Europarecht

Keine Unzulässigkeitsentscheidung nach Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  AN 3 K 15.31264

Datum:
26.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin II-VO Dublin II-VO Art. 20 Abs. 1 lit. d
AsylG AsylG § 71, § 71a
AsylG AsylG aF § 27a

 

Leitsatz

Nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 lit. d Dublin II-VO ist ein Asylantrag nicht mehr nach § 27a AsylG (in der bis 05.08.2016 geltenden Fassung) unzulässig. Ist die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, hat die Beklagte zu prüfen, ob von einem Erst- oder Zweitantrag auszugehen ist. In diesem Zusammenhang hat sie zu prüfen, welche Angaben dem Asylantrag im Drittstaat zugrunde gelegt wurden und ob und aus welchen Gründen der Antrag dort bestandskräftig abgelehnt wurde. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes vom 3. Februar 2014 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid vom 3. Februar 2014, der infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung in seiner Ziffer 2 nur noch die Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1) zum Gegenstand hat.
Die Klage, über die nach Verzicht der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO) ist zulässig und begründet. Statthafte Klageart ist vorliegend die isolierte Anfechtungsklage (vgl. z. B. BayVGH, U. v. 6.3.2015 – 13 a ZB 15.50000 -, juris).
Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, weshalb er aufzuheben ist.
1.
Die in Ziffer 1 festgestellte Unzulässigkeit des Asylantrags ist rechtswidrig, weil es für diesen Ausspruch keine Rechtsgrundlage gibt.
Der Bescheid kann auch nicht im Wege einer Umdeutung als Sachentscheidung über einen Zweitantrag nach § 71 a AsylG aufrechterhalten bleiben (siehe hierzu unten 2.).
a)
Vorliegend ist für die Bestimmung des für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaates die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-VO) anzuwenden, da die Klägerin am 2. April 2013 in der Bundesrepublik Asyl beantragte.
Die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 lit. d der Dublin II-VO ist am 3. September 2014 (sechs Monate nach Zustellung des ablehnenden Beschlusses im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes) abgelaufen, ohne dass die Klägerin nach Italien abgeschoben wurde. Damit ist nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Der Asylantrag der Klägerin ist daher nicht mehr nach § 27 a AsylVfG unzulässig (BayVGH, B. v. 30.3.2015 -21 ZB 15.50026 -, juris; VG München, U. v. 13.1.2015 – M 4 K 14.30225 -, juris m. w. N.).
b)
Auch in § 60 Abs. 1, 2 AufenthG findet die Unzulässigkeitsentscheidung vorliegend keine Grundlage, da der Klägerin in Italien weder eine Flüchtlingsanerkennung noch subsidiärer Schutz gewährt wurde, so dass eine Entscheidung über die Anerkennung von Statusentscheidungen in Mitgliedstaaten und die damit verbundenen Auswirkungen auf das nationale Verfahren in Deutschland nicht zu treffen ist, weshalb sich auch keine Unzulässigkeit des Asylantrages ergeben kann (vgl. BVerwG, U. v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 -, juris; BVerwG, B. v. 30.9.2015 – 1 B 51.15 -, juris; BVerwG v. 23.10.2015 – 1 B 41.15 -, juris). Davon ging auch die Beklagte zutreffend aus, die den Erlass eines „Drittstaatenbescheides“ in dieser Konstellation für die Klägerin nicht in Betracht zog.
2.
a)
Eine Umdeutung dieser fehlerhaften Entscheidung in eine ablehnende Entscheidung im Verfahren nach § 71 a AsylG kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Rechtsfolgen einer Entscheidung nach § 71 a AsylG für die Klägerin ungünstiger wären. Zum einen würde der Asylantrag in keinem anderen Staat mehr inhaltlich geprüft werden und eine auf Grundlage des § 71 a AsylG zu erlassende Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG hätte zur Folge, dass die Klägerin – vorbehaltlich des Bestehens eines nationalen Abschiebeverbotes – in jeden zur Aufnahme bereiten Staat einschließlich ihres Herkunftslandes abgeschoben werden könnte (BVerwG, U. v. 16.11.2015 – 1 C 4/15 -, juris).
b)
Auch sprechen folgende Erwägungen gegen eine zulässige Umdeutung nach § 47 VwVfG:
Nach § 71 a Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 24 Abs. 2 AsylVfG muss im Zweitantragsverfahren stets geprüft werden, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Zielstaats der (hier fehlenden) Abschiebungsandrohung vorliegen. Dies ist im angefochtenen Bescheid nicht erfolgt, vielmehr hat die Beklagte mit Aufhebung der Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides im laufenden Klageverfahren eingeräumt, dass eine Abschiebung in den Mitgliedstaat Italien nicht mehr in Betracht kommt, sondern die Bundesrepublik für die Durchführung des Asyl(-Zweit)Verfahrens zuständig geworden ist. Gleichzeitig hat sie keine erstmalige Abschiebungsandrohung ausgesprochen, die aber bei Ablehnung der Durchführung eines Zweitverfahrens nach § 71 a Abs. 4 AsylVfG zwingend zu erlassen ist.
Eine Konstellation, in der die Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG aufgehoben, gleichwohl aber an der Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags festgehalten wird, läuft dem Regelungssystem des AsylG zuwider.
Die Beklagte setzt sich zu ihrer eigenen Entscheidung in Widerspruch, wenn sie an der Unzulässigkeitsentscheidung aus dem Dublin-Verfahren unter Aufhebung der Abschiebungsanordnung festhält und von dem Erfordernis eines Zweitantragsverfahrens ausgeht, ein solches aber gleichwohl nicht durchführt.
Die Beklagte hat vielmehr nach Übergang der Zuständigkeit nach der Dublin II-VO zu prüfen, ob von einem Erst- oder Zweitantrag auszugehen ist und das Verfahren entsprechend zu gestalten (BayVGH, B. v. 29.4.2015 – 11 ZB 15.50033-, juris). Dabei beinhaltet eine solche Prüfung auch, dass das Bundesamt Kenntnis von den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedstaat hat (vgl. Marx, AsylVfG, Kommentar, 8. Auflage 2014, § 71a, Rn. 17).
Der Auskunft des Liaisonbeamten, die das Bundesamt eingeholt hat, lässt sich nicht eindeutig entnehmen, ob und wenn ja auf welcher Grundlage ein Asylverfahren für die Klägerin in Italien durchgeführt und abgeschlossen wurde. Es wurde lediglich mitgeteilt, dass die Klägerin humanitären Schutz erhalten habe. Auf welcher Grundlage, aus welchen Gründen und in welchem Verfahren wurde nicht mitgeteilt und vom Bundesamt auch nicht weiter aufgeklärt.
Für die Durchführung eines Zweitantragsverfahren sprechen indes die eigenen Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes, die übereinstimmend erklärten, in Italien im Jahr 2008 Asyl beantragt, jedoch nie ein Verfahren positiv durchgeführt zu haben. Beide gaben an, keinen Aufenthaltstitel erhalten zu haben. Diese Angaben können ausweislich der Mitteilung des Liaisonbeamten nicht stimmen.
Kann die Beklagte trotz aller möglichen und zumutbaren Ermittlungen keine gesicherten Erkenntnisse über den Ausgang des Erstverfahrens erlangen, muss sie dem Kläger entsprechend den europarechtlichen Vorgaben die Möglichkeit einräumen, das Verfahren fortzuführen, ohne dass es als Folge- bzw. Zweitantrag behandelt wird (Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 und Art. 16 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO)) bzw. Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie) und Art. 18 Abs. 2 Unterabsatz 2 Satz 1 Dublin III-VO).
Derzeit dürfte es für die Beklagte mangels entsprechender Informationen tatsächlich schwierig sein, das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 71 a AsylG, 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu prüfen, da bislang nicht bekannt ist, welche Angaben der Klägerin die italienischen Behörden der Zubilligung humanitären Schutzes zugrunde legten und ob und warum ein Asylantrag bestandskräftig abgelehnt wurde.
Auch aus diesem Grund scheidet eine Umdeutung der Unzulässigkeitsentscheidung in die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aus, wobei eine Entscheidung für die zutreffende Verfahrensart (Erst- oder Zweitantragsverfahren) mangels Entscheidungserheblichkeit entbehrlich ist.
Lediglich ergänzend sei ausgeführt, dass ein Herbeiführen der Voraussetzungen für eine Umdeutung im Sinne einer „Heilung“ von fehlenden Voraussetzungen nach § 47 VwVfG im gerichtlichen Verfahren ebenfalls nicht möglich ist, obwohl das Bundesamt am 8. Dezember 2015 die Klägerin zu ihren Fluchtgründen aus dem Heimatland angehört hat.
Zwar ist grundsätzlich bei fehlerhafter oder verweigerter sachlicher Entscheidung der Behörde im Falle eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsaktes regelmäßig die dem Rechtsschutzbegehren der Klagepartei allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart. Das Gericht hat die Sache grundsätzlich spruchreif zu machen und darf sich nicht auf eine Entscheidung über die Aufhebung des den begünstigenden Verwaltungsaktes ablehnenden Bescheides beschränken, weil dies im Ergebnis einer Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde gleichkäme (vgl. BVerwG, U. v. 7.3.1995 – 9 C 264/94 – juris). Dieser auch im Asylverfahren geltende Grundsatz findet allerdings auf behördliche Entscheidungen, die auf der Grundlage von § 27a AsylVfG ergangen sind, nach Auffassung des Gerichts keine Anwendung. Denn ist das Asylbegehren in der Sache – in dem durch § 71a AsylVfG gezogenen Rahmen – noch gar nicht geprüft worden und wäre nunmehr das Gericht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen, ginge der Klagepartei eine Tatsacheninstanz verloren, die mit den umfassenderen Verfahrensgarantien ausgestattet ist (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 a. a. O.). Das gilt etwa für die Verpflichtung der Behörde zur persönlichen Anhörung (§ 24 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG – die hier erfolgte), zur umfassenden Sachaufklärung sowie zur Erhebung der erforderlichen Beweise von Amts wegen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ohne die einmonatige Präklusionsfrist, wie sie für das Gerichtsverfahren in § 74 Abs. 2 AsylVfG i. V. m. § 87b Abs. 3 VwGO vorgesehen ist. Ungeachtet dessen führte ein „Durchentscheiden“ des Gerichts im Ergebnis dazu, dass es nicht eine Entscheidung der Behörde kontrollieren würde, sondern anstelle der Exekutive erstmalig selbst sich mit dem Antrag sachlich auseinandersetzte und entschiede, was im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) und den klaren Wortlaut des Gesetzes in
§ 71a Abs. 1 a. E. AsylVfG zumindest bedenklich wäre, da eine Entscheidung, die der Gesetzgeber mit dem Asylverfahrensgesetz der Exekutive zur Prüfung zugewiesen hat, ausschließlich vom Gericht getroffen würde (vgl. zum Vorstehenden VG Regensburg, U. v. 18.7.2013 a. a. O.; VG Regensburg, U. v. 21.10.2014 – RO 9 K 14.30217 -, juris).
3.
Die Rechtsverletzung der Klägerin ergibt sich daraus, dass das Regelwerk der Dublin-Verordnungen und des Europäischen Asylsystems verlangt, dass die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sichergestellt ist. Dies wäre für den Fall des Eintritts der Bestandskraft der Unzulässigkeitsentscheidung trotz Ablaufs der Überstellungsfrist und ohne materielle Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlings- oder subsidiärem Schutz nicht gewährleistet.
Demnach war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b AsylG.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 173 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach
Hausanschrift:
Promenade 24 – 28, 91522 Ansbach, oder
Postfachanschrift:
Postfach 616, 91511 Ansbach,
zu beantragen.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz mit Befähigung zum Richteramt oder die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Der Antragsschrift sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Beschluss:
Der Gegenstandswert beträgt 5.000,00 EUR (§ 30 Abs. 1 Satz 1 RVG).
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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