Europarecht

Aufenthalt im Kirchenasyl als rechtsmissbräuchliches Verhalten

Aktenzeichen  L 19 AY 38/18

Datum:
28.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 12876
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AsylbLG idF 20.10.2015 § 1 Nr. 5
AsylbLG idF 31.07.2016 § 2 Abs. 1
AsylbLG idF 11.03.2016 § 3
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG liegt nicht erst dann vor, wenn das Verhalten als unentschuldbar anzusehen ist (entgegen BSG Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R). (Rn. 49)
2. Genügend ist ein gesetzeswidriges, vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten, soweit dieses die Dauer des Aufenthalts beeinflusst. Es ist (hier) vorwerfbar, dass sich die Leistungsberechtigte der Überstellung bzw. der Abschiebung durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyl entzogen hat. (Rn. 50)
3. Hinsichtlich der Rechtsmissbräuchlichkeit kommt es weder auf die Zurückhaltung der staatlichen Behörden, die Überstellung bzw. Abschiebung der sich im Kirchenasyl aufhaltenden Leistungsberechtigten zwangsweise zu vollziehen, noch darauf an, ob das Verhalten der Kirchen, den von Abschiebung bedrohten Ausländern Kirchenasyl zur Verfügung zu stellen, mit den Werten der Gesellschaft vereinbar ist. (Rn. 56)
4. Notwendig ist ein kausaler Zusammenhang zwischen dem vorwerfbaren Verhalten des Leistungsberechtigten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes. Ausreichend hierfür ist eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise; ein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn ist nicht erforderlich (BSG Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R). (Rn. 61)

Verfahrensgang

S 4 AY 61/18 2018-11-07 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.11.2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG). Sie ist auch nach §§ 143, 144 SGG statthaft. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung, da sie zum maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Einlegung laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betraf (vgl. § 144 Abs. 1 2 SGG). Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren ihren ursprünglich zukunftsoffenen Klageantrag auf den Zeitraum 25.05.2018 bis 31.12.2018 beschränkt hat, erfolgte diese Beschränkung nicht willkürlich (siehe dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 144 Rn. 19). Vielmehr wurde die Beschränkung auf Anregung des Gerichts aus verfahrensökonomischen Zwecken und somit aus vernünftigem Grund vorgenommen.
Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 08.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.07.2018, mit dem die Beklagte die Bewilligung höherer Leistungen nach § 2 AsylbLG ab Antragstellung am 25.05.2018 für die Zukunft abgelehnt hat. Mit weiterem Bescheid vom 22.10.2018 hat die Beklagte der Klägerin für den Zeitraum 01.01.2018 bis 31.12.2018 Geldleistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von monatlich 320,14 € sowie Sachleistungen in Form der Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung bewilligt. Damit hat sie zugleich auch die Bewilligung darüberhinausgehender Leistungen nach § 2 AsylbLG abgelehnt. Demnach hat der Bescheid vom 22.10.2018 den angefochtenen Bescheid vom 08.06.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.07.2018 für den streitigen Zeitraum 25.05.2018 bis 31.12.2018 ersetzt (§ 96 SGG).
Der Klägerin standen im streitigen Zeitraum keine Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. den entsprechend anzuwenden Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu.
Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG idF bis 20.08.2019 ist abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Zuständig für die Leistungsgewährung ist die Beklagte nach §§ 12 Abs. 2 Nr. 2, 18 Asyldurchführungsverordnung, § 10a Abs. 1 AsylbLG.
Die Klägerin ist Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Nach Einreise am 24.07.2016 hat sie sich zum Antragsdatum 25.05.2018, dem Beginn des hier streitigen Zeitraums, mehr als 15 Monate durchgehend im Bundesgebiet aufgehalten. Die Wartezeit wird nicht durch den Zeitraum des Kirchenasyls unterbrochen oder nach dem dortigen Aufenthalt neu in Gang gesetzt (vgl. Oppermann/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG Rz 65). Die Klägerin war in der streitigen Zeit auch bedürftig (§ 7 AsylbLG, § 2 AsylbLG iVm § 19 SGB XII).
Allerdings hat die Klägerin die Dauer des Aufenthalts selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Dies ergibt sich daraus, dass die vollziehbar zur Ausreise verpflichtete Klägerin nicht ihrer Ausreisepflicht nachgekommen ist und sich der Rücküberstellung nach Italien durch den Gang in das Kirchenasyl entzogen hat.
Der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit findet im AsylbLG keine Erläuterung, deutet aber auf ein vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten hin. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Leistungsberechtigte soll von Analog-Leistungen ausgeschlossen sein, wenn diese Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre (Urteil vom 17.6.2008, B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 32 ff.). Ein solches unredliches Verhalten kann beispielsweise bei Verstößen gegen aufenthaltsrechtliche, asylverfahrensrechtliche oder sonstige Vorschriften gesehen werden, soweit diese Auswirkungen auf die Dauer des Aufenthalts haben.
Jedoch genügt nach der Entscheidung des BSG (a.a.O.) angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wögen für den Ausländer sowie über die Regelung des § 2 Abs. 3 AsylbLG für dessen minderjährige Kinder so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher führe nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar sei (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen; nur dann sei es gerechtfertigt, auch die minderjährigen Kinder mit den Folgen dieses Verhaltens zu belasten. Die Vernichtung des Passes oder die Angabe einer falschen Identität seien typische Fallgestaltungen eines Rechtsmissbrauchs (Hinweis auf BT-Drs. 15/420 121).
Allerdings ist den Anforderungen, die das BSG an ein rechtsmissbräuchliches Verhalten stellt, nicht in dieser Weite zu folgen. Es ist nicht mehr zu fordern, dass der Pflichtverletzung ein erhebliches Gewicht zukommen und ein gleichsam unentschuldbares Verhalten vorliegen müsse. Dies ergibt sich aus den gesetzgeberischen Änderungen, die das AsylbLG zeitlich nach der Entscheidung des BSG erfahren hat. Diese betrafen infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) insbesondere die Höhe der nach § 3 AsylbLG zustehenden Grundleistungen. Infolgedessen hat sich die Differenz zwischen der Leistungshöhe der Grundleistungen und der der Analog-Leistungen deutlich verringert. Auch die Regelung des § 2 Abs. 3 AsylbLG wurde dahingehend geändert, dass die Zurechnung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Eltern weitestgehend vermieden wird. Nach § 2 Abs. 3 AsylbLG idF bis 28.02.2015 wurden Mitglieder einer Familie leistungsrechtlich insoweit gleichbehandelt, als Minderjährige keine höheren Leistungen erhalten sollten als ihre Eltern. Die Minderjährigen konnten die höheren Analog-Leistungen nur dann beanspruchen, wenn mindestens ein Elternteil ebenfalls Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG bezog. Die Ersetzung des Wortes „nur“ durch die Worte „auch dann“ in der ab dem 01.03.2015 geltenden Fassung des § 2 Abs. 3 AsylbLG hatte zum Ziel, dass minderjährige Kinder schon dann Analog-Leistungen erhalten, wenn ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft diese Leistungen bekommt, ohne dass das Kind selbst die Wartezeit von 15 Monaten Aufenthalt erfüllen muss. Mit der Änderung wurde des Weiteren der Zweck verfolgt, dass minderjährige Kinder, die mit Leistungsberechtigten in Haushaltsgemeinschaft leben, die von der Ausschlussregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG betroffen sind und daher lediglich Grundleistungen beziehen, auch dann Anspruch auf privilegierte Leistungen haben, wenn sie die Anspruchsvoraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG in eigener Person erfüllen (BT-Drs. 18/2592 20).
Demnach liegt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten nicht erst dann vor, wenn es als unentschuldbar anzusehen ist. Genügend ist ein gesetzeswidriges, vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten, soweit dieses die Dauer des Aufenthalts beeinflusst.
In diesem Sinne hat die Klägerin ihre Aufenthaltsdauer selbst beeinflusst, in dem sie ihren ausländerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Infolge ihres Asylantrags war ihr gem. § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet. Mit Bescheid vom 04.01.2017 lehnte das BAMF den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, und ordnete die Abschiebung der Klägerin nach Italien gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG an. Die gegen den Bescheid beim VG D-Stadt erhobene Klage entfaltete keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 75 AsylG). Der zugleich gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ließ die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung unberührt (§ 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG).
Mit Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017, mit dem das BAMF u.a. die Abschiebung der Klägerin nach Italien auf Grundlage des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG angeordnet hat, ist die Aufenthaltsgestattung der Klägerin erloschen (§ 67 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Die Klägerin war nicht im Besitz eines anderweitigen Aufenthaltstitels. Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet stellte sich somit mit Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017 als rechtswidrig dar. Mit Ablauf der Überstellungsfrist nach Italien am 07.09.2017, sechs Monate nach der Rücknahme des Eilantrags beim VG D-Stadt, ging die Zuständigkeit für den Asylantrag der Klägerin auf Deutschland über (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO). Infolgedessen hat das BAMF den nunmehr rechtswidrig gewordenen Bescheid vom 04.01.2017 aufgehoben. Der Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet war wieder zur Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG gestattet (Aufenthaltsgestattung vom 22.09.2017).
Durch ihr Verbleiben in Deutschland nach Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017 hat die Klägerin die Dauer ihres Aufenthalts somit beeinflusst. Anhaltspunkte dafür, dass die Ausreisepflicht der Klägerin in dem gesamten Zeitraum ab Bekanntgabe des Bescheids vom 04.01.2017 nicht hätte vollzogen werden können, hat der Senat nicht. Auf die Auskunft der ZAB Oberfranken vom 15.08.2019 wird Bezug genommen. Jedenfalls mit der Rücknahme des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beim VG am 06.03.2017 war die Abschiebung der Klägerin nach Italien zulässig (§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Klägerin ist es ohne Bedeutung, dass sich die Klägerin vom 26.02.2017 bis zum 21.09.2017 im sog. Kirchenasyl der Gemeinde D-Stadt – Friedenskirche befunden hat. Denn die Gewährung von Kirchenasyl entfaltet keinerlei aufenthaltsrechtliche Wirkung. Sie begründet insbesondere keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG und lässt daher auch nicht die Strafbarkeit des illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entfallen (vgl. OLG München a.a.O.). Vielmehr bestimmt sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach den Bestimmungen des Ausländerrechts, insbesondere des AufenthG und des AsylG. Zur Entscheidung über die Gewährung eines Aufenthaltsrechts sind allein die zuständigen Ausländerbehörden befugt, deren Entscheidungen wiederum der Kontrolle durch die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegen.
Die Klägerin hat die Dauer ihres rechtswidrigen Aufenthalts auch rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Denn es ist ihr vorwerfbar, dass sie sich der Überstellung bzw. der Abschiebung nach Italien durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyls entzogen hat. Durch ihr Verhalten hat die Klägerin eine Rücküberstellung nach Italien und damit den Vollzug der europarechtlichen Regelungen zur nationalen Zuständigkeit für Asylverfahren vereitelt. Dabei hat sie die Möglichkeit zu Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung im gerichtlichen Eilverfahren nicht genutzt. Infolge ihres rechtswidrigen Verbleibens in Deutschland beruft sie sich nunmehr zur Erlangung höherer Leistungen im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG auf ihre bisherige Aufenthaltsdauer.
Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Ausländerbehörde während des Aufenthalts der Klägerin im Kirchenasyl keine Maßnahmen getroffen hat, die Klägerin nach Italien zu überstellen. Zwar war der ZAB Mittelfranken die Adresse der Klägerin bekannt und die ZAB war weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Allerdings hat die ZAB sich an der entsprechenden Durchsetzung gehindert gesehen und zwar allein aufgrund des Umstandes, dass die Tradition des Kirchenasyls von ihr respektiert wird. Diese Zurückhaltung führt aber nicht dazu, dass nunmehr das Verhalten der Klägerin als nicht rechtsmissbräuchlich iSd § 2 Abs. 1 AsylbLG anzusehen wäre. Denn hinsichtlich der Rechtsmissbräuchlichkeit kommt es weder auf die Zurückhaltung der staatlichen Behörden noch darauf an, ob das Verhalten der Kirchen, den von Abschiebung bedrohten Ausländern Kirchenasyl zur Verfügung zu stellen, mit den Werten der Gesellschaft vereinbar ist (so SG Regensburg a.a.O.; SG Lüneburg a.a.O.; Deibel ZfSH/SGB 2017,583,590; a.A. SG Stade a.a.O., SG Kassel Beschluss vom 11.09.2017, S 11 AY 4/17 ER). Vielmehr bestimmt § 2 Abs. 1 AsylbLG, dass das Verhalten des Leistungsberechtigten maßgebend ist, ob er durch sein Verhalten die Dauer seines Aufenthaltes selbst beeinflusst hat. Hierfür reicht es aus, dass der Leistungsberechtigte – wie die Klägerin – durch die Nichtausreise seinen ausländerrechtlichen Verpflichtungen vorwerfbar nicht nachgekommen ist.
Dass nach der Entscheidung des BSG vom 17.06.2008 (a.a.O.) allein das Verbleiben im Bundesgebiet nach Erteilen einer Duldung nach § 60a AufenthG – auch wenn diese die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts des Duldungsinhabers nicht beseitige – kein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstelle, ist vorliegend ohne Belang. Denn die Klägerin war nicht im Besitz einer förmlichen Duldung. Auch lagen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nicht vor. In der Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörden, nicht aktiv in das Kirchenasyl einzugreifen und die – jedenfalls ab dem 06.03.2017 mögliche – Abschiebung bzw. Überstellung der Klägerin nach Italien zwangsweise durchzusetzen, kann auch keine stillschweigende bzw. faktische Duldung gesehen werden. Denn das schlichte Nichthandeln einer Behörde ist kein Verwaltungsakt und somit auch kein begünstigender Verwaltungsakt, wie ihn eine Duldung darstellt (siehe dazu OLG München a.a.O.). Ob dies gegebenenfalls in Fällen, in denen das BAMF im Rahmen eines Kirchenasyls zur Prüfung des Vorliegens eines Härtefalls in eine erneute Einzelfallprüfung eintritt (s. dazu OLG München a.a.O., Verfahrensabsprache zwischen dem BAMF mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche zum Kirchenasyl vom 24.02.2015 über die nochmalige Überprüfung von besonderen Härtefällen im Dublin III -Verfahren), anders – jedenfalls für den Zeitraum bis zum Abschluss der Härtefallprüfung – zu sehen ist, kann dahingestellt bleiben. Denn vorliegend lag eine Zusage des BAMF, eine Härtefallprüfung durchzuführen, nicht vor. Der Senat ist bereits mangels Vorliegen eines Zugangsnachweises nicht davon überzeugt, dass das im Berufungsverfahren vorgelegte undatierte Dossier (Kopie des Schreibens der Friedenskirche auf das Schreiben des BAMF vom 10.03.2017) über die Klägerin zur Prüfung eines Härtefalls beim BAMF tatsächlich dort eingegangen ist. Unabhängig davon fehlt es jedenfalls an einer entsprechenden Zusage des BAMF, z.B. in Form eines Bestätigungsschreibens. Im Übrigen hat die für die der evang.-luth. Gemeinde D-Stadt – Friedenskirche zuständige Diakonin am 02.06.2017 mitgeteilt, dass die Klägerin jedenfalls bis Ende der Überstellungsfrist im Kirchenasyl verbleibe. Auch dies spricht dafür, dass vorliegend keine ergebnisoffene Härtefallprüfung durchgeführt wurde bzw. werden sollte, sondern in jedem Fall die Überstellung der Klägerin nach Italien verhindert werden sollte.
Nach Auffassung des Senats ist es für die Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens der Klägerin auch ohne Belang, ob der Klägerin eine Überstellung bzw. Abschiebung nach Italien zumutbar gewesen wäre. Die Frage der Zumutbarkeit ist nach Maßgabe der spezifischen ausländerrechtlichen Regelungen zu beurteilen und im Rahmen des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens zu prüfen. Ist danach eine Ausreisepflicht gegeben bzw. die Anordnung der Abschiebung rechtmäßig, ist dies der Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG zugrunde zu legen. Es ist dem Betroffenen möglich und zumutbar, eine für ihn ungünstige Entscheidung der Verwaltung im nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen. Insofern hat das VG D-Stadt in seinem Beschluss vom 29.09.2017 für den vorliegenden Sachverhalt zutreffend ausgeführt, dass sich die Klägerin nicht einer ergebnisoffenen gerichtlichen Prüfung ihres Falles habe stellen wollen, sondern sich ins Kirchenasyl begeben habe, um auf diese Weise eine Abschiebung nach Italien zu verhindern.
Im Übrigen konnte sich der Senat auch nicht davon überzeugen, dass im Zeitraum des Kirchenasyls Gründe vorlagen, die eine Abschiebung nach Italien als unzumutbar hätten erscheinen lassen. Nach damals gültiger Auskunftslage war nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei ihrer Rücküberstellung nach Italien eine menschenunwürdige oder erniedrigende Behandlung gedroht hätte (vgl. Beschluss des VG D-Stadt vom 29.09.2017). Soweit die Klägerin den Umstand, dass sie sich ins Kirchenasyl begeben habe, um eine Abschiebung nach Italien zu verhindern, damit begründet, dass sie in Italien nicht die notwendige medizinische Unterstützung für die Behandlung ihrer Erkrankung an Diabetes erhalten habe, ist der Senat hiervon nicht überzeugt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Entlassungsbericht des Klinikums F. vom 17.08.2016 zur Anamnese ausgeführt wird, die bei der Aufnahme beschwerdefreie Klägerin habe über keine Beschwerden berichtet; ein Diabetes mellitus sei bei ihr nicht bekannt. Die in der Kopie des Schreibens der Friedenskirche (ohne Datum) auf das Schreiben des BAMF vom 10.03.2017 bezeichneten schweren, offenen und lebensbedrohlichen Wunden haben auch keinen Eingang in den Entlassungsbericht des Klinikums F. vom 17.08.2016 (bei Aufnahme am 08.08.2016 zeitlich nahe an der Einreise der Klägerin am 24.07.2016) gefunden. Im Entlassungsbericht vom 31.08.2016 wird aber berichtet, dass beim Voraufenthalt unklare, wechselnde schmerzhafte knötchenförmige Hautveränderungen festgestellt worden seien.
Der Klägerin waren die Umstände, die ihr Verhalten als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen, bekannt. Sie wusste, dass sie zur Ausreise vollziehbar verpflichtet war, sie sich durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyl einer zulässigen Überstellung bzw. Abschiebung nach Italien entzieht und dadurch ihren rechtswidrigen Aufenthalt in Deutschland verlängert. Im Erörterungstermin vom 19.12.2019 hat die Klägerin auch angegeben, dass sie sich in der Erwartung in das Kirchenasyl begeben habe, nicht mehr nach Italien zurückkehren zu müssen. Sie handelte vorsätzlich.
Die Klägerin hat auch dadurch, dass sie ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen ist und sich der Rücküberstellung nach Italien durch den Gang in das Kirchenasyl entzogen hat, die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet verlängert. Mit Urteil vom 17.06.2008 hat das BSG (a.a.O.) zwar einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes gefordert. Allerdings – so das BSG – zeigten bereits der Gesetzeswortlaut („Beeinflussung“, nicht Verlängerung) und die Begründung des Gesetzesentwurfes, die unter anderem in ihrer beispielhaften Aufzählung die Vernichtung eines Passes nenne, dass eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes ausreiche, also kein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn erforderlich sei. Dies bedeute, dass jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten, das – typisierend – der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen könne, ausreichend sei, um die kausale Verbindung zu bejahen. Vorliegend ist von dieser kausalen Verknüpfung auszugehen, da generell-abstrakt betrachtet der Gang in das Kirchenasyl typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängert.
Dem steht nicht entgegen, dass eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise dann gemacht werden muss, wenn die Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (vgl. BSG Urteil vom 17.06.2008 a.a.O.). Während der Zeit des Kirchenasyls war – wie ausgeführt – die Klägerin zur Ausreise vollziehbar ausreisepflichtig. Allerdings hat sich die ZAB Mittelfranken aus Respekt vor dem Kirchenasyl an der entsprechenden Vollziehung der Ausreisepflicht gehindert gesehen. Jedoch ist dieses Hindernis an der Abschiebung nicht unabhängig von dem Verhalten der Klägerin eingetreten, sondern aufgrund ihrer Inanspruchnahme von Kirchenasyl. Es kommt auch nicht darauf an, ob oder inwieweit der Respekt vor dem Kirchenasyl der maßgebliche Grund war, die Ausreisepflicht der Klägerin nicht zu vollziehen. Denn ausreichend ist die typisierende Betrachtung des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer.
Im Ergebnis stehen der Klägerin keine Analog-Leistungen zu, so dass die Berufung als unbegründet zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zugelassen.


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