Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen einen sog. Dublin-Bescheid – Urteil nach Gerichtsbescheid

Aktenzeichen  M 2 K 19.51296

Datum:
19.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10182
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 84 Abs. 1, § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 77 Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 3 Abs. 1, Art. 10

 

Leitsatz

Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb Art. 10 Dublin III-VO die Zuständigkeit der beklagten Bundesrepublik Deutschland nicht auch dann begründen sollte, wenn die Familienangehörigen nicht in unterschiedlichen Mitgliedstaaten einen Antrag gestellt haben, sondern trotz gemeinsamer und gleichzeitiger Antragstellung erst infolge einer Entscheidung der Beklagten getrennt behandelt werden und sich (nur) einer der Angehörigen im (deutschen) nationalen Verfahren befindet. (Rn. 26) (red. LS Andreas Decker)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 18. November 2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Denn in den ordnungsgemäßen Ladungen ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
I.
Die mündliche Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2021 ist fristgemäß beantragt worden.
II.
Die zulässige Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 10 m.w.N.) auf Aufhebung des Bescheids vom 18. November 2019 hat Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtmäßig und verletzt die Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG, § 84 Abs. 1 VwGO) in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
III.
Die Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 18. November 2019 den Asylantrag zu Unrecht als unzulässig abgelehnt.
1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
2. Die Zuständigkeit der Bundesrepublik ergibt sich vorliegend aus Art. 10 Dublin III-VO in Verbindung mit Art. 2 Buchst. g erster und zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO.
Nach Art. 10 Dublin III-VO ist, wenn ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Diese Voraussetzungen liegen vor.
a) Der Familienangehörige ist vorliegend der Ehemann der Klägerin zu 1) – siehe hierzu die vorgelegten Heiratsdokumente (Bl. 53 ff. der Behördenakte) -, der zugleich der Vater der übrigen Kläger ist (Art. 2 Buchst. g erster und zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO).
b) Hinsichtlich seines Antrags auf internationalen Schutz ist die Beklagte nach Ablauf der Überstellungfrist zuständig (vgl. insoweit den Aufhebungsbescheid vom 6. August 2020).
c) Eine Erstentscheidung im Sinne des Art. 10 Dublin III-VO ist noch nicht ergangen, da das Bundesamt noch keinen Bescheid erlassen hat (zum Begriff der Erstentscheidung VG München, B.v. 12.9.2019 – M 19 S7 19.50715 – juris Rn. 13; weiteres Verständnis bei VG Berlin, U.v. 9.11.2020 – VG 3 K 454.19 A – BeckRS 2020, 36800 Rn. 26).
d) Die Kläger haben ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Dass die Kläger gleichzeitig mit dem Familienangehörigen eingereist und gleichzeitig mit diesem ihre jeweiligen Anträge gestellt haben, steht einer Anwendung des Art. 10 Dublin III-VO nicht entgegen, auch wenn die Norm als typischen Anwendungsfall den „nachgezogenen“ Antragsteller vor Augen haben mag, der sich an einen bereits zu einem früheren Zeitpunkt gestellten Antrag des Familienangehörigen anschließt (vgl. Thomann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 7. Ed., Stand 1.1.2021, Dublin III-VO, Art. 10 Rn. 4). Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb Art. 10 Dublin III-VO die Zuständigkeit der Beklagten nicht auch begründen sollte, wenn die Familienangehörigen nicht in unterschiedlichen Mitgliedstaaten einen Antrag gestellt haben, sondern trotz gemeinsamer und gleichzeitiger Antragstellung erst infolge einer Entscheidung der Beklagten getrennt behandelt werden und sich (nur) einer der Angehörigen im (deutschen) nationalen Verfahren befindet (so im Ergebnis auch VG Berlin, U.v. 9.11.2020 – VG 3 K 454.19 A – BeckRS 2020, 36800, das den Umstand der gleichzeitigen Einreise und Antragstellung nicht näher behandelt). Es entspricht gerade dem auch von der Dublin III-VO beabsichtigten Schutz der Familie (vgl. Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO), zu verhindern, dass ein insbesondere schon im Zeitpunkt der Einreise bestehender Familienverband deshalb zwangsweise aufgelöst wird, weil sich die jeweiligen Verfahren infolge getrennter behördlicher Behandlung oder durch variierende gerichtliche Entscheidungen und unterschiedlichen Fristbeginn verschieden entwickeln.
e) Die nach Art. 10 Dublin III-VO erforderliche schriftliche Wunschäußerung kann wohl schon dem Umstand der gemeinsamen (schriftlichen) Asyl-Antragstellung, jedenfalls aber den entsprechenden Erklärungen der Kläger und des Ehemanns/Vaters in der mündlichen Verhandlung zur Niederschrift entnommen werden (vgl. zur Zulässigkeit einer solchen Erklärung erst im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – unter Verweis auf Art. 2 Buchst. d) Dublin III-VO – Köhler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 10 Dublin III-VO Rn. 12; vgl. zu einer Gesamtschau im gerichtlichen Verfahren VG Berlin, U.v. 9.11.2020 – VG 3 K 454.19 A – BeckRS 2020, 36800 Rn. 26).
3. Da die Voraussetzungen des Art. 10 Dublin III-VO vorliegen, kann offenbleiben, ob zugleich ein subjektiver Anspruch gegen die Beklagte auf Erklärung des Selbsteintritts nach Art. 17 Dublin III-VO besteht.
IV.
Infolge der Zuständigkeit der Beklagten erweisen sich auch die übrigen Regelungen des Bescheids als rechtswidrig und sind daher aufzuheben. Auf das Vorliegen von Abschiebungsverboten wegen der vorgetragenen Risikoschwangerschaft kommt es mithin nicht an.
V.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtkostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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