Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Finnland

Aktenzeichen  M 8 S 16.51182

Datum:
3.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3, Art. 23, Art. 25
GRCh GRCh Art. 4
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Im Rahmen des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens und dem Konzept der normativen Vergewisserung obliegt es den nationalen Gerichten zu prüfen, ob die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte entspricht, widerlegt wird. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 In Finnland läuft ein Asylbewerber keine Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, sodass keine systemischen Mängel im finnischen Asylverfahren oder den dortigen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestehen.  (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die am … Juli 1949 geborene Antragstellerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und begehrt vorläufigen Rechtschutz gegen ihre drohende Überstellung nach Finnland im Rahmen des sogenannten Dublins-Verfahren.
Die Antragstellerin reiste nach ihren Angaben am 16. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 18. Mai 2016 einen Asylantrag.
Bei ihrer Erstbefragung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 18. Mai 2016 gab die Antragstellerin an, im Februar 2013 einen Asylantrag in Finnland gestellt zu haben und bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland in Finnland gelebt zu haben. Ein entsprechender EURODAC-Treffer FI 1 … bestätigte, dass die Antragstellerin bereits in Finnland Asylantrag gestellt hatte.
Am 18. Juli 2016 stellte die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen für die Antragstellerin an Finnland, das nicht beantwortet wurde.
Mit Bescheid vom 7. November 2016, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1), es stellte fest dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Finnland an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 6 Monate ab dem Tag der Ausreise (Ziffer 4). Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
Der Bescheid vom 17. November 2016 wurde der Antragstellerin mit Postzustellungsurkunde durch Niederlegung am 30. November 2016 zugestellt.
Mit einem am gleichen Tag beim Verwaltungsgericht München eingegangenen Schriftsatz vom 5. Dezember 2016 erhoben die Bevollmächtigten der Klägerin Klage und Antrag nach § 80 Abs. 5 VGO und beantragten,
den Bescheid vom 17. November 2016 aufzuheben (M 8 K 16.51183).
Ein Antrag im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO wurde in dem einheitlichen Schriftsatz vom 5. Dezember 2016 nicht gestellt.
Zur Begründung des Aufhebungsantrags bezüglich des Bescheids vom 17. November 2016 wurde ausgeführt, dass in Finnland systemische Mängel des Asylverfahrens vorlägen.
Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2016 übermittelte die Antragsgegnerin die elektronische Behördenakte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
1. Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen.
Da sich die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts vom 25. November 2016 nach der insoweit gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig erweist, führt die vorzunehmende Interessenabwägung im Fall de Antragstellerin zu einem Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses.
1.1. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Finnland ist als Mitgliedsstaat, in dem die Antragstellerin ausweislich des erzielten Eurodac-Treffers und ihren eigenen Angaben zufolge einen Asylantrag gestellt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (Art. 3 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO). Nach Aktenlage hat Finnland das gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO rechtzeitig gestellte Wiederaufnahmegesuch nach Art. 23 Abs. 1 Dublin III-VO nicht beantwortet. Gemäß Art. 25 Abs. 2 der Dublin III-VO ist davon auszugehen, dass von finnischer Seite dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die betreffende Person wieder aufzunehmen.
Die Zuständigkeit liegt auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO bei der Antragsgegnerin (oder einem anderen Mitgliedsstaat), weil eine Überstellung an Finnland als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO scheitern würde. Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Antragstellerin im Falle einer Abschiebung nach Finnland infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – EUGrdRCh – ausgesetzt wäre.
1.2. Es besteht auch keine Verpflichtung der Antragsgegnerin, ausnahmsweise aus anderen Gründen den Asylantrag der Antragstellerin trotz der Zuständigkeit Finnlands inhaltlich selbst zu prüfen.
1.2.1. Von Verfassungswegen kommt eine Prüfungspflicht der Antragsgegnerin nur in Betracht, soweit ein von vornherein außerhalb der Reichweite des Konzepts der normativen Vergewisserung liegender Sachverhalt gegeben ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93) ist dies – bezogen auf die Verhältnisse im Abschiebezielstaat – etwa dann der Fall, wenn sich die für die Qualifizierung des Drittstaates als sicher maßgeblichen Verhältnisse schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung darauf noch aussteht, oder wenn der Aufnahmestaat selbst gegen den schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung zu greifen droht und dadurch zum Verfolgerstaat wird. An die Darlegung eines solchen Sonderfalls sind hohe Anforderungen zu stellen.
Hinsichtlich der Situation in Finnland wurde hierzu nichts vorgetragen, und es ist auch nicht ersichtlich, dass ein von vornherein außerhalb der Reichweite des Konzepts der normativen Vergewisserung liegender Sachverhalt vorliegend gegeben ist.
Eine Prüfungspflicht der Antragsgegnerin von Verfassungswegen scheidet somit aus.
1.2.2. Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 – C 411/10 und C-493/10) ist Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtscharta) dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.“
Auch hierfür hat die Antragspartei in Bezug auf Finnland außer einer pauschalen Behauptung nichts vorgetragen, und es ist auch nicht ersichtlich, dass das Asylverfahren in Finnland an systemischen Mängeln leidet oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber dort ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellten, dass die Asylbewerber dort tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
2. Die Abschiebungsanordnung beruht auf § 34a AsylG und ist rechtmäßig. Die Abschiebung nach Finnland kann durchgeführt werden.
Einer Abschiebung nach Finnland stehen keine systemischen Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegen.
2.1. Auch inlandsbezogene Abschiebungsverbote liegen nicht vor. Zwar ist eine Abschiebungsanordnung dann ausgeschlossen, wenn inlandsbezogene Abschiebungshindernisse – wie sie in § 60a Abs. 2 AufenthG niedergelegt sind – vorliegen (BayVGH, B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris Rn. 4, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris Rn. 7). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.
Es wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (§ 60a Abs. 2c AufenthG). Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.
Die Abschiebungsanordnung begegnet mithin keinen rechtlichen Bedenken.
3. Dies gilt auch für das auf § 11 Abs. 2, 3 AufenthG gestützte sechsmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.


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