Europarecht

Besondere Schutzwürdigkeit wegen konkreter Suizidgefährdung

Aktenzeichen  M 1 K 15.50695

Datum:
8.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2

 

Leitsatz

Soweit aus Arztberichten erhebliche psychische Beschwerden wie ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert nachvollzogen werden können, kann dies zur Annnahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit führen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Das Gericht kann durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm das Verfahren durch Beschluss der Kammer vom 8. Oktober 2015 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG). Die Entscheidung kann nach § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid ergehen. Die Beteiligten wurden hierzu angehört.
2. Die Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Rechtmäßigkeit der auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützten Abschiebungs-anordnung beurteilt sich hierbei nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (vgl. § 27a AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind derzeit nicht erfüllt.
2.1 Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Antragsteller in Italien einen Asylantrag gestellt hat und dieser Mitgliedstaat damit gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist. Auch ist gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO von der Stattgabe Italiens hinsichtlich des Wiederaufnahmegesuchs auszugehen, da hierauf innerhalb der maßgeblichen Zweiwochenfrist keine Reaktion erfolgte.
2.2 Angesichts des Gesundheitszustands des Klägers liegen Gründe dafür vor, gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO von einer Überstellung nach Italien abzusehen.
2.2.1 Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtscharta) entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 a. a. O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
2.2.2 Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller in Italien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris m. w. N.). Dabei begründet auch die Lage der Personen, die in Italien einen internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben, noch keine systemischen Mängel. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass Italien kein mit dem in der Bundesrepublik bestehenden Sozialleistungssystem vergleichbares landesweites Recht auf Fürsorgeleistungen kennt und hier nur im originären Kompetenzbereich der Regionen und Kommunen ein sehr unterschiedliches und in weiten Teilen von der jeweiligen Finanzkraft abhängiges Leistungsniveau besteht (VGH BW, U. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris). Der abweichenden Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte folgt das entscheidende Gericht nicht (ebenso VG Ansbach, U. v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316; VG Gelsenkirchen, B. v. 16.11.2015 – 7a L 2055/15.A; VG München, U. v. 3.11.2015 – M 12 K 15.50799).
2.2.3 Etwas anderes ergibt sich zugunsten des Klägers jedoch aus dem Verfahren Tarakhel ./. Schweiz, in dem am 4. November 2014 ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ergangen ist (Az. 29217/12). Der EGMR hat hier lediglich entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung einer Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammen bleiben darf. Das Urteil beinhaltet damit keine Aussage zu eventuellen systemischen Mängeln in Italien, sondern lediglich eine Einschränkung für die Abschiebung von Familien nach Italien.
Aufgrund des Gesundheitszustands des Klägers ist von einer besonderen Schutzbedürftigkeit nach dieser Rechtsprechung auszugehen (vgl. auch VG München, B. v. 27.3.2015 – M 23 S 15.50071). Nach den vorgelegten, nachvollziehbaren Arztberichten leidet der Kläger unter erheblichen psychischen Beschwerden und befand sich wegen dieser Beschwerden während seines bisherigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland mehrfach in stationärer Behandlung. Das ergibt sich insbesondere aus dem ärztlichen Entlassungsbericht (Klinikum …, Dr. M. …) vom 11. Juni 2015, der ganz offensichtlich in Zusammenhang mit dem vom Kläger am 2. Juni 2015 unternommenen erneuten Suizidversuch und der darauf hin erfolgten stationären Aufnahme steht. Eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem Abschiebungshindernis führen (BayVGH, B. v. 8.2.2013 – 10 CE 12.2396 – juris Rn. 11 m. w. N.) Es bestehen zumindest hinreichend Anhaltspunkte dafür, dass bzgl. des Klägers ein – vom Bundesamt zu prüfendes (vgl. BayVGH, B. v. 12.03.2014 – 10 CE 14.427 – juris) – Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aufgrund seiner sich u. a. aus dem erwähnten ärztlichen Bericht ergebenden psychischen Erkrankung besteht. Das Bundesamt hat sich bisher mit dieser Erkrankung des Klägers nicht auseinander gesetzt und weder die Frage des Selbsteintritts aufgrund der Erkrankung noch die Frage eines Abschiebungshindernisses mangels Reisefähigkeit berücksichtigt.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b Abs. 1 AsylVfG. Die Regelung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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