Europarecht

Der Eintritt der Stattgabefiktion im Dublin-III-Verfahren hängt von einem fehlerfreien Übernahmeersuchen ab

Aktenzeichen  M 9 S 17.50027

Datum:
16.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
VO (EU) NR. 604/2013 Art. 23 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Das nach den Dublin III-VO ablaufende Verfahren hängt von einem korrekten Übernahmeersuchen ab und setzt dieses denknotwendig voraus; es ist zwingend erforderlich, dass der maßgebliche Sachverhalt in dem Wiederaufnahmeersuchen umfassend und zutreffend dargelegt wird, damit der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich in die Lage versetzt wird, die Einhaltung der Frist des Art. 23 Abs. 2 VO (EU) NR. 604/2013 in eigener Zuständigkeit zu überprüfen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Reagiert der um Übernahme ersuchte Mitgliedstaat auf ein fehlerhaftes Übernahmeersuchen nicht, so begründet auch der Eintritt der Stattgabefiktion keine Zuständigkeit des ersuchten Staates, da der Eintritt dieser Fiktion von einem fehlerfreien (Wieder-)Aufnahmegesuch abhängt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 5. Januar 2017, Az. M 9 K 17.50026, gegen Ziffer 3. des Bescheids vom 16. Dezember 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die laut eigener Aussage am 18. November 1991 geborene Antragstellerin (Bl. 5 d. Behördenakts – i.F.: BA -) reiste nach eigenen Angaben am 22. September 2016 von Italien kommend in das Bundesgebiet ein (Bl. 26f. d. BA). Sie beantragte am 4. Oktober 2016 Asyl (Bl. 5 d. BA). Die Antragstellerin ist laut eigener Aussage Staatsangehörige Nigerias (Bl. 5 d. BA).
Am 23. November 2016 wurde ein auf einen Eurodac Treffer Nr. „DE…“ gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Italien gerichtet (Bl. 58ff. des BA). Die italienischen Behörden haben bis dato nicht geantwortet.
Mit Bescheid vom 16. Dezember 2016 lehnte das Bundesamt für … (Bundesamt) den Antrag als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziff. 3) und befristete das Verbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4.).
Wegen des Bescheidinhalts wird auf diesen Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Die Bevollmächtigte der Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 5. Januar 2017, bei Gericht am selben Tag eingegangen, Klage gegen den Bescheid erhoben. Vorliegend beantragt sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen Ziff. 3. des Bescheids der Antragsgegnerin anzuordnen.
Die Antragstellerin beziehe sich auf ihre Anhörung. Im Übrigen werde ein Internet-Auszug über die Problematik der Abschiebung nach Italien vorgelegt. Danach könne nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass Italien in absehbarer Zeit noch weiter Flüchtlinge nach Dublin-III zurücknehmen werde.
Die Antragsgegnerin stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache sind nach jetzigem Stand in Bezug auf die für den vorläufigen Rechtsschutz allein relevante Abschiebungsanordnung offen. Das private Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung überwiegt hier das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit.
Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung nach Italien ist voraussichtlich rechtswidrig, weil nicht feststeht, dass die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegen (1.). Im hiesigen Antragsverfahren kann keine abschließende Klärung erfolgen, weil zu den relevanten (Folge-) Fragen derzeit ein Vorabentscheidungsersuchen beim Europäischen Gerichtshof anhängig ist (2.). Die wegen der offenen Erfolgsaussichten erforderliche Interessenabwägung im Übrigen geht zugunsten des Suspensivinteresses der Antragstellerin aus (3.).
1. Es ist nach summarischer Prüfung davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG hier nicht (mehr) vorliegen, da Italien im Zweifel nicht (mehr) für die Bearbeitung des Asylgesuchs zuständig ist. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat u.a. aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft, v.a. nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Aufgrund der Angaben der Antragstellerin (Bl. 26 d. BA) liegt zwar nahe, dass Italien entweder nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO oder nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO ursprünglich für die inhaltliche Bearbeitung des Asylgesuchs zuständig war.
Es ist aber davon auszugehen, dass die Zuständigkeit mittlerweile auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Nach Aktenlage wurde zwar wohl in der Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO – die förmliche Antragstellung als wahrscheinlicher Zeitpunkt der Eurodac-Treffermeldung datiert vom 4. Oktober 2016, die 2-Monats-Frist lief damit bis zum 4. Dezember 2016 – ein Wiederaufnahmegesuch an Italien gerichtet. Dieses Wiederaufnahmegesuch war aber fälschlicherweise auf einen Eurodac-Treffer Nr. „DE…“ gestützt und damit fehlerhaft. Als Beweismittel für die Annahme, ein anderer Mitgliedstaat sei für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständig, kommen in erster Linie Angaben aus dem Eurodac-System in Betracht, Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 und 2, Art. 22 Abs. 3 Dublin III-VO (vgl. auch VG Cottbus, B.v. 21.10.2016 – 1 L 397/16.A – juris). Ein deutscher Eurodac-Treffer aber kann von vorn herein keinen Beweis für eine Zuständigkeit Italiens erbringen, auf den sich ein entsprechendes Übernahmeersuchen – mit den daran anknüpfenden Folgen – stützen könnte.
Es wird darauf hingewiesen, dass die Behördenakte vorliegend keinen Nachweis darüber enthält, dass es überhaupt einen Eurodac-Treffer für Italien gibt. Nachfragen bei der Antragsgegnerin nach einem Nachweis für den angeblichen IT-Treffer blieben zunächst unbeantwortet; ein schließlich per Fax übermittelter Screenshot des Abfrageprogramms, der angeblich den IT-Treffer enthalte, aufgrund dessen Italien um die Übernahme ersucht werden sollte, war unleserlich. Auf eine Bitte um postalische Übermittlung eines leserlichen Exemplars erfolgte keine Reaktion.
Unabhängig davon bliebe es auch bei Nachreichen eines leserlichen IT-Treffernachweises dabei, dass sich das – fristgerecht, Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO, zu stellende – Wiederaufnahmegesuch auf eine fehlerhafte Beweismittellage, nämlich auf einen DE-Treffer stützte. Das nach den sog. sekundären Zuständigkeitsvorschriften, Kapitel VI. der Dublin III-VO ablaufende Verfahren aber hängt ersichtlich von einem korrekten Übernahmeersuchen ab und setzt dieses denknotwendig voraus, wie u.a. Art. 22 Abs. 3, Art. 23 Abs. 2, Abs. 4 Dublin III-VO zeigen; es ist zwingend erforderlich, dass der maßgebliche Sachverhalt in dem Wiederaufnahmeersuchen umfassend und zutreffend dargelegt wird, damit der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich in die Lage versetzt wird, die Einhaltung der Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO in eigener Zuständigkeit zu überprüfen (vgl. auch VG Köln, B.v. 16.8.2016 – 20 L 1609/16.A – juris). Dabei wird darauf hingewiesen, dass es vorliegend nicht nur um eine „Unvollständigkeit“ des Übernahmeersuchens geht, sondern darum, dass dieses gänzlich falsch ist, da das einzige darin benannte Beweismittel keinerlei Beweiswert für den Sachverhalt – nämlich: die angebliche Zuständigkeit Italiens – besitzt. Auch dass die italienischen Behörden auf das zugegangene fehlerhafte Übernahmeersuchen nicht reagierten, kann ungeachtet Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO nicht die Prüfungszuständigkeit Italiens begründen, da auch der Eintritt der Stattgabefiktion von einem fehlerfreien (Wieder-) Aufnahmegesuch abhängt. Die fehlende Reaktionsbereitschaft einzelner Mitgliedstaaten würde – unabhängig vom Wortlautargument und von Sinn und Zweck der Dublin-Regelungen – ansonsten dazu führen, dass z.B. auch erfundene bzw. ins Blaue hinein behauptete Eurodac-Treffer die Umverteilung eventuell nicht gewünschter Asylbewerber ermöglichten, solange der angerufene Mitgliedstaat nur nicht reagiert. Wollte man die Zuständigkeit Italiens – die nicht (mehr) gegeben ist – vorliegend annehmen, so wäre wegen des fehlerhaften Übernahmeersuchens jedenfalls davon auszugehen, dass nicht feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, § 34a Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da die italienischen Behörden die Übernahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ablehnen würden.
Für den Fall, dass tatsächlich ein IT-Treffer existiert, wäre mittlerweile die Frist aus Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO verstrichen, sodass kein (weiteres) fristgerechtes Übernahmeersuchen erfolgen könnte.
2. Die Frage(n) aber, ob ein Ersuchen wie das hiesige dennoch geeignet ist, die Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO zu wahren – quasi als reine Formalhandlung ungeachtet ihres Inhalts – oder aber gänzlich „unwirksam“ ist, und ob sich ein Antragsteller im Übrigen auf das Verstreichen der – ungenutzten, weil nicht mittels korrekten Übernahmeersuchens erfüllten – Frist berufen könnte, sind derzeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des VG Minden an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV (VG Minden, Vorlagebeschluss v. 22.12.2016 – 10 K 5476/16.A – juris). Letzterer hat in dieser Rechtssache, die mittlerweile kraft Beschlusses vom 15. Februar 2017 dem in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen beschleunigten Verfahren unterworfen ist (EuGH, B.v. 15.2.2017 – C-670/16 – BeckRS 2017, 102164), noch nicht entschieden. Insbesondere die Vorlagefragen 1 und 8 (a.a.O.) beschäftigen sich mit den auch hier streitentscheidenden Fragen.
3. Daher ist bis zur Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen offen, ob ein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin eingetreten ist. Vor diesem Hintergrund fällt die anzustellende Interessenabwägung zwischen dem Suspensivinteresse der Antragstellerin und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin zugunsten der Antragstellerin aus. Denn eine spätere Überstellung, sollte sich deren Rechtmäßigkeit ergeben, ist dann ohne weiteres und wesentlich einfacher möglich als eine Rückholung der Antragstellerin, sollte sie jetzt überstellt werden, sich aber anlässlich der Entscheidung des EuGH die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung herausstellen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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