Europarecht

Dublin-Verfahren (Ungarn)

Aktenzeichen  M 9 K 14.50743

Datum:
16.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 26a, § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2

 

Leitsatz

Weder die mögliche Anwendung von Asylhaft bei Rückkehr im Dublin-Verfahren noch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission noch die seit dem 01.08.2015 in Ungarn geltende Regelung, wonach Serbien als EU-Aufnahmekandidat zu den sicheren Drittstaaten zählt, begründen derzeit die ernsthafte Befürchtung, dass in Ungarn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber systemische Mängel aufweisen, die einen Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK begründen können. Nach dem ungarischen Gesetz über die Aufnahme Serbiens als sicheren Drittstaat kann diese gesetzliche Vermutung durch den Asylbewerber widerlegt werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Klägerseite auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hat und von der Beklagten eine allgemeine Verzichtserklärung vorliegt, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom … Dezember 2014 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Recht nach § 27a AsylG (damals § 27a AsylVfG) als unzulässig abgelehnt. Nach dieser Regelung ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies ist im vorliegenden Fall Ungarn; auf die Entscheidungen in den Eilverfahren wird diesbezüglich Bezug genommen.
Die Beklagte ist nicht verpflichtet, trotz der Zuständigkeit Ungarns den Asylantrag des Klägers selbst inhaltlich zu prüfen. Ein solches Selbsteintrittsrecht besteht nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U. v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a.) in Ausnahmefällen bei systemischen Mängeln im Aufnahmestaat. Danach ist Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU Grundrechtecharta) dahin auszulegen, dass ein Asylbewerber nicht an den nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedsstaat zu überstellen ist, wenn durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass in dem Mitgliedsstaat systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen bestehen und der Asylbewerber tatsächlich in Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Grundsätzlich nun der zurückschiebende Mitgliedstaat nationale Regelungen und Praktiken des anderen Mitgliedstaats nicht prüfen (Vertrauensgrundsatz, EuGH, U. v. 17.3.2016 – C-695/15 – PPU).
Auf der Grundlage des dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern in Ungarn ist für die Person des Klägers derzeit nicht auf Tatsachen gestützt ernstlich zu befürchten, dass in Ungarn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für den Asylbewerber systemische Mängel aufweisen, die einen Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 4 EU Grundrechtecharta bzw. Art. 3 Europäischen Menschenrechtskonvention begründen könnten. Aktuell zugrunde gelegt wurden insbesondere der Berichts des Hungarian Helsinki Committees zu den Änderungen des ungarischen Asylrechts vom 7. August 2015; Bericht des Hungarian Helsinki Committees zur Asylhaft und zu den Dublin-Verfahren in Ungarn, Stand Mai 2014; Stellungnahme des UNHCR vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf; Amnesty International Juli 2015: „Europe´s Borderlands – Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary“; Amnesty International zur Lage der Flüchtlinge in Ungarn, Oktober 2015: „Fenced out-Hungary´s violations of the rights of refugees and migrants“; UNHCR, 6. bis 12. November 2015, Europe`s refugees emercency respons update; Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Januar 2016 gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg. Die Stellungnahmen sind im Internet abrufbar.
Anders als in der zweiten Jahreshälfte 2015 kann zum Zeitpunkt der Entscheidung über dieses Klageverfahren nicht davon ausgegangen werden, dass Tatsachen vorliegen und bekannt sind, aufgrund derer von systemischen Mängeln in Ungarn auszugehen ist. Berichte über die Zustände in ungarischen Aufnahmelagern aus der zweiten Jahreshälfte 2015 sind nicht mehr aktuell und waren dem extremen Ansturm von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa geschuldet.
Die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und Ungarn auf dieser Grundlage Dublin-Rückkehrer inhaftiert, ist kein begründeter Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits mit Urteil vom 3. Juli 2014 im Ergebnis festgestellt, dass systemische Mängel hinsichtlich der Inhaftierungspraxis nicht vorliegen und dass ein tatsächliches Risiko einer schwerwiegenden Beeinträchtigung i. S. des Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr nach Ungarn nicht bestehe (EGMR, U. v. 3.7.2014 – 71932/12). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dies in neueren Entscheidungen bestätigt und sich maßgeblich darauf gestützt, dass auch der UNHCR sich bisher nicht generell gegen Rücküberstellungen nach Ungarn ausgesprochen habe (BayVGH, B. v. 12.6.2015 – 13A ZB 15.50097; B. v. 27.4.2015 – 14 ZB 13.30076). Diese Entscheidungen können für die heutigen Verhältnisse wieder herangezogen werden, da die Zahlen der Asylbewerber 2016 drastisch zurückgegangen sind.
Systemische Mängel folgen auch nicht aus dem Rechtsgutachten über ungarisches Asylrecht des Instituts für Ostrecht in München (Professor Dr. Küper, vom 02.10.2015, gegenüber dem VG Düsseldorf im Verfahren 22 K 3263/15.2). Aus diesem Gutachten ergibt sich im Wesentlichen, dass Ungarn Serbien als sicheren Drittstaat ansieht. Nachweise und tatsächliche Aussagen über mögliche Missstände im serbischen Asylsystem, aufgrund derer allein systemische Mängel als Folge der ungarischen Drittstaatenregelung begründet sein könnten, lassen sich diesem Gutachten gerade nicht entnehmen.
Nach diesem Gutachten zur Rechtslage ist auch der Umstand, dass in Ungarn seit dem 1. August 2015 ein geändertes Asylverfahrensgesetzt in Kraft getreten ist, das die Rechte von Asylsuchenden erneut einschränkt, ist nicht dazu geeignet, einen systemischen Mangel zu begründen. Die materiell-rechtliche Verschärfung des Asylrechts, wonach Asylanträge abgelehnt werden dürfen, wenn Asylsuchende über sichere Transitstaaten eingereist sind, ist eine einschränkende Bestimmung, die ebenso wenig wie die entsprechende Regelung des § 26a AsylG einen systemischen Mangel darstellt. Auch die Regelungen, wonach das Asylverfahren verkürzt und Asylanträge dann abgelehnt werden, wenn sich ein Asylbewerber unentschuldigt länger als 48 Stunden aus der ihm zugewiesenen Unterkunft entfernt, kann nicht als systemischer Mangel betrachtet werden. Die Verkürzung der Asylverfahren durch Einführung eines Schnellverfahrens und die rasche Abschiebung ist der Versuch, Einreise, Registrierung, Aufenthalt, Anerkennung und Abschiebung von Flüchtlingen zu regulieren und entspricht der humanitären Forderung, die Verfahren rasch durchzuführen. Es ist auch kein systemischer Mangel, wenn nur Asylanträge bearbeitet werden, wenn der Betreffende sich noch an dem ihm zur Verfügung gestellten und zugewiesenen Aufenthaltsort aufhält. Aus dem Rechtsgutachten vom 2. Oktober 2015, in dem im Wesentlichen nur das ungarische Asylrecht übersetzt und erläutert wird, folgt, dass die ungarische Rechtslage umfangreiche Regelungen über eine Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung, Rückschickungsverbote und Ausweisungen enthält und dass gegen die Entscheidung der Flüchtlingsbehörde sowie gegen die Ausweisung Rechtsmittel möglich sind. Danach findet das beschleunigte Verfahren statt, wenn u. a. ein Wiederholungsantrag gestellt wird, ohne das neue Umstände oder Tatsachen vorliegen (§ 51 Abs. 2 Buchstabe d) oder wenn ein sicherer Drittstatt existiert (§ 51 Abs. 2 Buchstabe e). Die Feststellung der Unzulässigkeit des Antrags wegen des Vorhandenseins eines sicheren Drittstaats darf nur erfolgen, wenn der Antragsteller in diesem Drittstaat auch die Möglichkeit gehabt hätte, Schutz zu beanspruchen (§ 51 Abs. 4 Buchstabe a und b). Eine Beweislastumkehr sieht § 51 Abs. 5 bei Vorliegen der Voraussetzungen des Abs. 4 vor. Sonstige Fälle eines beschleunigten Verfahrens regelt § 51 Abs. 7 u. a. für den Fall eines wiederholten Antrags der nicht unzulässig ist, bei illegaler Einreise oder bei Aufenthalten ohne das Stellen eines Asylantrags in vernünftiger Frist und u. a. bei der Weigerung, Fingerabdrücke abzugeben. Nach § 51 Abs. 11 hat der Betreffende eine Frist von 3 Tagen um zu erklären, warum in seinem individuellen Fall das angegebene Land kein sicheres Herkunfts- oder Drittland ist (vgl. Übersetzung S. 16 – 18 des Gutachtens). Dieser verfahrensrechtliche Ablauf bei Unzulässigkeit oder in einem Schnellverfahren lässt rechtlich keine systemischen Mängel erkennen. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass diese schnelle Durchführung den Zugang zum Asyl faktisch unmöglich machen könnte oder internationale menschen- und flüchtlingsrechtliche Standards dadurch verletzt werden könnten.
Die seit dem 1. August 2015 in Ungarn geltende Regelung, dass zu den sicheren Drittstaaten Serbien als EU-Aufnahmekandidat gehört, führt ebenfalls nicht zu einem systemischen Mangel in Ungarn. Nach dem Lagebericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zum Mitgliedsstaat Ungarn vom 13. Januar 2016 des Mitarbeiters des BAMF beim ungarischen Amt für Einbürgerung und Staatsbürgerschaft ist tatsächlich die Situation eher so, dass Serbien momentan die Übernahme von Drittstaatsangehörigen aus Ungarn ablehnt. Anhaltspunkte dafür, dass Serbien seinerseits Drittstaatsangehörige weiter zurückschiebt und so eine Rückschiebekette entsteht, sind von keiner Seite ernsthaft belegt oder auf der Grundlage einer hohen Wahrscheinlichkeit behauptet worden. Die aktuelle Stellungnahme des UNHCR vom Mai 2016 über den Zeitraum Juli 2015 bis März 2016 äußert lediglich Zweifel an der Leistungsfähigkeit Serbiens, da von 583 Asylanträgen nur 58 verbeschieden wurden; dies waren prozentual mehr als im Bundesgebiet. Im vorliegenden Fall ist nach der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Augsburg vom 27. Januar 2016 sowieso ausgeschlossen, dass der Kläger nach Serbien zurückgeschoben wird, da seit seinem Grenzübertritt von Serbien nach Ungarn mehr als ein Jahr vergangen ist. Nach der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes erfolgt nach Ablauf dieses Zeitraums eine Rückübernahme durch Serbien nicht mehr, so dass auch eine Rückschiebung durch ungarische Behörden ausgeschlossen ist. Auch der EuGH geht in seiner Entscheidung vom 17. März 2016 (C-695/15) davon aus, dass eine Rückführung nach Serbien durch ungarische Behörden unbedenklich möglich ist und offenbar nicht gegen den in Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention enthaltenen Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt.
Der Kläger selbst hat in seinen Äußerungen gegenüber dem Bundesamt und im Gerichtsverfahren keinerlei systemische Mängel im ungarischen Asylverfahren schlüssig vorgetragen. Die Behauptung, eine Abschiebung nach Ungarn verstoße gegen die Menschenrechtskonvention der UN, da seine psychische Verfassung sich deutlich dadurch verschlechtere, genügt in keinerlei Hinsicht.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 f. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben