Aktenzeichen W 8 K 21.50166
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
Dublin III-VO
GrCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsatz
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. Juni 2021 verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italien vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Die Klage, über die gemäß § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden konnte, ist zulässig und teilweise – bezogen auf die Nrn. 2 bis 4 des Bescheides vom 1. Juni 2021 – begründet. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 1 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid, macht sich diese zu Eigen und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Das Gericht geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass das italienische Asylverfahren und auch die Aufnahmebedingungen in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden. Auch die zurzeit bestehende Corona-Pandemie ändert nichts an dieser Beurteilung (vgl. im Einzelnen: VG Würzburg, B.v. 30.11.2021 – W 8 S 21.50318 – juris). Des Weiteren führt auch der Umstand, dass die Klägerin Tochter der Klägerin des Verfahrens W 8 K 20.30428 ist, nicht zwingend zu einem Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (siehe etwa VG Würzburg, U.v. 3.4.2020 – W 10 K 19.30677 – juris m.w.N), zumal es sich um ein Folgeverfahren handelt.
Abgesehen davon ist die Klage bezogen auf die Nrn. 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheides begründet und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil sowohl ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 und 8 EMRK hinsichtlich Italiens besteht als auch ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK gegeben ist.
Das Gericht nimmt im Einzelnen auf seinen Beschluss im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 21.6.2021 – W 10 S 21.50167) Bezug, in dem es das klägerische Vorbringen schon ausführlich gewürdigt hat.
Ergänzend wird noch angefügt:
In der Person der Klägerin liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 und 8 EMRK vor, weil sie ein minderjähriges Kleinstkind ist. Sie gehört zu dem besonders schutzbedürftigen Personenkreis im Sinne des Art. 21 der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie). Nach dieser Regelung ist die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung der Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen. Auch nach italienischem Recht muss grundsätzlich auf die spezifischen Bedürfnisse vulnerabler Personen Rücksicht genommen werden.
Im Einzelnen wird neben dem Beschluss des Gerichts vom 21. Juni 2021 (W 10 S 21.50167) auf den Gerichtsbescheid des Gerichts vom 11. März 2022 (W 8 K 21.30622) Bezug genommen, in denen es ausführlich auf die Rechtsposition der Mutter der Klägerin und der Klägerin selbst eingegangen ist. In dem Gerichtsbescheid ist ausgeführt, dass der Klägerin und ihrer Mutter ohne eine hier fehlende individuelle Zusicherung aus Italien eine Rückkehr nach Italien von Rechtswegen nicht zugemutet werden kann, weil ihnen Obdachlosigkeit und Verelendung droht. Dies verstößt gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh. In dem Gerichtsbescheid ist schon weiter angemerkt, dass dies auch unter der Annahme gilt, dass die Klägerin und ihre Mutter mit dem Kindsvater nach Italien zurückkehren werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Abschiebung – auch der Klägerin – nach Italien angesichts der bei der Rückführung von Familien in Rede stehenden hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 8 EMRK und der bei der Durchführung von Überstellungen vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls ohne vorherige individuelle Zusicherung Italiens nicht möglich. Eine dahingehende individuelle Garantieerklärung von den italienischen Behörden, die auch die Klägerin erfasst, fehlt und ist auch nicht zu erwarten.
Unabhängig davon besteht aus der derzeitigen rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung der Mutter der Klägerin nach Italien auch ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, 8 EMRK), weil andernfalls die Kernfamilie auseinandergerissen würde. Im vorliegenden Dublin-Verfahren sind auch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse zu berücksichtigen.
In Folge der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten ist des Weiteren zwangsläufig auch die verfügte Abschiebungsanordnung nach Italien rechtswidrig und aufzuheben. Gleichermaßen konnte die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG und entspricht dem Umfang des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.