Europarecht

Fortdauer der Auslieferungshaft bei Ersuchen aus den USA und Vorverurteilung in einem EU-Mitgliedstaat

Aktenzeichen  1 AR 355/19

Datum:
2.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6724
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
IRG § 26 Abs. 1
SDÜ Art. 54
GRCh Art. 50
AEUV Art. 267
EuGHG § 1

 

Leitsatz

1. In die Abwägung zur Verhältnismäßigkeit der Auslieferungshaft einzustellen ist die abstrakte Strafandrohung in dem ersuchenden Staat. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist kein Auslieferungshindernis gegeben, wenn wegen derselben Tat ein Drittstaat einen Schengenstaat um Auslieferung ersucht, in einem anderen Schengenstaat jedoch bereits die Voraussetzungen des sich aus Art. 54 SDÜ ergebenden Verbots der Doppelbestrafung durch Aburteilung und Vollstreckung geschaffen worden sind. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Frage, ob Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRCh der Auslieferung des Verfolgten in die USA zur dortigen Strafverfolgung entgegenstehen, muss nicht gemäß Art. 267 AEUV, § 1 EuGHG dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt werden. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

1 AR 355/19 2020-03-17 Bes OLGMUENCHEN OLG München

Tenor

1. Gegen den … Staatsangehörigen S… M…, geboren am … in M./Slowenien, wird zur Sicherung der Auslieferung an die US-amerikanischen Behörden zur Strafverfolgung die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet.
2. Dem Auslieferungshaftbefehl wird weiterhin der Haftbefehl des Bundesbezirksgerichts des District of Columbia vom 04.12.2018, Gz.: 1:18-cr-359, zugrunde gelegt.
3. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung wird weiterhin zurückgestellt.
4. Der Antrag des Verfolgten vom 23.03.2020, den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben, hilfsweise gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen, wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
Hinsichtlich des bisherigen Verfahrensganges wird Bezug genommen auf die Senatsentscheidungen vom 08.10.2019, vom 30.10.2019, vom 20.11.2019, vom 10.01.2020, vom 31.01.2020 und vom 17.03.2020. Mit diesen hat der Senat gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet, dem Auslieferungshaftbefehl den Haftbefehl des Bundesbezirksgerichts des District of Columbia vom 04.12.2018, Gz.: 1:18-cr-359, zugrunde gelegt und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zurückgestellt.
Der Verfolgte hat sich weder mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt noch auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet, vielmehr Einwendungen gegen die Auslieferung erhoben, insbesondere vorgebracht, dass er wegen desselben Sachverhalts bereits in Slowenien rechtskräftig verurteilt wurde und dort deswegen drei Jahre Haft verbüßt hat. Sein Rechtsbeistand hat insoweit das erstinstanzliche Urteil des Bezirksgerichts Maribor vom 23.12.2013, Gz.: II K 34177/2012 und das zweitinstanzliche Urteil des Maribor Higher Court vom 13.03.2015 jeweils in englischer Sprache vorgelegt. Die US-Behörden wurden ersucht, eine verbindliche Erklärung abzugeben, ob bei der dem Verfolgten in den USA drohenden Strafe die in Slowenien bereits erlittenen Strafe angerechnet oder berücksichtigt wird, um im Rahmen einer eigenständigen Gefahrenprognose abschätzen zu können, ob im Fall der Auslieferung die äußersten Grenzen der Unerträglichkeit und absoluten Unangemessenheit nicht überschritten werden.
Der Rechtsbeistand des Verfolgten beantragte mit Schriftsatz vom 03.12.2019, die Auslieferung des Verfolgten für unzulässig zu erklären und die Entlassung des Verfolgten anzuordnen, da das Verbot der Doppelbestrafung ein Auslieferungshindernis begründe. Hilfsweise beantragte er, dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV i.V.m. Art. 107 ff. der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs folgende Frage im Eilvorabentscheidungsverfahren vorzulegen:
„Ist Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 GRCh dahingehend auszulegen, dass nach einer Verurteilung durch ein Gericht eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines Vertragsstaates des Schengen-Übereinkommens und nach der Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Strafe,
a) die Durchführung eines Auslieferungsverfahrens wegen derselben Tat in allen Vertragsstaaten des Schengen-Übereinkommens und der EU untersagt ist und
b) freiheitsentziehende Maßnahmen aufgrund des Auslieferungsersuchens in allen Vertragsstaaten des Schengen-Übereinkommens und der EU untersagt sind, wenn dieselbe Tat Gegenstand eines Auslieferungsersuchens eines Staates ist, der nicht Vertragsstaat des Schengen-Übereinkommens oder der Europäischen Union ist?“
Am 12.12.2019 ging bei der Generalstaatsanwaltschaft München die Verbalnote Nr. 490 der US-amerikanischen Botschaft Berlin vom 20.11.2019 ein, mit der die bislang erteilten Auskünfte ergänzt und teilweise berichtigt wurden.
Mit Verfügung vom 30.12.2019 übermittelte die Generalstaatsanwaltschaft München dem Senat die Antwort des US-Justizministeriums vom 16.12.2019 zur Frage der Zusicherung einer Anrechnung bzw. Berücksichtigung der vom Verfolgten in Slowenien verbüßten Strafhaft. Darin teilt das US-Justizministerium mit, dass die US-Behörden davon ausgehen, dass die Staatsanwaltschaft in den Vereinigten Staaten den Richter ersuchen wird, das in den Vereinigten Staaten verhängte Strafmaß so anzupassen, dass die Haftdauer, die der Verfolgte bereits in Slowenien verbüßt hat, berücksichtigt wird. Jedoch sei der Richter nicht verpflichtet, der Strafmaßempfehlung der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten. Das U.S.S.G.-Handbuch (U.S. Sentencing Guidelines Manual) ziehe bei der Berechnung der Vorstrafenkomponente des letztlich berechneten Richtlinienrahmens keine im Ausland verhängten Strafen in Betracht.
Der Rechtsbeistand des Verfolgten beantragte mit Schriftsatz vom 18.01.2020, die Auslieferung des Verfolgten für unzulässig zu erklären, die Entlassung des Verfolgten anzuordnen sowie hilfsweise das Verfahren dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV i.V.m. Art. 107 ff. der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs zur Beantwortung der am 03.12.2019 formulierten Frage vorzulegen.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragte mit Verfügung vom 21.01.2020, gegen den Verfolgten die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen und die Auslieferung an die US-amerikanischen Behörden zur Strafverfolgung für zulässig zu erklären, hilfsweise die Frage zur Auslegung von Art. 54 SDÜ i.V.m. 50 GRCh, Art. 18, 21 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung vorzulegen.
Der Senat beschloss am 31.01.2020 die Fortdauer der Auslieferungshaft und stellte die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung weiterhin zurück. Zugleich ersuchte der Senat die Generalstaatsanwaltschaft München, bei den US-amerikanischen Behörden eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung zu erholen, mit welcher Strafe der Verfolgte im Falle einer Verurteilung insgesamt zu rechnen hätte, von welchen Umständen die Bestimmung des Strafmaßes abhängig wäre, ob der Verfolgte die gegen ihn insgesamt zu verhängende Strafe voll und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen zu verbüßen hätte oder ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen eine vorzeitige Entlassung oder Begnadigung möglich wäre.
Mit E-Mail der Generalstaatsanwaltschaft München vom 03.02.2020 wurde das Bayerische Staatsministerium der Justiz gebeten, die US-amerikanischen Behörden um die im Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 31.01.2020 genannte völkerrechtlich verbindliche Erklärung zu ersuchen. Mit Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 27.02.2020 wurden die US-amerikanischen Behörden auf dem offiziellen Geschäftsweg um die im Beschluss genannte völkerrechtlich verbindliche Erklärung ersucht. Diese steht aktuell noch aus.
Zuletzt ordnete der Senat mit Beschluss vom 17.03.2020 die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Dieser Beschluss wurde dem Verfolgten am 25.03.2020 durch die Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts München eröffnet.
Durch Schriftsatz vom 23.03.2020 trägt der Rechtsbeistand des Verfolgten vor, dass die Fortdauer der Auslieferungshaft unverhältnismäßig sei und das Rechtsstaatsprinzip gebiete, den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben, hilfsweise gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen und den Verfolgten sofort zu entlassen.
Die Generalstaatsanwaltschaft München legte dem Senat mit Verfügung vom 26.03.2020 die Akten vor mit dem Antrag, den Antrag des Verfolgten vom 23.03.2020, den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben, hilfsweise gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen und die sofortige Entlassung des Verfolgten anzuordnen, zurückzuweisen.
II.
Gemäß § 26 Abs. 1 IRG war die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen. Diesbezüglich haben sich keine Veränderungen zu Gunsten des Verfolgten ergeben. Hinsichtlich des Haftgrundes haben sich seit der Senatsentscheidung vom 08.10.2019 keine Änderungen ergeben.
Entgegen dem Vortrag des Rechtsbeistands des Verfolgten ist die seit 23.09.2019 vollzogene Auslieferungshaft in Anbetracht der dem Verfolgten in den USA drohenden Freiheitsentziehung nach wie vor verhältnismäßig. In die entsprechende Abwägung einzustellen ist hierbei die abstrakte Strafandrohung in dem ersuchenden Staat. Diese sieht für den Anklagepunkt 1, Verschwörung zur Teilnahme an einer von organisiertem Verbrechen beeinflussten korrupten Vereinigung unter Verstoß gegen Titel 18, US-Bundesrecht § 1962(d) eine Höchststrafe von bis zu 20 Jahren, für den Anklagepunkt 2, Verschwörung zum Begehen von Betrug im Zahlungsverkehr und Betrug im elektronischen Datenverkehr unter Verstoß gegen Titel 18, US-Bundesrecht § 1349 eine Höchststrafe von bis zu 30 Jahren, für die übrigen Anklagepunkte, Betrug und damit verbundene Aktivitäten im Zusammenhang mit Ausweisdokumenten, Authentifizierungsmerkmalen und Informationen unter Verstoß gegen Titel 18, US-Bundesrecht § 1028 eine Höchststrafe von bis zu 15 Jahren, Betrug und damit zusammenhängende Aktivitäten in Verbindung mit Zugriffsgeräten unter Verstoß gegen Titel 18, US-Bundesrecht § 1029 eine Höchststrafe von bis zu 20 Jahren, Betrug und damit zusammenhängende Aktivitäten in Verbindung mit Computern unter Verstoß gegen Titel 18, US-Bundesrecht § 1030 eine Höchststrafe von bis zu 5 Jahren und Behinderung des freien Handels durch Drohungen oder Gewalt unter Verstoß gegen Titel 18, US-Bundesrecht § 1951 eine Höchststrafe von bis zu 20 Jahren vor. Auch unter Berücksichtigung der vom Verfolgten in Slowenien bereits verbüßten Haft hält der Senat angesichts der dem Verfolgten in den USA für den Fall einer Auslieferung konkret drohenden Freiheitsentziehung die seit 23.09.2019 vollzogene Auslieferungshaft nicht als unverhältnismäßig an.
Für eine Außervollzugsetzung des Auslieferungshaftbefehls fehlt es weiterhin an der erforderlichen Vertrauensgrundlage.
Der Senat vertritt weiterhin die im Beschluss vom 08.10.2019 begründete Rechtsansicht, wonach weder Art. 8 AuslV D-USA noch Art. 54 SDÜ und Art. 50 EuGRCh im vorliegenden Fall die Auslieferung des Verfolgten an die US-amerikanischen Behörden zur Strafverfolgung hindern. Soweit Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., Art. 54 SDÜ Rdn. 59 noch meinte, in Fällen der vorliegenden Art greife Art. 9 Satz 2 EuAlÜbk ein, vermochte dies den Senat im vorliegenden Fall nicht zu überzeugen. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind kein Vertragsstaat des EuAlÜbk. Art. 9 Satz 2 EuAlÜbk enthält nur eine Ermessensvorschrift („kann abgelehnt werden“). Dass das von den Bewilligungsbehörden auszuübende Ermessen stets auf null reduziert sei, wurde von Schomburg nicht begründet und lässt sich nicht allgemein – unabhängig vom Einzelfall – begründen. Mittlerweile kommentieren auch Schomburg/Wahl, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., Art. 54 SDÜ Rdn. 30, dass kein Auslieferungshindernis gegeben sei, wenn wegen derselben Tat ein Drittstaat einen Schengenstaat um Auslieferung ersucht, in einem anderen Schengenstaat jedoch bereits die Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ durch Aburteilung und Vollstreckung geschaffen worden sind. Vor diesem Hintergrund und angesichts der nach Einschätzung des Senats klaren Rechtslage erscheint es auch nicht als geboten, die Frage, ob Art. 54 SDÜ, Art. 50 GRCh der Auslieferung des Verfolgten in die Vereinigten Staaten von Amerika zur dortigen Strafverfolgung entgegenstehen, dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV, § 1 EuGHG zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die US-amerikanischen Behörden innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes, der vorliegend bisher nicht abgelaufen ist, auf die Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 27.02.2020 antworten werden. Etwas anderes ergibt sich nach Ansicht des Senats auch nicht aus der dem Schriftsatz des Rechtsbeistands des Verfolgten als Anlage beigefügten Anordnung des United States District Court for the District of Columbia vom 16.03.2020. Aus der dortigen Anordnung ergibt sich vielmehr, dass das dortige Gericht weiterhin die essenziellen Funktionen in strafrechtlichen Angelegenheiten gewährleistet. Es ist daher davon auszugehen, dass das hiesige Auslieferungsverfahren weiterhin von den US-amerikanischen Behörden betrieben wird.
Soweit der Rechtsbeistand des Verfolgten angibt, dass die Überstellung an die USA aufgrund der aktuellen Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit nicht erfolgen könne und als sicher zu unterstellen sei, dass das Einreiseverbot für Personen, die sich im Schengen-Raum aufgehalten haben, jedenfalls mehrere Monate andauern werde, führt dies momentan zu keiner anderen rechtlichen Bewertung. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass es zunächst einmal die Antwort der US-amerikanischen Behörden auf die Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 27.02.2020 abzuwarten gilt und sich die derzeitige Situation bis zum gegebenenfalls Vorliegen einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung über eine etwaige Zulässigkeit der Auslieferung sowie einer etwaigen Bewilligungsentscheidung ändern kann.
Die Generalstaatsanwaltschaft München wird angesichts des Vortrags des Verfolgten und der vorgelegten Atteste ersucht, medizinischerseits überprüfen zu lassen, ob der Verfolgte aktuell an einer Lungenkrankheit leidet und bejahendenfalls, ob dies besondere Anforderungen an die Haftsituation stellt und falls ja, welche.


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