Europarecht

Erfolglose Klage gegen Dublin-Bescheid (Finnland): Kirchenasyl

Aktenzeichen  B 3 K 17.50070

Datum:
8.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 142244
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 47 Abs. 1 lit. a S. 1
RL 2013/32/EU Art. 40

 

Leitsatz

1 Begibt sich der Asylbewerber in das sog. Kirchenasyl, so hat er sich damit zielgerichtet der staatlichen Verfolgung entzogen und ist damit flüchtig im Sinne der Dublin III-Verordnung. (Rn. 17 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es bestehen keine Anhaltspunkte für systemische Mängel des finnischen Asylsystems. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die Klage hat keinen Erfolg.
Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig, der Kläger wird durch diesen nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 VwGO. Das Gericht folgt der Begründung des Gerichtsbescheides, § 84 Abs. 4 VwGO:
1.1 Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides ist rechtmäßig, der Asylantrag des Klägers ist unzulässig, da die Beklagte nicht für die Entscheidung zuständig ist, § 29 Abs. 1 Nr. 1.a) AsylG. Eine materielle Prüfung findet damit nicht statt.
Finnland ist für die Entscheidung über den Asylantrag des Antragsstellers zuständig, sodass es grundsätzlich als einziger Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Asylantrag des Klägers prüfen muss, Art. 3 Abs. 1 Satz 2, 13 Abs. 1 Dublin III-VO. Der Kläger hat bereits in Finnland ein Asylverfahren durchlaufen, das nach eigenen Angaben seitens des finnischen Staates abschlägig beschieden wurde. Dass der finnische Staat im Rahmen der Regelungen der Dublin III-VO weiterhin für die Prüfung der Asyl(folge) anträge des Klägers zuständig bleibt, zeigt nicht zuletzt Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO.
Es fand kein Zuständigkeitswechsel auf die Beklagte statt:
1.1.1 Ein Zuständigkeitsübergang nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ist nicht gegeben.
Die Beklagte fragte am 11.10.2016 die Eurodac-Treffer des Klägers ab und erfuhr in der Anhörung am 17.11.2016 von dem Asylverfahren in Finnland. Der Kläger stellte am 17.11.2016 bei der Beklagten einen Asylantrag.
Die Beklagte stellte laut Aktenlage am 30.11.2016 ein Wiederaufnahmegesuch bei Finnland, das der zuständigen Stelle am selben Tag zuging. Damit wurde die Zwei-Monats-Frist (Ende: 11.12.2016) gewahrt und es trat kein Zuständigkeitswechsel nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein.
1.1.2 Auch hat kein Zuständigkeitswechsel nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO stattgefunden. Die Beklagte hat Finnland am 30.11.2016 um Wiederaufnahme ersucht. Hierauf erteilte dieses mit Schreiben vom 01.12.2016 seine Zustimmung. Die Überstellungsfrist endet demnach (frühestens) mit dem 01.06.2017.
Die Frist beginnt abweichend hiervon mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf zu laufen, wenn dieser gemäß § 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung aufschiebende Wirkung hat. Vorliegend wurde ein Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO (Az. B 3 S 17.50069) durchgeführt. Ein solches Eilverfahren stellt einen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-Verordnung dar (BVerwG, U. v. 26.5.2016 – 1 C 15.15). Der das Eilverfahren abschließende Beschluss wurde gemäß Postzustellungsurkunde am 08.03.2017 einem zum Empfang ermächtigten Vertreter übergeben und gilt damit gemäß §§ 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2, 47 Abs. 1a Satz 1 AsylG spätestens am 11.03.2017 zugestellt (Bergmann/Dienelt, AuslR, § 10 AsylG, Rn. 21). Die Frist endet demnach (frühestens) am 11.09.2017.
Da der Kläger ab 30.03.2017 offenes Kirchen-„Asyl“ in Anspruch genommen hat, verlängert sich die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung auf höchstens 18 Monate; diese Frist ist im Entscheidungszeitpunkt noch nicht abgelaufen und es ist im Zeitpunkt der Entscheidung nicht ersichtlich, dass sich der Kläger nicht mehr im Kirchenasyl befindet.
Der Kläger hat sich durch das Begeben in das Kirchen-„Asyl“ zielgerichtet der staatlichen Verfolgung entzogen und ist damit flüchtig im Sinne der Dublin III-Verordnung, zumal er durch sein Verhalten den erfolglosen Ablauf der Regelüberstellungsfrist bewusst herbeigeführt hat (vgl. VG Köln, GB. v. 09.10.2015, AZ.: 13 K 2489/15.A; VG Saarland, U. v. 06.03.2015, AZ.: 3 K 832/4; VG Regensburg, U. v. 20.02.2015, AZ.: RN 3 K 14.50364; VG Augsburg, GB. v. 08.10.2014, AZ.: Au 7 K 14.30121; VG Minden, U. v. 20.01.2014, AZ.: 10 K 1096/13.A; OVG Saarland, U. v. 13.09.2006, AZ.: 1 R 17/06; zu der vergleichbaren Problematik in § 1a Abs. 3 AsylbLG: BayLandessozialgericht, B. v. 11.11.2016, AZ.: L 8 AY 29/16 B ER; zur Widersprüchlichkeit des Verhaltens: VG Ansbach, B. v. 29.08.2017, Az. AN 14 E 17.50998).
Die Formulierung „flüchtig ist“ meint, dass sich der Ausländer zielgerichtet dem staatlichen Zugriff durch Änderung seines Aufenthaltsortes zu entziehen versucht – ob dieses Entziehen erfolgreich ist und aus welchen Gründen, spielt für die Einordnung keine Rolle, soweit das relevante räumliche Element des Wegbewegens vorliegt. Es geht damit um den aktiven Akt des Sich-Entziehens und nicht um den Erfolg desselben. Dieses Verständnis wird nicht zuletzt auch durch Art. 2 lit. n) Dublin III-Verordnung gestützt.
Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung stellt darauf ab, dass der Ausländer flüchtig ist. In der englischen Fassung findet sich die Formulierung: „[…] or up to a maximum of eighteen months if the person concerned absconds.“, in der französischen “[…] à dix-huit mois au maximum si la personne concernée prend la fuite.”
Art. 2 lit. n) Dublin III-Verordnung definiert die „Fluchtgefahr“ und stellt dabei darauf ab, dass sich der Ausländer dem Überstellungsverfahren durch Flucht entziehen könnte. Die englische Formulierung lautet: „[…] ‘risk of absconding’ means the existence of reasons in an individual case, which are based on objective criteria defined by law, to believe that an applicant or a third-country national or a stateless person who is subject to a transfer procedure may abscond.”, die französische: „[…]«risque de fuite», dans un cas individuel, l’existence de raisons, fondées sur des critères objectifs définis par la loi, de craindre la fuite d’un demandeur, un ressortissant de pays tiers ou un apatride qui fait l’objet d’une procédure de trans-fert.“
Dass es auf den aktiven Akt des sich Entziehens und nicht auf das Ergebnis des tatsächlichen Entzuges ankommt, wird aus folgenden Erwägungen deutlich:
Zwar ist der deutsche Formulierung „flüchtig ist“ nicht direkt zu entnehmen, ob es auf die Handlung des Sich-Entziehens oder den Erfolg des Entziehens ankommt. Unter Flucht ist jedoch gemäß der Definition im Duden „das Ausweichen aus einer als unangenehm empfundenen oder nicht zu bewältigenden [Lebens]situation“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Flucht_Ausbruch, Stand 07.06.2017), also die Handlung des Weichens und eben nicht der Erfolg, zu verstehen.
Deutlicher wird diese Unterscheidung in der französischen Fassung, die sowohl in Art. 29 Abs. 2 Satz 2, als auch in Art. 2 lit. n) Dublin III-Verordnung die Formulierung „prend la fuite“ auf Deutsch „die Flucht ergreifen“ oder „flüchten“ (https://de.langenscheidt.com/deutsch-franzoesisch/search?term=prendre+la+fuite; https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/franz %C3%B6sisch-deutsch/fuite; http://dict.leo.org/franz%C3%B6sisch-deutsch/fuite%20la%20 prendre) und damit die Beschreibung des aktiven Vorganges nutzt.
In der englischen Version wird in den relevanten Artikeln das Verb „abscond“ benutzt, was mit „sich den Gesetzen entziehen“, „sich davonmachen“, „verschwinden“ oder „fortlaufen“ übersetzt werden kann (https://de.langenscheidt.com/englisch-deutsch/abscond; https://www.dict.cc/?s=abscond; https://dict.leo.org/englisch-deutsch/abscond; https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung?l=deen& q=abscond). Auch hier wird insbesondere bei Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung die aktive Formulierung des Entzugsvorganges und nicht die Beschreibung des Ergebnisses verwendet.
Die Anknüpfung an die behördliche Kenntnis des (illegalen) Aufenthaltsortes und die damit verbundene Möglichkeit der Abschiebung (vgl.: VG München, U. v. 06.06.2017, Az. M 9 S 17.50290; U. v. 27.03.2017, AZ.: M 22 K 16.50220VG Würzburg, U. v. 31.08.2015, AZ.: W 3 K 14.50040; VG Greifswald, BG. V. 31.05.2016, AZ.: 3 A 256/16 As HGW m.w.N.) greift zu kurz; insoweit wird darauf abgestellt, dass der Erfolg (= Entzug) nicht eingetreten ist, da der Staat sein Gewaltmonopol auch in Kirchenräumen durchsetzen könnte und der Vollzug damit nicht unmöglich ist.
Das Argument, die faktische Duldung des Kirchen-„Asyls“ durch den Staat würde eine Zurechnung des Vollzugsdefizites zum Flüchtling hindern (so wohl: VG Greifswald, GB. v. 31.05.2016, Az. 3 A 256/16 As HGW), greift ebenfalls zu kurz; vorliegend kommt es eben auf die Handlung des Sich-Entziehens und nicht auf den Grund für die unterbliebene Abschiebung an, zumal letztendlich jede Form des Untertauchens dem Staat zugerechnet werden könnte, da er die abzuschiebenden Personen nicht genügend überwacht und nach untergetauchten Ausländern nicht mit ausreichendem Personaleinsatz gefahndet hat.
Stellt man zutreffender Weise auf die Handlung des Sich-Entziehens ab, so ist der Tatbestand des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung im Fall des Kirchen-„Asyls“ erfüllt. Das Kirchen-„Asyl“ dient ausschließlich dazu, den Ausländer entgegen der geltenden Rechtsordnung und ungeachtet der grundsätzlichen Strafbarkeit eines solchen Verhaltens nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Dies wird umso augenscheinlicher, wenn ein Ausländer entgegen § 47 Abs. 1a Satz 1 AsylG seinen zugewiesenen Aufenthaltsort aufgibt, um durch den Aufenthaltsortswechsel Abschiebemaßnahmen zu verhindern.
Das Untertauchen hat die Beklagte auch rechtzeitig innerhalb der Sechs-Monats-Frist an Finnland mitgeteilt, sodass kein Zuständigkeitsübergang nach Art. 9 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (Durchführungsverordnung Dublin) eingetreten ist. Insoweit findet sich in der Verwaltungsakte der entsprechende Entwurf der Mitteilung.
1.1.3 Außergewöhnliche Umstände, die die Zuständigkeit der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO begründen oder möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht bzw. eine Selbsteintrittspflicht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht oder ersichtlich.
Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylsystems in Finnland sind nicht ersichtlich (vgl.: VG Sigmaringen, B. v. 05.01.2017, Az.: A 4 K 6158/16; und: AI, Amnesty Report 2016. Finnland; Amnesty Report 2015. Finnland).
Soweit sich der Klägerbevollmächtigte darauf beruft, dass es Unterschiede in der Entscheidungspraxis der einzelnen Mitgliedstaaten gebe, ist nicht ersichtlich, inwieweit dies systemische Mängel begründen sollte. Die materielle Asylentscheidung obliegt dem zuständigen Mitgliedstaat, eine Kontrolle der Einzelfallentscheidung durch andere Mitgliedstaaten im Rahmen der Überprüfung der Unzuständigkeitsentscheidung findet nicht statt, da sich die Prüfungshoheit der nationalen Gerichte nicht auf die Entscheidungen anderer Staaten erstreckt. Auch lässt sich aus abweichenden politischen Entscheidungen bezüglich eines Abschiebestopps bzw. eines vergleichbaren Instrumentariums in den Rechtsordnungen der einzelnen europäischen Mitgliedstaaten und aus unterschiedlichen rechtlichen Würdigungen per se kein systemischer Mangel herleiten. Die Tatsache einer angeblichen „Kettenabschiebung“ spielt damit keine Rolle. Soweit sich der Prozessvertreter auf die Abschaffung des humanitären Bleiberechts beruft, ist darauf hinzuweisen, dass dieses keine Vorgabe des Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes darstellt.
Soweit der Kläger anführt, dass sein Asylantrag in Finnland abgelehnt worden sei und er deshalb mit einer Abschiebung in den Irak rechnen müsse, wird darauf hingewiesen, dass eine möglicherweise vorhandene oder zu erwartende Entscheidung seitens des Abschiebungszielstaates über den Asylantrag im Rahmen der Bestimmung des für die Entscheidung über den Asylantrag zuständigen Zielstaates keine Rolle spielt. Wie Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO ausdrücklich regelt, ist grundsätzlich nur ein Mitgliedstaat für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig. Die Regelungen der §§ 3 Abs. 2 Unterabsatz 2, 17 Dublin III-VO sorgen nicht dafür, dass inzident bei der Frage des zuständigen Mitgliedstaates geprüft werden müsste, wie der zuständige Zielstaat entschieden hat oder entscheiden würde und ob diese Entscheidung den eigenen nationalen Voraussetzungen entsprechen würde, sodass quasi in eine hypothetische materielle Prüfung einzusteigen wäre. Dass eine Wiederaufnahme auch bei bereits erfolgter Ablehnung des Asylantrages im zuständigen Mitgliedsstaat möglich ist, zeigt Art. 18 Abs. 1 d Dublin III-VO. Hierin tritt nicht zuletzt der für die Europäische Union fundamentale Gedanke gegenseitigen Vertrauens zu Tage.
Auf die materielle Rechtslage kommt es vorliegend damit nicht an.
1.2 Auch die Ziffern 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheides sind rechtmäßig. Insoweit wird auf dessen Begründung und den obigen Ausführungen verwiesen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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