Europarecht

Keine Erfolgsaussicht für Klage gegen Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts einer Teilnehmerin an einer berufsfördernden Maßnahme

Aktenzeichen  19 C 16.1719

Datum:
16.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU FreizügG/EU § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5, § 4 S. 1, § 4a, § 5 Abs. 4 S. 1, § 7 Abs. 1 S. 1, § 11 Abs. 2
SBG III § 112
SGB IX SGB IX § 33
RL 2004/38/EG RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 lit. b, Art. 15, Art. 30, Art. 31
AufenthG AufenthG § 59 Abs. 3 S. 1, § 60 Abs. 7 S. 1
VwGO VwGO § 114 S. 1

 

Leitsatz

1. Personen, die Ausbildungsverhältnisse, Praktika, Volontariate und ähnliches absolvieren, sind dann Arbeitnehmer iSv § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, wenn sie eine echte Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis ausüben. Als Entgelt für die ausgeübte Beschäftigung reicht es aber nicht aus, wenn eine Person im Rahmen einer geförderten Maßnahme zur Erhaltung, Wiederherstellung oder Förderung der Arbeitsfähigkeit eingesetzt wird. (Rn. 12 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Beurteilung, ob eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts begründende unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen vorliegt, ist die Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit zu bewerten, die entstünde, wenn jeder Unionsbürger in einer so gekennzeichneten Lage eine ausreichende Existenzsicherung und damit (mittelbar) weiterhin den Bezug der zu untersuchenden Sozialleistung für sich beanspruchen könnte. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 4 K 16.459 2016-08-18 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.
Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Klägerin ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, ihr für die Klage gegen die Feststellung des Verlusts ihres Freizügigkeitsrechts durch Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2016 Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Die im Jahr 1992 in der Bundesrepublik geborene, wegen einer geistigen Behinderung unter gesetzlicher Betreuung stehende Klägerin ist rumänische Staatsangehörige, reiste am 9. Juni 2013 aus Spanien in die Bundesrepublik ein und lebt seit dem 17. August 2014 im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Als Aufenthaltszweck wurde „Schule“ angegeben. Ausweislich vorgelegter Nachweise wurde mit Bescheid des Versorgungsamtes vom 20. Oktober 2014 ein Grad der Behinderung von 50 ab dem Jahr 2002 festgestellt. Gemäß einem Bewilligungsbescheid der Bundesagentur für Arbeit vom 17. Dezember 2014 bezog die Klägerin im Zeitraum vom 1. Dezember 2014 bis zum 8. Februar 2015 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 112 SBG III i.V.m. §§ 33, 44 ff SGB IX. Die Klägerin nahm vom 1. Dezember 2014 bis zum 28. Februar 2017 an einer berufsfördernden Maßnahme in einer Werkstatt für behinderte Menschen mit einem Ausbildungsgeld der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von monatlich 63 Euro (1.12.2014 bis 30.11.2015) bzw. 75 Euro (1.12.2015 bis 31.7.2017) bzw. 80 Euro (1.8.2016 bis 28.2.2017) teil. Die Klägerin bezieht seit Dezember 2015 laufend Leistungen der Grundsicherung nach SGB XII in Höhe von 503 Euro monatlich.
Mit Bescheid vom 3. Juni 2016 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin nicht freizügigkeitsberechtigt sei (Nr. 1), und forderte sie unter Fristsetzung von einem Monat ab Bestandskraft (Nr. 2) und Abschiebungsandrohung (Nr. 3) zur Ausreise in die Republik Rumänien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat auf. Die Klägerin sei nicht freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, da sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehe und Grundsicherungsleistungen in voller Höhe vom Sozialamt erhalte. Sie absolviere keine Berufsausbildung, sondern eine berufsfördernde Maßnahme im Berufsausbildungsbereich. § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU sei nicht erfüllt, weil die Klägerin nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfüge. Eine Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehörige sei weder ersichtlich noch geltend gemacht. Die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU entspreche pflichtgemäßem Ermessen, da das Allgemeininteresse, die öffentliche Hand vor übermäßiger Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu bewahren, die persönlichen Interessen der Klägerin überwiegten. Schützenswerte Bindungen nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK seien nicht ersichtlich, da – trotz Berücksichtigung entsprechender Pflegeleistungen der Mutter – auch die Eltern der Klägerin nicht freizügigkeitsberechtigt seien.
Gegen den Bescheid vom 3. Juni 2016 hat die Klägerin Klage erhoben und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin absolviere eine Ausbildung und verfüge über ausreichenden Krankenversicherungsschutz.
Mit Beschluss vom 18. August 2016 hat das Verwaltungsgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin. Die Klägerin sei freizügigkeitsberechtigt und die angegriffene Entscheidung ermessensfehlerhaft. Der ausreichende Krankenversicherungsschutz ergebe sich aus § 5 Abs. 1 Nr. 7 SGB V. Leistungen der Ausbildungsförderung nach SGB III und der durch die Arbeitsagentur gewährleistete Krankenversicherungsschutz gälten nicht als Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Das Aufenthaltsgesetz finde Anwendung, da hierdurch eine günstigere Rechtsposition vermittelt werde als durch das Freizügigkeitsgesetz. Wegen der humanitären Lage für geistig behinderte Menschen in Rumänien seien die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung rechtswidrig.
II.
Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Klage gegen die Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vorliegen, weil die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten besitzt.
Tritt nach einem Antrag auf Prozesskostenhilfe eine Änderung der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Antragstellers ein, so ist hinsichtlich der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht – wie sonst – bei der rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe der Zeitpunkt der Entscheidungsreife maßgebend. Vielmehr ist die Änderung der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, denn für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage und damit auch für den Beurteilungszeitpunkt bleibt einzig und allein das materielle Recht bestimmend (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2009 – 19 C 09.2958 – juris Rn. 4). Eine Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten der Klägerin ist vorliegend aber nicht eingetreten.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU vorlagen, weil die Klägerin zu diesem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt weder nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU (1.) noch nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU (2.) war. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich (3.). Auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind nicht zu beanstanden (4.).
Nach summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage liegen die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU vor. Danach kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder (von Anfang an) nicht vorlagen, mithin zu keinem Zeitpunkt bestanden haben (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 15). Die Möglichkeit zur Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU erlischt mit dem Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU, weil sodann ein Recht auf Einreise und Aufenthalt gerade unabhängig vom weiteren Vorliegen einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU besteht. Mangels einer ununterbrochenen Erfüllung der Freizügigkeitsberechtigung für die Dauer von fünf Jahren steht der Klägerin kein Daueraufenthaltsrecht nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU zu. Die Klägerin kann sich nach summarischer Überprüfung weder zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags noch zu dem für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts – wie für andere aufenthaltsbeendenden Entscheidungen – maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015, a.a.O., juris Rn. 11) auf eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU berufen.
1. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass die Klägerin, die sich bis zum 28. Februar 2017 in einer berufsfördernden Maßnahme im Berufsbildungsbereich in einer Werkstatt für Behinderte befand, weder als Arbeitnehmerin noch als Auszubildende nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist.
Der Begriff des „Arbeitnehmers“ ist unionsrechtlich auszulegen. Er ist weit zu verstehen und nach objektiven Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit nur von kurzer Dauer ist, steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen. Als Arbeitnehmer kann jedoch nur angesehen werden, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Geboten ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen (vgl. EuGH, U.v. 6.11.2003 – Ninni-Orasche, C-413/01 – juris Rn. 23 ff., U.v. 4.2.2010 – Genc, C-14/09 – juris Rn. 9 und 23 ff., U.v. 9.6.2014 – Saint-Prix, C-507/12 – juris Rn. 33 ff.; BayVGH, U.v. 18.7.2017 – 10 B 17.339 – juris Rn. 47).
In Anlehnung an den Arbeitnehmerbegriff sind Personen, die Ausbildungsverhältnisse, Praktika, Volontariate und ähnliches absolvieren, dann Arbeitnehmer, sofern sie eine echte Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis ausüben (vgl. Tewocht in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, FreizügG/EU § 2, Rn. 23). In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist anerkannt, dass jemand, der im Rahmen einer Berufsausbildung ein Praktikum ableistet, als Arbeitnehmer anzusehen ist, wenn das Praktikum unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird (vgl. EuGH, U.v. 21.02.2013 – C-46/12 – juris; U.v. 3.7.1986 – Lawrie-Blum, Rs 66/85 – NVwZ 1987, 41).
Als Entgelt für die ausgeübte Beschäftigung reicht es aber nicht aus, wenn eine Person im Rahmen einer geförderten Maßnahme zur Erhaltung, Wiederherstellung oder Förderung der Arbeitsfähigkeit eingesetzt wird (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, FreizügG/EU, § 2 Rn. 55). In der Rechtssache Bettray hat der Europäische Gerichtshof entscheidend darauf abgestellt, dass die im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgeübten Tätigkeiten nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden könnten, da sie nur ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben darstellen (vgl. EuGH, U.v. 31.5.1989 – Bettray, C-344/87 – juris). Gegenleistungen sind dann nicht als Arbeitsentgelt anzusehen, wenn sie im Rahmen von Maßnahmen gewährt werden, die lediglich als Instrument zur Integration von Personen mit persönlichen Unzulänglichkeiten dienen, und die nicht das für den Arbeitnehmerbegriff wesentliche Austauschverhältnis wiederspiegeln (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 2 Rn. 56).
Die Klägerin nahm vom 1. Dezember 2014 bis zum 28. Februar 2017 an einer berufsfördernden Maßnahme nach §§ 112 SGB III i.V.m. § 33 SGB IX teil. Gemäß §§ 112 SGB III, 33 SGB IX können für behinderte Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst zu sichern, soweit Art oder Schwere der Behinderung dies erfordern. Entsprechend dieser Zielrichtung überwiegen bei der absolvierten Maßnahme der Integrations- und Förderaspekt, zumal seitens des Einrichtungsträgers keine Vergütung geleistet wird. Die Teilnahme an der geförderten Maßnahme stellt sich nicht als eine Berufsausbildung unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis dar.
2. Die Klägerin ist auch nicht freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU.
Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts für nicht erwerbstätige Unionsbürger sind eigenständige Existenzsicherung und hinreichender Krankenversicherungsschutz. Bei gesteigertem Bedarf z.B. wegen Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit sind zusätzliche Existenzmittel nachzuweisen, um sicherzustellen, dass die Inanspruchnahme der Sozialhilfe ausgeschlossen wird (vgl. BT-Drs. 15/42, S. 104).
Dahinstehen kann, ob die Klägerin mit dem durch den Sozialleistungsträger gewährleisteten Krankenversicherungsschutz über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz im Sinne von § 4 FreizügG/EU verfügt, oder ob nach der Gesetzesintention eine (zumindest überwiegend) eigenständige Sicherung des Krankenversicherungsschutzes verlangt werden kann. Denn die Klägerin, die nach Mitteilung des Beklagten vom 7. August 2017 weiterhin Sozialhilfeleistungen in voller Höhe bezieht, verfügt nicht über ausreichende Existenzmittel nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU.
§ 4 Satz 1 FreizügigG/EU verlangt über ausreichenden Krankenversicherungsschutz hinaus, dass der Unionsbürger über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats in Anspruch nehmen muss. Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG sind ausreichende Existenzmittel solche, die sicherstellen, dass der Freizügigkeitsberechtigte die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats nicht in Anspruch nehmen muss. Existenzmittel sind alle gesetzlich zulässigen Einkommen und Vermögen in Geld oder Geldeswert und sonstige eigene Mittel, insbesondere Unterhaltsleistungen von Familienangehörigen oder Dritten (vgl. Epe in GK-AufenthG, Stand: 7/2013, § 4 FreizügigG/EU, Rn. 20). Die Herkunft der Mittel, die zur Existenzsicherung genutzt werden, ist gleichgültig (vgl. EuGH, U.v. 19.10.2004 – Chen, C-200/02 – InfAuslR 2004, 413). Als grundsätzlich schädlich erweist sich – abgesehen von den in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG geregelten Ausnahmen – der Bezug von nicht auf einer Beitragsleistung beruhenden öffentlichen Mitteln, insbesondere Sozialhilfeleistungen nach SGB XII. Die vollumfängliche Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen indiziert das Nichtvorhandensein ausreichender Existenzmittel (vgl. Epe in GK-AufenthG, a.a.O., § 2 FreizügG, Rn. 20, 23).
Zu berücksichtigen ist hierbei, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht automatisch einen Verlust des Freizügigkeitsrechts zu begründen vermag. Da auch insoweit mit Blick auf die sich der Verlustfeststellung anschließenden Pflicht, die Bundesrepublik zu verlassen, die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu wahren sind, ist vielmehr eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen erforderlich (vgl. Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Der Umstand, dass ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, kann einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (EuGH, U.v. 19.9.2013 – Brey, C-140/12 – juris, Rn. 63). Insbesondere dem 10. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG ist zu entnehmen, dass die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG genannte Voraussetzung vor allem verhindern soll, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (EuGH , U.v. 21.12.2011 – C-424/10 und C-425/10 – Rn. 40; EuGH, U.v. 19.9.2013, a.a.O., Rn. 54). Zur Beurteilung der Frage, ob ein Ausländer Sozialhilfeleistungen in unangemessener Weise in Anspruch nimmt, ist, wie aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG hervorgeht, zu prüfen, ob der Betreffende vorübergehende Schwierigkeiten hat, und sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände des Betreffenden und der ihm gewährte Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen. Von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen kann zudem nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage ausgegangen werden, „welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde“ (EuGH, U.v. 19.9.2013, a.a.O., Rn. 64; BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 21). Bei dieser Berücksichtigung kann es nicht darauf ankommen, die der Klägerin gewährten Sozialleistungen ins Verhältnis zur Gesamtheit der Sozialleistungen der Bundesrepublik Deutschland zu setzen. Vielmehr ist die für den Betroffenen kennzeichnende Lage zu abstrahieren und die Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit zu bewerten, die entstünde, wenn jeder Unionsbürger in einer so gekennzeichneten Lage eine ausreichende Existenzsicherung und damit (mittelbar) weiterhin den Bezug der zu untersuchenden Sozialleistungen für sich beanspruchen könnte. Nur bei dieser Betrachtung zeigen sich die (drohenden) Belastungen für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit (vgl. OVG RhPf, B.v. 20.9.2016 – 7 B 10406/16 – juris Rn. 46).
Im vorliegenden Fall bezieht die Klägerin seit Dezember 2015 fortlaufend Leistungen der Grundsicherung nach SGB XII in voller Höhe. Unter Berücksichtigung der langjährigen, vollumfänglichen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen würde es eine unangemessene Belastung für das nationale Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit bedeuten, wenn es gleichermaßen für sämtliche Unionsbürger in der Lage der Klägerin und ihrer Familie geöffnet und damit faktisch so etwas wie eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“ begründet würde (vgl. OVG RhPf, B.v. 20.9.2016, a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs soll Art. 7 Abs. 1 lit. bder RL 2004/38/EG nicht erwerbstätige Unionsbürger gerade daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH, U.v. 11.11.2014 – Dano, Rs. C-333/13 – juris, Rn. 76). Die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, reicht grundsätzlich aus, um die Möglichkeit zu rechtfertigen, zum Zeitpunkt der Gewährung einer Sozialleistung insbesondere an Personen anderer Mitgliedstaaten, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts durchzuführen, da diese Gewährung geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (vgl. EuGH, U.v. 14.6.2016 – Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14 – juris Rn. 80 m.w.N.).
3. Bei der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der die Ausländerbehörde eine umfassende Abwägung unter Einstellung aller für und gegen die Verlustfeststellung sprechenden Umstände sowie unter Einhaltung der gemäß Art. 15 RL 2004/38/EG zu beachtenden Verfahrensgrundsätze der Art. 30 und 31 RL 2004/38/EG vorzunehmen hat (vgl. HessVGH, B.v. 24.10.2016 – 3 B 2352/16 – juris). Die Richtlinie 2004/38, die ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft schafft, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern soll, berücksichtigt selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (vgl. EuGH , U.v. 15.9.2015 – Alimanovic, C-67/14 – juris Rn. 60). Gleichwohl müssen in die Ermessensentscheidung alle für und gegen die Klägerin sprechenden Gesichtspunkte eingestellt werden. Entgegen der Auffassung der Klägerin hat die Beklagte Ermessenserwägungen angestellt und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthaltes der Klägerin im Bundesgebiet, mithin den Grad ihrer Aufenthaltsverfestigung, eingestellt und erforderliche Pflegeleistungen der Mutter der Klägerin berücksichtigt. Im Hinblick darauf, dass die gesamte Familie – abgesehen vom erwerbstätigen Bruder – im Sozialleistungsbezug steht und auch für die anderen Familienmitglieder die Verlustfeststellung der Freizügigkeit ausgesprochen wurde, weist die Ermessensentscheidung der Beklagten, wonach auch unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer und der Pflegebedürftigkeit der Klägerin das öffentliche Interesse vor einer übermäßigen Belastung der öffentlichen Hand das persönliche Interesse an einer Aufrechterhaltung des Aufenthalts überwiegt, keine vom Gericht zu prüfenden Ermessensfehler auf (§ 114 Satz 1 VwGO).
4. Erweist sich somit die Verlustfeststellung aller Voraussicht nach als rechtmäßig, gilt dies auch für die Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung und die Abschiebungsandrohung, weil gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU Unionsbürger ausreisepflichtig sind, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Nach § 7 Abs. 1 Satz 3 und 4 FreizügG/EU soll in dem Bescheid die Abschiebung angedroht und eine Ausreisefrist von mindestens einem Monat gesetzt werden. Nachdem das Freizügigkeitsgesetz/EU keine eigenen Regelungen zur Durchsetzung der Ausreise enthält, ist gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz anwendbar. Dem Erlass einer Abschiebungsandrohung unter Bestimmung einer Ausreisefrist steht nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Vorliegen von Abschiebungsverboten nicht entgegen. Abgesehen davon ist das pauschale Vorbringen der Klägerin hinsichtlich der unzureichenden staatlichen Unterstützung für behinderte Menschen in Rumänien insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass die behinderte Klägerin vorliegend in einen betreuenden Familienverband eingebettet ist, nicht geeignet, eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben der Klägerin in Rumänien nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu belegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 161 Abs. 1 VwGO, wobei die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet werden (§ 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO). Einer Streitwertfestsetzung bedarf es im Hinblick auf § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG nicht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 1 VwGO).


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