Europarecht

Behandlungskosten in Österreich – Sachleistungsanspruch nach Verlust des Status “Grenzgänger in Rente”

Aktenzeichen  L 4 KR 368/15

Datum:
9.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 27725
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
EG (VO) 883/2004 Art. 1 lit. f
EG (VO) 883/2004 Art. 11 Abs. 3
EG (VO) 883/2004 Art. 28 Abs. 2
EG (VO) 883/2004 Art. 5 b
SGB V § 13 Abs. 3
SGB V § 13 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Wechselt ein bisheriger „Grenzgänger in Rente“ seinen Wohnsitz in den früheren Beschäftigungsort, verliert er den Status als „Grenzgänger in Rente“.
2. Es besteht dann kein Sachleistungsanspruch im ehemaligen Wohnmitgliedstaat zu Lasten der deutschen Krankenkasse mehr.
3. Ein Anspruch ergibt sich bereits nach dem Wortlaut und der Rechtsfolge nicht aus Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004.
4. Eine entsprechende Anwendung des Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 kommt in dieser Fallgestaltung nicht in Betracht.
5. Auch ein Anspruch aus Art. 5 b VO (EG) 883/2004 scheidet aus.

Verfahrensgang

S 1 KR 260/14 2015-06-30 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 30. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.
Das Sozialgericht Landshut hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil zu Recht abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, weil der Kläger seit seinem Wohnsitzwechsel nach Deutschland den Status als „Grenzgänger in Rente“ verloren hat und demzufolge keinen Anspruch auf Sachleistungsaushilfe in Österreich bzw. auf Übernahme sämtlicher ambulanter und stationärer Behandlungskosten in Österreich hat. Damit scheidet auch ein eventueller Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 und 4 SGB V aus.
Der Kläger beruft sich für den geltend gemachten Sachleistungsaushilfeanspruch auf die Koordinierungsvorschriften der VO (EG) 883/2004. Da er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, ist deren Anwendungsbereich grundsätzlich eröffnet (Art. 2 Abs. 1 der Verordnung).
Art. 11 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 ordnet als allgemeine Regelung an, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates unterliegen.
Vorbehaltlich der Art. 12 bis 16 der Verordnung, die im vorliegenden Fall nicht einschlägig sind, unterliegen nicht erwerbstätige Personen, die – wie der Kläger – nicht unter Art. 11 Abs. 3 lit. a) bis d) der Verordnung fallen, unbeschadet anderslautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihnen Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates (Art. 11 Abs. 3 lit. e) VO (EG) 883/2004, sog. „Wohnlandprinzip“, vgl. Steinmeyer in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl., Art. 11 Rn 32 f.). Dies sind im Falle des Klägers seit dem Wohnsitzwechsel im Januar 2012 die deutschen Rechtsvorschriften.
Als Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit in Österreich zu Lasten der Beklagten kommt vor allem Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 in Betracht.
Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 hat folgenden Wortlaut:
„Ein Rentner, der in den letzten fünf Jahren vor dem Zeitpunkt des Anfalls einer Alters- oder Invalidenrente mindestens zwei Jahre als Grenzgänger eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, hat Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit in dem Mitgliedstaat, in dem er als Grenzgänger eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn dieser Mitgliedstaat und der Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat, sich dafür entschieden haben und beide im Anhang V aufgeführt sind.“
Nach Art. 1 lit. f) VO (EG) 883/2004 ist ein Grenzgänger eine Person, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnstaat eine Erwerbstätigkeit ausübt und die täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich in letzteren zurückkehrt. Der Kläger war unstreitig von 1974 bis zum 31.07.2010 Grenzgänger im eben definierten Sinne.
Als Grenzgänger hatte er bis zu seiner Berentung nach den Art. 17 und 18 VO (EG) 883/2004 Anspruch auf Sachleistungen nicht nur im Wohnstaat (Österreich), sondern auch im zuständigen Beschäftigungsstaat (Deutschland), Art. 11 Abs. 3 lit. a) VO (EG) 883/04. Er hatte also die Wahl, sich wegen einer Erkrankung entweder in Österreich oder in Deutschland behandeln zu lassen.
Art. 28 VO (EG) 883/2004 verlängert diese (privilegierte) Rechtsstellung eines Grenzgängers über das Ende der Beschäftigung hinaus:
Absatz 1 ermöglicht es Grenzgängern, die Rentner geworden sind, eine begonnene Behandlung im bisherigen Beschäftigungsstaat fortzusetzen. Es handelt sich um eine nur punktuelle Erweiterung des Leistungsanspruchs hinsichtlich Behandlungen, die im Zeitpunkt der Grenzgängertätigkeit begonnen wurden (Klein in: Hauck/Noftz/Eichenhofer, EU-Sozialrecht, Art. 28 VO (EG) 883/2004, Rn. 1).
Absatz 2 geht darüber hinaus und räumt Grenzgängern in Rente unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit ein, dauerhaft Leistungen im ehemaligen Beschäftigungsstaat in Anspruch zu nehmen, wenn ihr Wohnstaat und der ehemalige Beschäftigungsstaat in Anhang V der VO eingetragen sind. Deutschland und Österreich sind im Anhang V (neben Belgien, Frankreich, Luxemburg, Portugal und Spanien) aufgeführt.
Damit regelt Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 allerdings bereits nach seinem Wortlaut nicht das, was der Kläger begehrt. Denn die Vorschrift regelt den Sachleistungsanspruch eines Grenzgängers in Rente in dem Mitgliedstaat, in dem er als Grenzgänger eine Beschäftigung ausgeübt hat. Im vorliegenden Fall macht der Kläger aber einen Sachleistungsanspruch in dem Mitgliedstaat geltend, in dem er als Grenzgänger gewohnt hat. Einen solchen Anspruch beinhaltet Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nicht. Die Vorschrift ist somit schon von der Rechtsfolgenseite her im vorliegenden Fall nicht einschlägig.
Im Übrigen liegen auch die dort normierten Tatbestandsvoraussetzungen nicht vor. Entsprechend seinem Regelungsgegenstand (Sachleistungsanspruch in dem Mitgliedstaat, in dem als Grenzgänger eine Beschäftigung ausgeübt wurde) setzt Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 implizit voraus, dass der Mitgliedstaat, in dem der Grenzgänger beschäftigt war, ein anderer ist als der Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat. Im vorliegenden Fall ist aber der Mitgliedstaat, in dem der Kläger als Grenzgänger beschäftigt war – also Deutschland -, zugleich der Mitgliedstaat, in dem die Beklagte als zuständiger Träger sitzt, der für die Kosten für die im Wohnmitgliedstaat Deutschland zu gewährenden Sachleistungen aufzukommen hat.
Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 kann somit bereits nach seinem eindeutigen Wortlaut auf die beim Kläger bestehende Situation und den von ihm geltend gemachten Anspruch keine Anwendung finden. Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Vorschrift dem Kläger nur dann helfen würde, wenn er weiterhin seinen Wohnsitz in Österreich hätte. Dies ist seit dem 01.01.2012 aber nicht mehr der Fall.
Aus diesem Grund geht auch der Hinweis der Klägerseite auf Art. 28 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 ins Leere. Nach dieser Bestimmung gelten die Absätze 2 und 3 so lange, bis auf die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates aufgrund einer Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit Anwendung finden. Nachdem die Regelung des Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 – wie dargelegt – im Hinblick auf das Begehren des Klägers nicht einschlägig ist, weil die dort angeordnete Rechtsfolge nicht die ist, die vom Kläger gewünscht wird, ist die Frage ihrer Weitergeltung in diesem Zusammenhang ohne Belang.
Eine „entsprechende“ Anwendung des Art. 28 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 dahingehend, dass ein Grenzgänger in Rente nach einem Umzug in den ehemaligen Beschäftigungsstaat einen vollen Sachleistungsanspruch im ehemaligen Wohnmitgliedstaat hat, kommt nicht in Betracht. Eine rechtliche Grundlage hierfür ist nicht ersichtlich. Wie die Beklagte und der Spitzenverband der GKV zutreffend dargelegt haben, ist weder die Interessenlage vergleichbar noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass insoweit eine planwidrige Regelungslücke besteht. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des Spitzenverbandes der GKV vom 27.02.2018 wird Bezug genommen.
Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten verstößt dieses Ergebnis auch nicht gegen Art. 5 VO (EG) 883/2004. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut:
„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:
a) Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaates der Bezug von Leistungen der sozialen Sicherheit oder sonstiger Einkünfte bestimmte Rechtswirkungen, so sind die entsprechenden Rechtsvorschriften auch bei Bezug von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates gewährten gleichartigen Leistungen oder bei Bezug von in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Einkünften anwendbar.
b) Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären“.
Die Vorschrift wendet sich an den zuständigen Mitgliedstaat bzw. an dessen zuständigen Träger und betrifft die Anwendung des eigenen mitgliedstaatlichen Rechts. Der in Art. 5 der VO verankerte Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung erstreckt sich nicht auf das Kollisionsrecht und soll auch keine kollisionsrechtlichen Wirkungen entfalten. Seine Anwendung darf nicht dazu führen, dass kollisionsrechtliche Zuständigkeiten geändert werden (vgl. Erwägungsgrund Nr. 11; Schuler in: Fuchs, Europ. Sozialrecht, Art. 5 Rn. 4).
In Betracht kommt hier allenfalls Art. 5 b) VO (EG) 883/2004, der das Gleichstellungsgebot auf alle Sachverhalte und Ereignisse erstreckt, deren Erfüllung von Normen des inländischen Sozialrechts vorausgesetzt werden (Schuler, a.a.O., Rn 11). Im vorliegenden Fall steht jedoch nicht die Frage inmitten, ob die Tatbestandsvoraussetzungen einer deutschen Rechtsvorschrift gegeben sind und in diesem Rahmen ein Sachverhalt, der sich in Österreich zugetragen hat, zu berücksichtigen ist. Streitig ist vielmehr, ob der Kläger nach den kollisionsrechtlichen Bestimmungen als Grenzgänger in Rente anzusehen ist und Anspruch auf Sachleistungen in Österreich hat. Damit ist der Anwendungsbereich des Art. 5 b) VO (EG) 883/2004 nicht eröffnet.
Nochmals hervorzuheben ist, dass der Kläger durch den Wohnortwechsel keine Ansprüche verloren hat, die er aufgrund von nationalen Rechtsvorschriften erworben hat. Das Risiko bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit ist nach seinem Umzug nach Deutschland vollumfänglich durch die Leistungen der Beklagten abgedeckt. Damit hat er durch Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit keine Nachteile erlitten.
Soweit der Kläger durch den Wohnsitzwechsel das in Art. 28 Abs. 2 der VO (EG) 883/2004 geregelte Privileg eines „Grenzgängers in Rente“ verloren hat, weil er seither kein Grenzgänger in Rente mehr ist, ist darauf hinzuweisen, dass auch jeder Grenzgänger im Sinne von Art. 1 lit. f) VO (EG) 883/2004 die Rechtsstellung eines Grenzgängers zusammen mit den damit verbundenen Vorteilen verlieren kann, insbesondere dann, wenn er seine Erwerbstätigkeit fürderhin im Wohnstaat ausübt, mithin kein Grenzgänger in diesem Sinne mehr ist.
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.


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