Europarecht

erneutes Übernahmeersuchen Griechenlands nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO (bejaht) nach vorausgegangenen erfolgreichem Übernahmeverfahren nach Art. 9 Dublin III-VO, aber zwi- schenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist, Nachzug von Vater, Stiefmutter und Halbschwester zu 13jährigem Minderjährigen, der sich mit Großmutter und 16jährigem Bruder mit Schutzstatus in Deutschland aufhält.

Aktenzeichen  AN 17 E 22.50005

Datum:
11.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2127
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 9 Abs. 1, § 17 Abs. 2
Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs des griechischen Migrationsministeriums – Nationales Dublin-Referat – für die Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren von Griechenland aus die Zustimmung zur Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO) als Nachzug zu ihren in Deutschland lebenden minderjährigen Söhnen bzw. Stiefsöhnen bzw. Brüdern.
Die Antragsteller sind nach ihren Angaben syrische Staatsangehörige. Der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) sind miteinander verheiratet, die 2019 geborene Antragstellerin zu 3) ihre gemeinsame Tochter. Die Antragsteller reisten nach Angaben der griechischen Behörden am 13. März 2020 bzw. nach der in Griechenland vorgenommenen Registrierung (Eurodac-Treffer der Kategorie 2) am 19. März 2020 nach Griechenland ein und stellten am 2. Juli 2020 Asylanträge.
Der Antragsteller zu 1) ist der Vater des am … 2009 geborenen … und des am … 2005 geborenen …; die Antragstellerin zu 2) ist nicht deren leibliche Mutter. … und … reisten im September 2015 gemeinsam als Minderjährige in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf ihre Asylanträge hin wurde ihnen am 29. November 2016 (…) bzw. am 5. September 2017 ( …) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) der subsidiäre Schutzstatus zuerkennt.
Am 7. Juli 2020 richtete die griechische Dublin-Einheit für die Antragsteller auf Grundlage von Art. 9 Dublin III-VO ein Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin zum Nachzug zu … Nachdem das zuständige Jugendamt … dem Bundesamt mitgeteilt hatte, dass die beiden Minderjährigen die Zusammenführung mit ihren Verwandten in Deutschland wünschten, akzeptierte das Bundesamt am 24. August 2020 die Übernahme der Antragsteller. Zu einer Überstellung der Antragsteller kam es nicht. Das Bundesamt vermerkte den Ablauf der Überstellungsfrist in den Akten für den 24. Februar 2021.
Am 18. März 2021 ersuchte Griechenland das Bundesamt um Zustimmung zur Übernahme der Antragsteller nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Dieses lehnte das Bundesamt mit Schreiben vom 31. März 2021 mit der Begründung ab, dass Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO auf individuelle Fälle beschränkt sei und Standardfälle nicht hierunter fielen.
Mit am 20. Januar 2022 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten stellten die Antragsteller Anträge nach § 123 VwGO und beantragten,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs vom 18. März 2021 durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat für die Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
Zu Begründung wurde vorgetragen, dass aufgrund der Corona-Pandemie Dublin-Überstellungen von Griechenland nach Deutschland im Jahr 2020 kaum stattgefunden hätten und ab dem 1. Januar 2021 die griechischen Behörden keinen Vertrag mit einer Reiseagentur, die Flugtickets buche, gehabt hätten und aus diesem Grund bis Mitte April 2021 keine Überstellung haben stattfinden können. Den Ablauf der Überstellungsfrist hätten die Antragsteller somit nicht zu verantworten, der Fristablauf durch administratives Versagen gehe nicht zu ihren Lasten. Es ergebe sich weiter ein Überstellungsanspruch aus Art. 9 Dublin III-VO, jedenfalls aber aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, für den das Fristenregime der Dublin III-VO nicht gelte. Die Antragsteller hätten täglich Kontakt mit …und …, es liege eine enge Verbundenheit vor. Die Antragsteller lebten auch in menschenwürdigen Bedingungen und mit drastisch wachsender psychischer Belastung. Eine Ermessensreduzierung auf Null ergebe sich unter Berücksichtigung der Zustimmung des Bundesamtes nach Art. 9 Dublin III-VO aus dem Jahr 2020.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 26. Januar 2022,
die Anträge abzulehnen.
Das Fristversäumnis der griechischen Behörde gehe zu Lasten der Antragsteller und könne auch über Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht zum Erfolg führen. Es sei auch nicht zu einer Remonstration Griechenlands gekommen.
Mit Schriftsatz vom 31. Januar 2022 (Antragstellerbevollmächtigte) und 2. Februar 2022 (Antragsgegnerin) erfolgten weitere Stellungnahmen zur fehlenden Remonstration nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungsverordnung.
Am 10. Februar 2022 teilte die Amtsvormundin von … und … auf gerichtliche Nachfrage telefonisch mit, dass diese zusammen mit ihrer Oma nach Deutschland eingereist seien und seitdem mit dieser lebten. Die Oma sei mit der Erziehung der Kinder überfordert, diese bräuchten dringend ihren Vater als Erziehungsberechtigten, mit dem die Kinder fast täglichen Kontakt über Videoanruf hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO sind zulässig (2) und unbegründet (3). Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber zuständig (1).
1. Da sich die Antragsteller in Griechenland aufhalten, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung berufen. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da … und … als Personen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Die Anträge nach § 123 VwGO sind zulässig.
Die Antragsteller sind nach § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Hierfür ist erforderlich, dass sie einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch geltend machen, d.h. vortragen und dies auch in Betracht kommt, dass ihnen ein Rechtsanspruch zusteht (Anordnungsanspruch) sowie die Durchsetzung dieses Anspruchs dringlich ist bzw. der Anspruch ohne eine Eilentscheidung in unzumutbarer Weise gänzlich gefährdet ist und unterzugehen droht (Anordnungsgrund). Dies ist im Hinblick auf die humanitäre Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO der Fall, auf die sich alle von der Trennung betroffenen Familienangehörigen berufen können, auch wenn die Trennung in erster Linie die Familienangehörige belastet, die nicht als Antragsteller im Gerichtsverfahren auftreten (hier … und …*), da im Rahmen von Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO eine Gesamtermessensabwägung der Belange aller Familienangehörigen vorzunehmen ist und eine getrennte Betrachtung nicht möglich ist (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris).
Ein Berufen vom Ausland aus auf die Regelungen der Dublin III-VO ist dabei anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 Europäische Grundrechts-Charta (GrCh) sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21). Ein Verfahren vor griechischen Gerichten mit dem Ziel der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Übernahme des Antragstellers ist nicht möglich und damit auch nicht vorrangig (vgl. insoweit VG Ansbach, B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.50079 – juris Rn. 20).
3. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund (c) und einen Anordnungsanspruch. Ihnen steht zwar kein Nachzugsanspruch aus Art. 9 Dublin III-VO zu (a), aber ein solcher aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO (b).
a) Zwar bestand ursprünglich – was zwischen den Parteien unstreitig ist – die Zuständigkeit Deutschlands für das Asylverfahren der Antragsteller nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO und war Deutschland nach ordnungsgemäß durchgeführtem Aufnahmeverfahren nach Art. 21 Dublin III-VO, in dem das Bundesamt am 24. August 2020 auch seine Zuständigkeit anerkannt hat, zur Übernahme der Antragsteller verpflichtet. Aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Frist nach Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Dublin III-VO zur Überstellung der Antragsteller ist es jedoch zum einem Zuständigkeitsübergang auf Griechenland gekommen, Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO.
Dass die Antragsteller den Fristablauf nicht zu verantworten haben, ist nach der Auffassung des erkennenden Gerichts dabei unerheblich. Das Gericht folgt der Rechtsauffassung, dass das Fristenregime der Dublin III-VO nicht zu Lasten, sondern nur zu Gunsten der Asylantragsteller wirken kann (etwa VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A; weitere zitiert im Schriftsatz der Antragstellerbevollmächtigten vom 20.1.2022) nicht (vgl. zur Frist des Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO bereits VG Ansbach, B.v. 7.4.2020 – AN 17 E 20.50127 – juris Rn. 32, B.v. 10.7.2019 – AN 18 E 19.50571 – juris Rn. 14; ebenso etwa VG Hamburg, B.v. 15.1.2021 – 7 AE 4104/20 – zitiert und vorgelegt im Antragsschriftsatz vom 20.1.2022, weitere VG-Entscheidungen zitiert bei VG Ansbach, B.v. 7.4.2020, a.a.O). Der Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO gibt keinen Hinweis darauf, dass die Fristen nur einseitig bindend bzw. nur begünstigend für den Asylantragsteller sind. Auch die Zielsetzung des Fristenregimes der Dublin III-VO spricht für eine absolute Geltung der Fristen. Diese dienen nämlich einer klaren und schnellen Festlegung der Zuständigkeit. Dieses Ziel ist nur gewährleistet, wenn das Fristenregime stets und in alle Richtungen gilt. Das Dublin-Verfahren ist in erster Linie ein Verfahren zwischen den Mitgliedsstaaten. Es gewährt Asylantragstellern keine von diesem Verfahren unabhängigen, sondern nur aus diesem Verfahren abgeleitete subjektive Rechte. Sind Fristen versäumt, sind sie dies auch im Verhältnis zum Asylantragsteller. Besondere Härten für den Antragsteller oder seine Familienangehörige können gegebenenfalls über Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO berücksichtigt werden. Ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK, Art. 7 und 24 GrCh ist damit nicht zu besorgen.
b) Ein Anspruch auf Zustimmung des Bundesamtes zum Nachzug gegenüber Griechenland ergibt sich jedoch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist.
In formeller Hinsicht fordert Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO die schriftliche Zustimmung der betroffenden Personen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Der ersuchte Mitgliedstaat hat dem ersuchenden Staat innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Gesuchs zu antworten. Die Ablehnung des Gesuchs ist zu begründen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO.
Die Anforderungen sind sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht erfüllt.
(1) Da der Antrag nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO „jederzeit“ gestellt werden kann, ist er nicht an die Fristen und Verfahrensabläufe nach Art. 21 ff. Dublin III-VO und Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO gebunden (vgl. bereits VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris Rn. 32). Dies gilt auch für die Frist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO (VG Ansbach, B.v. 25.8.2021 – AN 17 E 21.50200 – juris Rn. 24; ebenso VG Berlin, B.v. 29.7.2021 – VG 23 L 513/ 21 A – S. 3; B.v. 14.10.202 – VG 23 L 565/21 A – S.7, jeweils vorgelegt mit Antragsschriftsatz vom 20.1.2022). Ein Antrag nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist auch nach Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO damit möglich, solange eine Erstentscheidung in der Sache noch nicht ergangen ist.
Da das Verfahrens- und Fristenregime der Dublin III-VO für Art .17 Abs. 2 Dublin III-VO insgesamt nicht gilt, ist auch eine Remonstration durch die griechischen Behörden nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO nicht vorgeschrieben und nötig gewesen und kann das Fehlen einer solchen nicht zu einem Rechtsverlust führen. Offenbleiben kann, ob das Verstreichenlassen der Remonstrationsfrist im Hinblick auf Art. 8 ff. DublinVO einen solchen Zuständigkeitsübergang überhaupt bewirken kann.
(2) Humanitäre Gründe im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO liegen vor. Hierbei handelt es sich um einen auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dem im Kontext der Dublin III-VO eine Auslegung geboten ist, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist, was sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen lässt. Das Vorliegen von Kindeswohlsgesichtspunkte genügt als solches indes noch nicht. Sind diese gegeben, eröffnet Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst eine Ermessensentscheidung. Für den Erfolg im Verfahren nach § 123 VwGO genügt nach herrschender Meinung, der das erkennende Gericht folgt, ein gegebenenfalls vorliegender Ermessensfehler der Behörde noch nicht, vielmehr ist eine Ermessensreduzierung auf Null zu einem Anspruch hin glaubhaft zu machen (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103; B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.50079 – jeweils juris; allgemein BayVGH B.v. 3.6.2002 – 7 CE 02.637 – NVwZ-RR 2002, 839; a.A. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, 39. EL Juli 2020, § 123 Rn. 158 ff. m.w.N.). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null ist nur anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Familienangehörigen an einer Familienzusammenführung konkret und im Einzelfall hinaus Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen, die jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen in Deutschland als unvertretbar erscheinen ließen.
Dies ist nicht schon bei jeder Trennung von Familienangehörigen, auch nicht bei jeder Trennung von Minderjährigen von ihren Familienangehörigen, der Fall, sondern muss grundsätzlich im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände festgestellt werden. Eine maßgebliche Rolle spielt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dabei insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zum Familienmitglieder, mit dem die Zusammenführung begehrt wird, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes aufgrund seines Lebensalters sowie die Frage, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat, zu werten, wobei der EuGH in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – NVwZ 2006, 1033 Rn. 73-75, allerdings zur Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG).
Nach der Rechtsprechung der Kammer wurden Härtefälle entsprechend dieser Vorgaben im Verhältnis von jüngeren minderjährigen Kindern zu ihren Eltern angenommen (vgl. VG Ansbach, B.v. 3.12.2020 – AN 17 E 20.50375 – 7- und 8-jährige Kinder; B.v. 5.5.2021 – AN 17 E 21.50066 – 10-jähriges Kind; B.v. 24.9.2020 – AN 17 E 20.50307 – 12-jähriges Kind; B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – 13-jähriges Kind – überwiegend juris). Das Gericht geht im Verhältnis von Eltern und Kindern bis zu einem Alter von zwölf bis 13 Jahren regelmäßig von einer Ermessensreduzierung auf Null aus (VG Ansbach, B.v. 3.12.2020 – AN 17 E 20.50375 – juris Rn. 44; B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris Rn. 37), weil Kinder in diesem Alter in aller Regel auf die Fürsorge nicht nur irgendeines Erwachsen, sondern gerade ihrer Eltern angewiesen sind.
Eine solche Ermessensreduzierung auf Null ergibt sich vorliegend im Hinblick auf …, der sein 13. Lebensjahr gerade erst vollendet hat. Er ist altersbedingt noch besonders auf die emotionale und erzieherische Sorge seines Vaters, der allein hierfür in Frage kommt, angewiesen. Anhaltspunkte, dass das Wohl von … etwas Anderes erfordert, bestehen nicht. Zwar befindet sich … nicht ohne Familienangehörige in Deutschland, sondern lebt hier mit seinem 16jährigen Bruder und seiner Großmutter zusammen. Beide Personen stellen jedoch keine ausreichende erzieherische Betreuung sicher. Dass die Großmutter mit der Erziehung der Jungen überfordert ist, und die Grenzen setzende Erziehung bereits aktuell maßgeblich vom Vater über Videokonferenzen wahrgenommen wird, teilte die Amtsvormundin dem Gericht im Telefonat vom 10. Februar 2022 mit. Dieses Vorgehen kann jedoch nur als Behelfszustand angesehen werden. Es sichert das Erziehungs- und Betreuungsbedürfnis von … nicht ausreichend und nicht auf Dauer. Da trotz bereits jahrelanger Trennung von … und … von ihrem Vater noch ein enger, nahezu täglicher Kontakt der Familienangehörigen zueinander besteht und keine maßgebliche Entfremdung stattgefunden hat, hingegen zur leiblichen Mutter offenbar keine Verbindung mehr vorhanden ist und die Herstellung der Lebensgemeinschaft mit ihr nicht in Betracht kommt, ist … gerade auf die Zusammenführung mit seinem Vater angewiesen.
Ob die Familienzusammenführung auch zum Wohl vom 16jährigen … unerlässlich ist oder die Belange der Antragsteller selbst die Familienzusammenführung erfordern, kann, da nicht mehr entscheidungserheblich, dahinstehen. Aufgrund der Schutzwirkung des Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GrCh kommt eine Trennung der Antragsteller zu 2) und zu 3) vom Antragsteller zu 1) nicht in Betracht und besteht in der Folge ein Anspruch auf Zustimmung der Übernahme durch das Bundesamt auch für diese.
Ob die lange Trennung der betroffenen Personen von den Antragstellern – vielleicht sogar bewusst zur Erreichung des Familiennachzugs – verursacht oder in Kauf genommen worden ist, ist demgegenüber unerheblich. Dies stünde jedenfalls dem Anspruch von …nicht entgegen, dem ein solches Verhalten seines Vaters nicht entgegengehalten werden kann. Der bei der Trennung erst 6-jährige … kann auch nicht selbst derartige Motive gehabt haben, gegebenenfalls wäre diese bei einem geschäftsunfähigen und strafunmündigem Kind unbeachtlich (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris Rn. 38).
Auf die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in Griechenland kann die Familie ebenfalls nicht verwiesen werden, da ein Schutzstatus für … und … nach § 4 AsylG in Deutschland besteht. Nach der Rechtsprechung der Kammer stehen die prekären Lebensverhältnissen in Griechenland einer Rückführung von Familien mit minderjährigen Kindern entgegen (VG Ansbach, U.v. 17.3.2020 – AN 17 K 18.50394 – juris).
Im konkreten Fall dahinstehen kann, ob in der vorliegenden Konstellation, in der die Voraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO erfüllt sind, ein Nachzug jedoch am Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO scheitert, die Voraussetzungen für einen Anspruch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ohne Weiteres als erfüllt anzusehen sind, wenn die betroffenen Personen die Fristversäumnis nicht zu vertreten haben oder ob die Problematik des unverschuldeten Fristablaufs jedenfalls zu Gunsten der Antragsteller in die Ermessenentscheidung gewichtig mit einzubeziehen ist und in der Gesamtschau der Belange zu einer Ermessensreduzierung auf Null führt. Der Sachverhalt trägt in Bezug auf die Belange von … den Anspruch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO auch bereits ohne Berücksichtigung dieser rechtlichen Sondersituation, so dass hierüber nicht entscheiden werden muss.
c) Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben.
Er besteht hier in der Gefahr der jederzeit zu erwartenden inhaltlichen Entscheidung der griechischen Asylbehörde über die Asylanträge der Antragsteller und dem damit eingehenden Verlust ihres Rechts auf Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland nach der Dublin III-VO. Da das Aufnahmegesuch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO bereits vor fast einem Jahr abgelehnt worden ist, kann angenommen werden, dass mit einer Entscheidung der griechischen Asylbehörde im nationalen Verfahren in Kürze zu rechnen ist, auch wenn offenbar noch kein Termin für eine Anhörung terminiert ist. Zwar ist anzunehmen, dass die griechischen Behörden diese Eilverfahren abwarten, für ein Hauptsacheverfahren mit wesentlich längerer Laufzeit kann dies aber realistischer Weise nicht angenommen werden.
Bei Vorliegen der Voraussetzungen kommt – unabhängig von den Regularien der Dublin III-VO – zwar ein Nachzugsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz in Betracht. Die damit verbundene, in der Regel längere Trennungszeit von Familienangehörigen ist erwachsenen Antragstellern nach der Rechtsprechung der Kammer durchaus zumutbar; dem Grundsatz, dass die Hauptsache im einstweiligen Rechtschutz grundsätzlich nicht vorweggenommen werden darf, kommt in diesem Fall grundsätzlich der Vorrang zu (vgl. VG Ansbach, B.v. 22.2.2021 – AN 17 E 21.50020; B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.500079 – jeweils juris). Anders zu beurteilen ist dies jedoch im Fall von noch jüngeren Kindern, auch und gerade wenn die Trennungssituation schon lange andauert. Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise zulässig, zumal, wie sich aus den Ausführungen ergibt, eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache gegeben ist.
4. Die Kostenentscheidung des erfolgreichen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
5. Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


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