Europarecht

Die Staatsanwaltschaft in Italien als aufstellende Behörde eines Europäischen Haftbefehls

Aktenzeichen  Ausl AR 16/20, Ausl AR 17/20

Datum:
27.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 12178
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
Rb-EuHb Art. 6 Abs. 1
IRG § 3, § 13, § 14, § 29, § 79 Abs. 2, § 81 Nr. 2,  § 83a
StPO § 116

 

Leitsatz

Gegen die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch eine italienische Staatsanwaltschaft zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bestehen im Hinblick auf die im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.05.2019 (EuGH, Urteil vom 27. Mai 2019 – C-508/18 und C-82/19 PPU) dargelegten Grundsätze zum Begriff der „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung keine Bedenken. (Rn. 13)

Tenor

1. Gegen den Verfolgten I wird die Auslieferungshaft zur Sicherung der Auslieferung nach It. zur Vollstreckung der mit Urteil des Gerichts M. vom 16.10.2013 verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten und einer Geldstrafe von 600,00 EUR und der mit Urteil des Gerichts Tr. vom 07.03.2015, abgeändert durch das Oberlandesgericht V. am 10.11.2014 (dabei handelt es sich wohl um ein Schreibversehen, da es zeitlich davor liegt), verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten und 400,00 EUR Geldstrafe, die mit Beschluss der Staatsanwaltschaft bei dem Gericht Mantua vom 15.01.2020 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zehn Monaten und einer Geldstrafe von 1.000,00 EUR zusammengefasst worden sind, angeordnet.
2. Die Auslieferung des Verfolgten nach It. zur Strafvollstreckung wegen der in Nr. 1 genannten Strafen ist zulässig.

Gründe

I.
Grundlage des Auslieferungsersuchens sind zwei Europäische Haftbefehle der Staatsanwaltschaft am Gericht M. jeweils vom 28.01.2020, Az.: 161/2016 RGNR. Danach liegt dem Verfolgten zur Last:
„1. Am 10.09.2006 in P. gemeinschaftlich mit einem anderen Mitangeklagten handelnd, um daraus für sich einen Vorteil zu ziehen, nachdem er durch Aufbrechen der Türen und Fenster in einen öffentlichen Betrieb in P. eingedrungen war, sich Bargeld angeeignet zu haben, in dem er es aus Videospielautomaten wegnahm, die aus dem Boden gerissen wurden. Unter dem erschwerenden Umstand, dass die Tat in Betrieben, in denen Speisen und Getränke abgegeben werden, und mit Gewalt gegen Sachen begangen wurde.
2. Am 06.09.2007 in M. d. L., um daraus für sich einen Vorteil zu ziehen, sich drei POS-Geräte zur Zahlung mit Kreditkarte und ATM-Karte angeeignet zu haben, indem er sie dem Personal des Supermarkts „Visotto“ in M. d. L. wegnahm. Unter dem erschwerenden Umstand, dass die Tat in der Nacht und mit Gewalt gegen Sachen begangen wurde, die darin bestand, dass das Schloss eines der seitlichen Fenster des Gebäudes des Supermarkts aufgebrochen wurde. Mit gleichartigem Rückfall innerhalb von 5 Jahren.“
Der Verfolgte wurde deswegen mit Urteil des Gerichts M. vom 16.10.2013, bestätigt durch das Oberlandesgericht Br. am 27.11.2014, Az.: 966/2013 R.SENT., Nr. 1773/2007 N.R., zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten und einer Geldstrafe von 600,00 EUR, und des Gerichts Tr. vom 07.03.2015, abgeändert durch das Oberlandesgericht V. am 10.11.2014 (dabei handelt es sich wohl um ein Schreibversehen, da es zeitlich davor liegt), Az.: 764/2008 R.SENT., Nr. 7823/2007 N.R., zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr vier Monaten und 400,00 EUR Geldstrafe, zusammengefasst zu zwei Jahren und zehn Monaten (und einer Geldstrafe von 1.000,00 EUR) verurteilt, die noch vollständig zu vollstrecken sind. Bei den Verhandlungen, die den Entscheidungen zu Grunde lagen, war der Verfolgte nicht persönlich erschienen, obwohl er hierzu persönlich vorgeladen und dabei von den vorgesehenen Terminen und Orten der Verhandlung sowie davon in Kenntnis gesetzt worden war, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn er nicht zu der Verhandlung erscheint.“
Bei seiner Anhörung bei dem Amtsgericht Nürnberg am 13.02.2020 hat sich der Verfolgte nicht mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt. Auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes hat er nicht verzichtet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hat mit Bescheid vom 14.02.2020 erklärt, dass nicht beabsichtigt ist Bewilligungshindernisse geltend zu machen und beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären und gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft anzuordnen.
II.
Für die Entscheidung über die Anordnung der Auslieferungshaft und die Zulässigkeit der Auslieferung ist das Oberlandesgericht Nürnberg sachlich und örtlich zuständig (§§ 13, 14 IRG).
1. Die Auslieferung des Verfolgten nach It. ist zulässig (§§ 29, 79 Abs. 2 IRG).
Die Auslieferung richtet sich nach dem Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten (Rb-EuHb) i.V. m. dem Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) nach Maßgabe des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vom 20.7.2006.
a. Die Europäischen Haftbefehle vom 28.01.2020 enthalten die gemäß § 83a IRG erforderlichen Angaben zur Identität des Verfolgten, zur ausstellenden Justizbehörde, zur Art und rechtlichen Würdigung der Straftaten, zur Beschreibung des Tatgeschehens und der verhängten Strafen. Danach ist eine Freiheitsstrafe von über vier Monaten (hier: zwei Jahre zehn Monate) zu vollstrecken, §§ 3, 81 Nr. 2 IRG. Dass die Auslieferung auch zur Vollstreckung einer neben den Freiheitsstrafen verhängten Geldstrafe erfolgt, wird durch § 3 Abs. 3 Satz 1 IRG nicht ausgeschlossen (Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage, § 3 Rn 62 IRG, Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Auflage, § 3 Rn 32 IRG).
Die geschilderten Sachverhalte wären auch nach deutschem Recht strafbar, §§ 3 Abs. 1, 81 Nr. 4 IRG. Die nach § 79 Abs. 2 S. 1 IRG getroffene Ermessensentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse im Sinne von § 83b IRG geltend zu machen, da insbesondere das schutzwürdige Interesse des Verfolgten an der Strafvollstreckung im Inland nicht überwiegt, ist nicht zu beanstanden (§ 79 Abs. 2 S. 3, 29 IRG). Die Verurteilung des Verfolgten in Abwesenheit stellt kein Auslieferungshindernis dar, da die Voraussetzungen des § 83 Abs. 2 Nr. 1 a) aa) und bb) IRG vorliegen.
b. Gegen die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls durch die italienische Staatsanwaltschaft bestehen im Hinblick auf die im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.05.2019 (EuGH, Urteil vom 27. Mai 2019 – C-508/18 und C-82/19 PPU -, juris) dargelegten Grundsätze zum Begriff der „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung keine Bedenken.
Danach muss zum einen die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr bieten, bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig zu handeln, wofür die ausstellende Justizbehörde bei ihrer Entscheidung nicht der Gefahr ausgesetzt sein darf, einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden. Der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Rb-EuHB ist somit dahin auszulegen, dass darunter nicht die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fällt, die der Gefahr ausgesetzt ist, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden. Zum anderen muss grundsätzlich die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls und insbesondere deren Verhältnismäßigkeit gerichtlich überprüfbar sein, wenn dafür eine Behörde zuständig ist, die an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist.
aa. Vorliegend besteht kein Anlass für Zweifel daran, dass die ausstellende Staatsanwaltschaft bei dem Gericht in Mantua die Gewähr bietet, bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls unabhängig gehandelt zu haben und dabei nicht der Gefahr ausgesetzt gewesen zu sein, einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden.
Die Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union (Eurojust) hat anlässlich des oben genannten Urteils des Europäischen Gerichtshofs einen Fragebogen zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften in den Mitgliedsstaaten entwickelt und die Ergebnisse der Befragung zusammengefasst (http://www.eurojust.europa.eu/doclibrary/Eurojust-framework/Casework/Questionnaire%20on%20the%20impact%20of%20the%20CJEU%20judgments%20on%20the%20EAW%20(June%202019)/2019-11_Questionnaire-on-impact-of-CJEU-judgments-on-EAW_EN.pdf).
Danach ist in It. für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe die Staatsanwaltschaft zuständig. Nach der italienischen Verfassung ist die Staatsanwaltschaft autonom (unabhängig) von der Exekutivgewalt und in die Justiz integriert. Die Verfassung schließt Staatsanwälte vom Einflussbereich der Exekutivgewalt aus und gewährleistet die Unabhängigkeit, die von einem Obersten Rat der Justiz, dessen Mitglieder gewählt werden, geschützt wird. Dieser ist zu zwei Dritteln mit Richtern besetzt und zuständig für Ernennungen, Beförderungen, Versetzungen und Disziplinarverfahren. Nach Artikel 104 der italienischen Verfassung ist die Justiz eine autonome und unabhängige Ordnung gegenüber jeder anderen Macht. Staatsanwälte sind in die richterliche Ordnung einbezogen und erhalten die gleichen Garantien wie Richter, die für Entscheidungen verantwortlich sind. Die berufliche Position ist vor jedem Eindringen der Exekutivgewalt geschützt.
Angesichts dieser Ausführungen bestehen keine Anhaltspunkte für das Nichtbestehen der fachlichen und persönlichen Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit der den Europäischen Haftbefehl ausstellenden Staatsanwälte.
bb. Auf das Bestehen einer Rechtsschutzmöglichkeit gegen den Erlass des Europäischen Haftbefehls kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Anders als in dem oben genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs liegt dem Europäischen Haftbefehl kein nationaler Haftbefehl zur Auslieferung zur Strafverfolgung, sondern ein rechtskräftiges Urteil zu Grunde, das vollstreckt werden soll. Für diesen Fall ist der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen, dass ein gesonderter Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, nicht vorzusehen ist (EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019 – C-627/19 PPU -, juris). Ein derartiger Haftbefehl geht auf ein vollstreckbares Urteil zurück, mit dem gegen den Betroffenen eine Freiheitsstrafe verhängt wurde. Die dem Betroffenen zugute kommende Unschuldsvermutung wurde in einem gerichtlichen Verfahren widerlegt, das den Anforderungen aus Art. 47 der Charta der Grundrechte genügt. In einer solchen Situation wird die gerichtliche Kontrolle, die der betroffenen Person wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz garantiert, durch das vollstreckbare Urteil verwirklicht. Die Verhältnismäßigkeit des Europäischen Haftbefehls ergibt sich aus der Verurteilung, die, wie aus Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervorgeht, in einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt, bestehen muss.
2. Die Voraussetzungen der Anordnung der Auslieferungshaft zum Zwecke der Strafvollstreckung sind gegeben, da ein Auslieferungsersuchen der italienischen Behörden vorliegt und eine Auslieferung nicht von vorne herein unzulässig erscheint, § 15 Abs. 1, 2 IRG. Es besteht die Gefahr, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen wird, § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG, falls er auf freien Fuß gesetzt wird. Es bestehen keine sozialen Bindungen des Verfolgten in Deutschland. Er ist zur Begehung von Straftaten nach Deutschland eingereist und verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe.
Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nach § 25 Abs. 2 IRG, § 116 StPO kommt bei dieser Sachlage nicht in Betracht.


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