Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Italien

Aktenzeichen  W 8 S 17.50340

Datum:
26.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a, § 55
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 12 Abs. 4, Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7

 

Leitsatz

1 In Italien sind trotz hoher Asylbewerberzahlen keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen gegeben. Grundsätzlich erhalten auch Dublin-Rückkehrer Unterkunft, medizinische Behandlung und sonstige Versorgung. (Rn. 13 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Italien verfügt über eine umfassende Gesundheitsfürsorge. Asylsuchende und Schutzberechtigte sind italienischen Staatsbürgern gleichgestellt. Die medizinische Versorgung für einen auf den Rollstuhl angewiesenen Asylsuchenden ist gesichert. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 Allein das Vorhandensein einer schweren Erkrankung begründet noch keinen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, wenn die Krankheit auch im zuständigen Mitgliedsstaat behandelbar ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist armenischer Staatsangehöriger. Er reiste am 3. März 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 22. März 2017 einen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte – Visum – für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 3. April 2017 reagierten die italienischen Behörden bislang nicht.
Mit Bescheid vom 12. Juni 2017 lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 22. Juni 2017 ließ der Antragsteller im Verfahren W 8 K 17.50339 Klage erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung der Beklagten vom „1.“ Juni 2017 anzuordnen.
Zur Begründung ließ der Antragsteller im Wesentlichen vorbringen: Der Antrag des Antragstellers könne nicht unabhängig, bereits vom Bruder des Antragstellers gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gesehen werden. Der Antragsteller befinde sich wegen seinem schwerkranken Bruder in der Bundesrepublik Deutschland. Er schließe sich der dortigen Klagebegründung an. Der Bruder sei vollständig auf den Antragsteller angewiesen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 17.50339 sowie der Akten des Bruders W 8 K 17.50323 und W 8 S. 17.50324) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheids vom 12. Juni 2017 begehrt, zumal ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die übrigen Nummern des streitgegenständlichen Bescheids unzulässig wäre.
Soweit der Antrag zulässig ist (betreffend Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids), ist er unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 12. Juni 2017 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, so dass das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, überwiegt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen der Antragstellerseite führt zu keiner anderen Beurteilung.
Italien ist gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO auf Grund des erteilten Visums für die Bearbeitung des Asylantrages des Antragstellers zuständig. Italien hat auf das Übernahmeersuchen nicht reagiert. Somit gilt gemäß Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO das Übernahmeersuchen als angenommen und akzeptiert. Dies zieht die Verpflichtung Italiens nach sich, den Antragsteller aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft in Italien zu treffen.
Die Überstellung an Italien ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Diese Vorschrift entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (z.B. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – NVwZ 2012, 417). Danach ist eine Überstellung eines Asylsuchenden an einen anderen Mitgliedsstaat nur dann zu unterlassen, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende im zuständigen Mitgliedsstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der (rück-)überstellten Asylsuchenden im Sinne von Art. 4 Grundrechte-Charta (GR-Charta) zur Folge hätte.
Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden. Grundsätzlich erhalten auch Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft, medizinische Behandlung und sonstige Versorgung. Sofern sie einen Asylantrag stellen, wird ein Asylverfahren durchgeführt. Zusätzliche Aufnahmezentren sind geschaffen worden. Aktuelle Erkenntnisse diesbezüglich liegen den neueren Entscheidungen zugrunde (vgl. VG München, B.v. 2.5.2017 – M 9 S. 17.50821 – juris; B.v. 4.4.2017 – M 9 S. 17.50786 – m.w.N.; OVG NRW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 41 ff.; U.v. 7.7.2016 – 13 A 2302/15.A – juris Rn. 41; OVG Lüneburg, U.v. 25.6.2015 – 11 LB 248/14 – DÖV 2015, 807). Es mag zwar immer wieder vorkommen, dass Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrages in Italien auf sich alleine gestellt und zum Teil auch obdachlos sind. Dies und auch die zum Teil lange Dauer der Asylverfahren sind darauf zurückzuführen, dass das italienische Asylsystem aufgrund der momentan hohen Asylbewerberzahlen stark ausgelastet und an der Kapazitätsgrenze ist. Die im Bereich der Entwicklung und Versorgung der Asylbewerber weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite sind aber weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedsstaates vorläge, welches für einen „Dublin-Rückkehrer“ nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 3 EMRK oder Art. 4 GR-Charta mit dem dafür notwendigen Schwergrad nahe lägen (vgl. OVG NRW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 41 ff.). Probleme bei der Unterbringung in der zweiten Jahreshälfte 2015 rechtfertigen keine andere Einschätzung, da diesbezügliche Schwierigkeiten nicht nur in Italien, sondern in weiten Teilen Europas bestanden. Aus diesen Gründen bestand für die Antragsgegnerin auch keine Veranlassung, das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben.
Auch die gegenwärtige hohe Zahl von Einwanderern nach Italien stellt keinen Umstand dar, der eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte. Die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch Italien wird erst dann überschritten, wenn auf die erhöhte Zahl von Einwanderern hin keinerlei Maßnahmen zur Bewältigung der damit verbundenen Probleme ergriffen würden. Davon kann nicht ausgegangen werden. Speziell für Dublin-Rückkehrer wurden Zentren zur übergangsweisen Unterbringung eingerichtet (vgl. auch VG München, B.v. 2.5.2017 – M 9 S. 17.50821 – juris). Ein systemisches Versagen der Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen lässt sich nicht annehmen. Vielmehr geht das Gericht von einer hinreichenden Unterbringungsmöglichkeit in Italien aus.
Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin sonst ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO gemacht hat.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG oder inlandsbezogene Vollzugshindernisse (BayVGH, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris) wurden nicht substanziiert geltend gemacht, geschweige denn wurden qualifizierte ärztliche Atteste vorgelegt.
Auch der Umstand, dass der Antragsteller zusammen mit seinem Bruder eingereist ist, den er unterstützt, führt, nicht zu einem anderen Ergebnis.
Es besteht kein Anspruch auf Selbsteintritt gemäß Art. 16 Dublin III-VO. Zweck des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist es wegen einer aktuellen Hilfsbedürftigkeit Hilfeleistung, Unterstützung und familiäre Fürsorge, etwa auch durch einen volljährigen Bruder, zu ermöglichen; eine Trennung soll vermieden werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist, dass anhand von – hier nicht vorliegenden – Attesten glaubhaft ist, dass der Betreffende an einer schweren Krankheit leidet, aufgrund der er zwingend auf die Unterstützung angewiesen wäre. Dabei ist das die Zuständigkeit begründete Abhängigkeitsverhältnis auf Ausnahmesituationen besonderer Hilfsbedürftigkeit beschränkt. Allein das Vorhandensein – auch einer schweren Erkrankung – begründet noch keinen Anspruch auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts, wenn diese wie hier regelmäßig auch im zuständigen Mitgliedsstaat behandelbar ist (VG München, U.v. 6.5.2016 – M 12 K 15.50793 – juris).
Die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO liegen danach nicht vor. Erforderlich ist nämlich eine besondere Hilfsbedürftigkeit des Bruders, die sich zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht feststellen lässt. Es fehlen jegliche Atteste, denen entnommen werden könnte, dass insofern eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr des Eintritts gravierender gesundheitliche Folgen im Fall der Trennung besteht, denen nicht anders begegnet werden könnte, als mit einer gemeinsamen Anwesenheit in Deutschland. Zudem hat der Bruder des Antragstellers eine eigene Hilfsbedürftigkeit sowie eine Angewiesenheit auf den Antragsteller selbst nicht geltend gemacht, geschweige denn substanziiert.
Des Weiteren befindet sich der Bruder des Antragstellers selbst im Dublin-Verfahren und hält sich nicht rechtmäßig in Deutschland auf. Denn die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO setzt voraus, dass dieser durch einer exekutiven oder legislativen Akt legalisiert wurde. Eine Gestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG stellt keine derartige Legalisierung dar (vgl. VG München, B.v. 30.12.2015 – M 12 S. 15.50773 – juris). § 55 Abs. 1 AsylG vermittelt nur ein vorübergehendes verfahrensbegleitendes Aufenthaltsrecht, aber keinen dauerhaft rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des Art. 16 Dublin III-VO (VG Berlin, B.v. 20.8.2015 – 33 L 244.15 A – juris). Außerdem wurde der Antrag des Bruders des Antragstellers von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 9. Juni 2017 abgelehnt und die Abschiebung des Bruders nach Italien angeordnet. Ein dagegen gestellter Sofortantrag wurde abgelehnt (vgl. VG Würzburg, B.v. 20.6.2017 – W 8 S. 17.50324).
Abgesehen davon, dass selbst bei einer getrennten Überstellung des Antragstellers von seinem Bruder eine (vorübergehende) Trennung zumutbar erscheint, ist weiter nicht ersichtlich, dass die vom Bruder des Antragstellers benötigte Hilfe in Italien nicht auch anderweitig gewährt werden könnte.
Soweit der Bruder des Antragstellers an beiden Beinen beinamputiert und auf einen Rollstuhl angewiesen ist bzw. gute Prothesen aus Deutschland wünscht, ist anzumerken, dass der Bruder lediglich vorgebracht hat, Schmerzmittel zu nehmen. Es ist nicht ersichtlich, warum die Erkrankung bzw. Behinderung nicht auch in Italien behandelt werden könnte, zumal der Bruder nicht einmal Atteste über die Erkrankung vorgelegt hat. Zudem verfügt Italien über eine umfassende Gesundheitsfürsorge, wobei Asylsuchende sowie international Schutzberechtigte mit italienischen Staatsangehörigen hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung gleichgestellt sind (vgl. VG München, B.v. 2.5.2017 – M 9 S. 17.50821 – juris m.w.N.). Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass die medizinische und sonstige Versorgung in einem EU-Staat wie Italien für jemanden, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, jedenfalls dem Grunde nach nicht gesichert wäre (vgl. VG München, B.v. 22.4.2014 – M 1 S. 14.50072 – juris).
Letzteres gilt im Übrigen auch für mögliche Krankheiten des Antragstellers selbst, der zwar ohne weitere Substanziierung eine TBC angesprochen, aber keine (qualifizierte) ärztlichen Atteste vorgelegt hat.
Somit ist die Abschiebung der Antragsteller nach Italien rechtlich zulässig und möglich.
Nachdem die Klage in der Hauptsache voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des Bescheides, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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