Aktenzeichen M 19 S 20.50160
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, § 60a Abs. 2c
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 S. 2
Leitsatz
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens ist davon auszugehen, dass Schweden über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Schweden im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der 1992 geborene Antragsteller, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Dezember 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf seinen Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Der Antragsteller stellte am 17. Dezember 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Bei seinen Anhörungen und Befragungen durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) durch das Bundesamt gab er an, dass er im Jahr 2015 in Schweden einen Asylantrag gestellt habe, diesr aber abgelehnt worden sei. In Frankreich habe er ebenfalls einen Antrag gestellt. Er sei im Übrigen krank und habe Medikamente gegen Schlaflosigkeit genommen.
Eine Eurodac-Recherche vom 17. Dezember 2019 ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Schweden für den 26. Oktober 2015 und einen Treffer der Kategorie 1 für Frankreich für den 9. August 2019.
Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 31. Januar 2020 ein Wiederaufnahmeersuchen an Schweden. Schweden erklärte mit Schreiben vom 6. Februar 2020 die Zustimmung zur Übernahme des Antragstellers.
Mit Bescheid vom 10. Februar 2020, zugestellt am 12. Februar 2020, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Schweden an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 22 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Schweden aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im schwedischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor.
Am 19. Februar 2020 erhob der Antragsteller zur Niederschrift Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 19 K 20.50159). Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid anzuordnen.
Zur Begründung bezog er sich auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung – bei interessengerechter Auslegung nur hinsichtlich der Nummer 3 des Bescheids vom 10. Februar 2020 – ist zwar zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde.
Der Antrag ist allerdings nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 10. Februar 2020, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, begegnet bei summarischer Prüfung keinen durchgreifenden Bedenken.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen vorliegen und Schweden der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist. Der Asylantrag war daher als unzulässig abzulehnen. Da auch die Abschiebung weder tatsächlich unmöglich noch rechtlich unzulässig ist, war auch die Abschiebung nach Schweden anzuordnen.
1. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass Schweden der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist Schweden für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Der Eurodac-Treffer für den 17. Dezember 2019 mit der Kennzeichnung „SE1“ belegt, dass der Antragsteller in Schweden einen Asylantrag gestellt hat (vgl. zur normativen Relevanz der Angaben BGH, B.v. 11.1.2018 – V ZB 28/17 – juris Rn. 15). Die Ziffer „1“ in der Kennzeichnung „SE1“ steht für einen Antrag auf internationalen Schutz (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26.6.2013 – EURODAC-VO). Wegen der nachgewiesenen Antragstellung in Schweden greift infolge des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO die Erlöschungsregel des Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO unabhängig des seit der illegalen Einreise nach Schweden verstrichenen Zeitraums nicht ein. Der gleichfalls vorhandene Eurodac-Treffer der Kategorie 1 für Frankreich datiert vom 9. August 2019 und damit später als der Treffer für Schweden. Frankreich ist daher nicht zuständig.
b) Die Zuständigkeit ist nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Schweden als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Schweden systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Schweden über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist auch nicht erschüttert. Von systemischen Mängeln ist nur auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Ls. und Rn. 6). Von solchen Mängeln kann jedoch nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausgegangen werden (vgl. VG Frankfurt, U.v. 4.6.2019 – 11 K 340/19.F.A – juris Rn. 14; VG München, B.v. 27.6. 2018 – M 9 S 17.53492 – juris Rn. 15 f.). Sie wurden weder glaubhaft vorgetragen noch sind sie aus den vorhandenen Erkenntnismitteln ersichtlich. Im Ergebnis bestehen keine Zweifel daran, dass das Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen in Schweden den gebotenen Maßstäben gerecht wird.
c) Die demnach bestehende Zuständigkeit Schwedens ändert sich schließlich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden. Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.
d) Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Wiederaufnahmegesuch vom 31. Januar 2020 fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung vom 17. Dezember 2019 erfolgte.
e) Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin wurde derzeit auch nicht durch Fristablauf begründet, da die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist das Wiederaufnahmegesuch) im Zeitpunkt des vorliegenden Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes noch nicht abgelaufen war. Der Antrag unterbricht daher nun den Lauf der Frist (Art. 29 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III-VO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylG).
2. Eine Überstellung des Antragstellers nach Schweden ist auch nicht mit einer tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 4 Grundrechtecharta verbunden (vgl. zu diesem Prüfungspunkt EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – NVwZ 2017, 691 Rn. 90 ff.), so dass eine Aussetzung der Durchführung der Überstellung nicht geboten ist.
3. Die Überstellung an Schweden ist auch tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, die Abschiebung kann daher im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden.
a) Die schwedischen Behörden haben ihre Übernahmebereitschaft mit Schreiben vom 6. Februar 2020 erklärt.
b) Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 29 AsylG Rn. 35), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist, sind nicht ersichtlich.
c) Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote bestehen ebenfalls nicht.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht; eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (Satz 1); der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (Satz 2). Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden; hingegen ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).
Daraus ergibt sich zunächst, dass eine Krankheit keinesfalls zwingend pauschal Reiseunfähigkeit oder die Feststellung von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen zur Folge hat. Krankheiten hindern nicht per se die Überstellung im Sinne einer Transportunfähigkeit, v.a. nicht ins innereuropäische Ausland – vorliegend: Schweden – (kurze Reisewege, geringe Belastung), und begründen nicht etwa regelhaft ein ernsthaftes Risiko dergestalt, dass sich der Gesundheitszustand des Betroffenen unmittelbar durch die Ausreise oder Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird.
Auch im vorliegenden Fall besteht kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis. Die vom Antragsteller vorgebrachten Krankheiten sind zum einen schon nicht spezifiziert und qualifiziert dargelegt. Einer Art Attest aus Frankreich lässt sich entnehmen, dass der Antragsteller Paracetamol und eine Schlaftablette nehmen soll. Eine schwerwiegende Erkrankung lässt sich hieraus nicht entnehmen. Ein Überweisungsschein einer deutschen Arztpraxis erwähnt zwar eine Depression des Antragstellers; eine Diagnose ist aber nicht näher dargelegt. Gegenüber der Landeshauptstadt München hat der Antragsteller zudem Kopfschmerzen und Depressionen erwähnt; auch hier fehlt eine qualifizierte Diagnose. Jedenfalls ist nicht erkennbar, weshalb möglicherweise benötigte (Standard-)Medikamente in Schweden nicht verfügbar sein sollten.
4. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 10. Februar 2020 voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen war.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).