Nicht zuletzt erkennt die streitgegenständliche Regelung dem Verbraucher sein Rückforderungsrecht nicht vollständig ab, sondern sieht nur eine unentgeltliche Stundung bis 31.12.2021 vor. Der Zinsverlust, der hierdurch entsteht, ist betragsmäßig überschaubar.
Soweit gegen die Norm vorgebracht wird, der Kunde habe das Insolvenzrisiko des Veranstalters zu tragen, so greift dieser Einwand nicht. Denn das Insolvenzrisiko bestand bereits zum Zeitpunkt der ausgefallenen Veranstaltung und bei Inkrafttreten der Norm. Die gesetzliche Gutscheinregelung soll ja gerade das Insolvenzrisiko verringern und den Veranstaltern Zeit geben, eine Insolvenz noch abzuwenden. Ohne diese Lösung ist eine Insolvenz des Veranstalters viel schneller viel wahrscheinlicher. Und selbst die „schnellen“ Kunden, die sofort im Klagewege ihr Recht auf Rückzahlung durchsetzen, müssten sodann im Rahmen der Insolvenzanfechtung die zunächst erstrittenen Auszahlungen zurück zahlen. In der Konsequenz führt die Stundung, die alle Kunden gleich lange trifft, im Falle einer Insolvenz des Veranstalters zusätzlich zu höherer Gläubigergerechtigkeit. Dies entspricht wiederum dem Gedanken, dass die wirtschafltiche Last der Coronakrise auf möglichst viele Schultern zu verteilen ist.
cc. Art. 240 § 5 EGBGB verstößt auch nicht gegen Art. 3 Abs. 5 Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie.
Das Recht zur Vertragsauflösung, wenn der Vertragspartner seine Pflichten nicht erfüllen kann, wurde nicht abbedungen, sondern nur gesetzlich gestundet.
dd. Ein Ausnahmetatbestand des Art. 240 § 5 Abs. 5 EGBGB liegt nicht vor.
Der Kläger hat nichts dazu vorgetragen, dass der Verweis auf einen Gutschein angesichts der persönlichen Lebensumstände der Zedentin oder des Klägers unzumutbar sei.
ee. Bis zum 31.12.2021 besteht gemäß Art. 240 § 5 Abs. 5 Nr. 2 EGBGB kein Anspruch auf Auszahlung des Wertes.
Es besteht lediglich ein Anspruch auf einen Gutschein, der den Vorgaben des Art. 140 § 5 Abs. 3, Abs. 4 EGBGB entspricht. Ob der nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung mit Schriftsatz vom 09.09.2020 vorgelegte Gutschein diesen Vorgaben entspricht, war nicht zu entscheiden, da ein Anspruch auf Auszahlung jedenfalls nicht besteht, unabhängig davon, ob ein gültiger Gutschein übergeben wurde oder nicht.
2. Mangels Anspruchs auf die Hauptforderung besteht auch kein Anspruch auf die Nebenforderung.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 11, 711 S. 1, S. 2, 709 S. 2 ZPO. § 713 ZPO ist trotz des geringen Streitwerts nicht anzuwenden, da die Berufung zugelassen wird.
IV. Die Zulassung der Berufung erfolgte gemäß § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO.
Die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Berufungsgerichts. Der Entscheidung zugrunde liegt eine erst am 20.05.2020 in Kraft getretene Rechtsnorm. Über die Verfassungsgemäßheit dieser Norm besteht im Schrifttum Uneinigkeit. Eine obergerichtliche Entscheidung ist zu Art. 240 § 5 EGBGB, soweit für das Gericht ersichtlich, bislang noch nicht ergangen.


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