Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen Dublin-Bescheid (Großbritannien)

Aktenzeichen  M 24 K 16.50505

Datum:
12.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG n.F.
AsylG AsylG § 34a
Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin-III-VO)
Dublin-III-VO Art. 19 Abs. 2

 

Leitsatz

Drittstaatsangehörige können sich darauf berufen, dass die ursprüngliche Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates nach der Dublin-Verordnung erlöschen ist, weil sie das Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen haben (ebenso EuGH Urt. v. 7.6.2016 – C-155/15, BeckRS 2016, 81118). (Rn. 23 – 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2016, Geschäftszeichen: … wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil alle Beteiligten klar, eindeutig und vorbehaltlos auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Der Kläger hat mit Erklärung seines Bevollmächtigten vom … Oktober 2016 und die Beklagte mit genereller (auch den vorliegenden Rechtsstreit umfassender) Prozesserklärung vom … Februar 2016 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Regierung von Oberbayern ist vorliegend zwar gemäß § 63 Nr. 4 VwGO als Vertreter des öffentlichen Interesses Verfahrensbeteiligter aufgrund der generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 (vgl. zur Zulässigkeit sog. Generalbeteiligungserklärungen BVerwG, U.v.27.6.1995 – 9 C 7/95 – juris Rn. 11). In diesen Erklärungen hat der Vertreter des öffentlichen Interesses allerdings darum gebeten, ihm ausschließlich die jeweilige Letztbzw. Endentscheidung zu übersenden und damit unter anderem auch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
2. Das Verwaltungsgericht … ist zur Entscheidung über die Klage insbesondere örtlich zuständig, weil der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit seinen Aufenthalt nach dem Asylgesetz im Regierungsbezirk Oberbayern (… …) und damit im Gerichtsbezirk zu nehmen hatte (§ 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO). Aufgrund des Kammerbeschlusses vom 27. September 2016 ist der Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung über die Klage berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
3. Die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig, insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG erhoben worden.
4. Die Klage ist auch begründet, da sich der streitgegenständliche Bescheid im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtswidrig erweist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
4.1. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG – in der am 6. August 2016 in Kraft getretenen Fassung durch das Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I, 1939 ff) – vormals § 27a AsylG a.F.) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist auch dann zulässig, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt hat (§ 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG). Auch ohne Asylantrag in Deutschland werden sog. „Aufgriffsfälle“ vom Anwendungsbereich des § 34a Abs. 1 AsylG erfasst. Im Rahmen der Änderung des Asylverfahrensgesetzes im Jahr 2013 wurde zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) in § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG in seiner auch jetzt noch geltenden Fassung ausdrücklich mit der Begründung eingefügt, dass diese Vorschrift eine gesetzliche Aufgabenzuweisung für das Bundesamt darstellt und der Erfassung der so genannten „Aufgriffsfälle“ dienen soll, in denen ein Ausländer im Inland angetroffen wird, der in einem anderen Staat – in dem die Dublin-VO Anwendung findet – einen Asylantrag gestellt hat, nicht aber in Deutschland (BT-Drs. 17/13556, S. 7).
Die für die Bestimmung des nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG zuständigen Staates maßgebliche Dublin-III-VO ist gem. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 Alternative 2 Dublin-III-VO auf den vorliegenden Fall anwendbar, da das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland an Großbritannien nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde.
4.2. Im vorliegenden Fall ist Großbritannien jedoch nicht (mehr) für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Zwar existiert ein EURODAC-Treffer für Großbritannien, in dem als Datum der Asylantragstellung der … September 2012 angegeben ist, so dass Großbritannien ursprünglich einmal für die Prüfung des Asylantrags gewesen sein mag. Da der Kläger, wie sich aus den im Verwaltungsstreitverfahren vorgelegten Unterlagen, insbesondere dem Schreiben der „…“ vom … Juli 2016, und aus seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt ergibt, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate (freiwillig) verlassen hat, ist jedenfalls eine etwaige Verpflichtung Großbritanniens nach Art. 18 Abs. 1 Dublin-III-VO, den Antragsteller wieder aufzunehmen, nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin-III-VO erloschen.
Hierauf kann sich der Kläger auch berufen, obwohl sich Großbritannien auf die fristgerecht gestellte Anfrage der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 16. April 2016 mit einer Wiederaufnahme des Klägers einverstanden erklärt hat.
Nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 7. Juni 2016 (EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – Ghezelbash – und U.v. 7.6.2016 – C-155/15 – Karim – beide juris) kann ein Asylbewerber, der unter die Regelung der Dublin-III-VO fällt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs (auch) die fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitskriterien geltend machen. Diese mit den Regelungen des Rechtsmittelrechts in Art. 27 Dublin-III-VO und mit dem 19. Erwägungsgrundes der Dublin-III-VO im Urteil „Ghezelbash“ für die Zuständigkeitskriterien des Kapitel III umfangreich begründete Rechtsauffassung erstreckt der EuGH in seinem Urteil „Karim“ auch auf Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO:
Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nämlich so auszulegen, dass diese Bestimmung, insbesondere ihr Unterabs. 2, auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar ist, der nach der Stellung eines ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat den Nachweis erbringt, dass er das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.
Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung geltend machen kann.
Demzufolge kommt die Überstellung des Klägers, der sich auf Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO beruft, nach Großbritannien nicht in Betracht. Großbritannien scheidet als für die Durchführung des Asylverfahrens zuständiger Mitgliedstaat aus. Der Bescheid des Bundesamtes, der zu Unrecht von einer Zuständigkeit Großbritanniens für die Durchführung des Asylverfahrens ausgeht, erweist sich daher insgesamt als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er war daher aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708ff der Zivilprozessordnung (ZPO).


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