Europarecht

Keine (weitere) Aufenthaltserlaubnis nach Rücknahme eines Asylantrags

Aktenzeichen  AN 11 K 16.1915

Datum:
28.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 3269
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 10 Abs. 3, § 25 Abs. 4, 5, § 31 Abs. 4 S. 2
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. § 10 Abs. 3 S. 1 AufenthG findet zwar nach S. 3 Hs. 1 der Vorschrift im Fall eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Anwendung; dies gilt jedoch nur bei gesetzlichen Ansprüchen und nicht auch bei einer Ermessensvorschrift im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null (Rn. 28). (redaktioneller Leitsatz)
2.  Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 S. 2 AufenthG ist nur für Notfallsituationen anzunehmen, die der Gesetzgeber nicht voraussehen und nicht regeln konnte. Es muss sich um eine exzeptionelle Ausnahmesituation handeln, in der die Aufenthaltsbeendigung den Ausländer deutlich härter trifft als andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation (Rn. 32). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid vom 22. September 2016 nicht rechtswidrig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung ihres Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (im Folgenden unter I.) bzw. ihres Antrags auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG (im Folgenden unter II.). Der streitgegenständliche Bescheid begegnet auch im Übrigen keinen rechtlichen Bedenken (im Folgenden unter III.).
I.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bescheidung ihres Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, da vorliegend bereits die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht. Es kann somit als entscheidungsunerheblich dahinstehen, ob die allgemeinen und speziellen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sind, insbesondere, ob die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) gegeben ist.
Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist oder der seinen Asylantrag zurückgenommen hat, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 erteilt werden.
Ausweislich des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Februar 2017 stellte die Klägerin am 11. Januar 2016 einen Asylantrag, welchen sie am 20. Mai 2016 wieder zurückgenommen hat. Der Tatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist erfüllt. Der Klägerin darf demnach vor der Ausreise keine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erteilt werden, da sich diese Anspruchsgrundlage nicht in Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes befindet.
Die Ausnahme von der Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG, wonach Satz 1 im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Anwendung findet, ist vorliegend nicht einschlägig, da es sich bei der Anspruchsgrundlage des § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG um eine Ermessensvorschrift handelt. Selbst bei Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null käme man nicht zur Anwendung der Ausnahme des § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG, da mit „Anspruch“ der „gesetzliche Anspruch“ gemeint ist, nicht jedoch die Ermessensreduzierung auf Null (Maor in BeckOK AuslR, AufenthG, 24. Ed. 1.8.2019, § 10 Rn. 11).
Der Vortrag des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, dass die Klägerin seitens der Ausländerbehörde angehalten worden sei, einen Asylantrag zu stellen und dass die damalige Betreuerin der Klägerin wohl keine Kenntnis von § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gehabt habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen sind die Ausnahmen in § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nach der eindeutigen Gesetzesformulierung als abschließend zu verstehen (Dienelt in Bergmann/Dienelt, AufenthG, 12. Aufl. 2018, § 10 Rn. 35), zum anderen ist anzumerken, dass die Betreuerin der Klägerin eine Rechtsanwältin war, die die Auswirkungen einer Asylantragstellung in der Situation der Klägerin kennen musste.
II.
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Bescheidung ihres Antrags auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Zwar sind diese Anspruchsgrundlagen nicht von der Sperrwirkung des § 10 Ab. 3 Satz 1 AufenthG umfasst und damit grundsätzlich auch im vorliegenden Fall anwendbar. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis jedoch zu Recht mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG abgelehnt.
1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 4 AufenthG liegen nicht vor, insbesondere stellt es nach Auffassung der Kammer für die Klägerin keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG dar, wenn sie das Bundesgebiet verlassen muss.
Das Tatbestandsmerkmal der außergewöhnlichen Härte ist nur für Notsituationen vorbehalten, die der Gesetzgeber nicht voraussehen und nicht regeln konnte. Eine außergewöhnliche Härte kann erst bei einer exzeptionellen Ausnahmesituation als gegeben angesehen werden. Die Aufenthaltsbeendigung muss den Ausländer deutlich härter treffen als andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation (Maaßen/Kluth in BeckOK AuslR, AufenthG, Stand: 1.11.2019, § 25 Rn. 85). Bei in Deutschland aufgewachsenen Ausländern kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, inwieweit der Ausländer in Deutschland verwurzelt ist. Das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbundenen Folgen sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BVerwG, U.v. 27.1.2009 – 1 C 40/07 – juris Rn. 26). Dabei sind insbesondere die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland, die Lebensunterhaltssicherung, die Berufsausbildung, soziale Bindungen in Deutschland außerhalb der Kernfamilie und die Frage eines Zusammenlebens mit den Familienangehörigen im Ausland zu berücksichtigen. Die Annahme einer außergewöhnlichen Härte auf Grund von Verwurzelung ist jedoch restriktiv handzuhaben (Maaßen/Kluth in BeckOK AuslR, AufenthG, § 25 Rn. 86.1). Eine Verwurzelung des Ausländers im Bundesgebiet setzt eine abgeschlossene und gelungene Integration des Ausländers in die Lebensverhältnisse in Deutschland voraus, von der nicht bereits dann ausgegangen werden kann, wenn sich der Ausländer für einen längeren Zeitraum in Deutschland aufgehalten hat. Ein konventionswidriger Eingriff in das Privatleben ist erst dann gegeben, wenn der Ausländer aufgrund seines längeren Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum „Aufnahmestaat“ verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung „faktisch zu einem Inländer“ geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug – mehr – hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (OVG Saarl, B.v. 3.9.2012 – 2 B 199/12 – juris Rn. 9).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegt im konkreten Einzelfall der Klägerin keine außergewöhnliche Härte vor. Die … 1979 geborene Klägerin reiste erstmals am 7. Dezember 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein. In der Türkei ist die Klägerin nach ihren eigenen Angaben zur Schule gegangen und hat später in einer Getränkefabrik in der Produktion gearbeitet. Ihre wesentliche Sozialisierung fand somit in der Türkei statt und war im Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland schon abgeschlossen. Trotz des mittlerweile fast 20-jährigen Aufenthalts in Deutschland ist eine Verwurzelung in die deutsche Gesellschaft nicht zu erkennen. Ein wesentlicher Bestandteil der Integration bzw. Grundvoraussetzung für eine Integration in die Lebensverhältnisse des Aufnahmestaates ist das Erlernen der Sprache. Die Klägerin benötigte für die Durchführung der mündlichen Verhandlung einen Dolmetscher für die türkische Sprache. Der Klägerin gelang es auch auf Zureden ihres Bevollmächtigten nicht, einfache Fragen des Gerichts in deutscher Sprache zu beantworten. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin nicht (allein) aufgrund der Nervosität in der mündlichen Verhandlung daran gehindert war, ihre Sprachkenntnisse zu zeigen, sondern dass die Klägerin bislang keine ernsthaften Bemühungen unternommen hat, die deutsche Sprache zu erlernen. Nach ihrer eigenen Aussage hat sie lediglich im Jahr 2002 oder 2003 eine Sprachschule besucht. Dementsprechend ist der Klägerin bisher auch keine berufliche Integration in Deutschland gelungen. In der mündlichen Verhandlung erklärte sie, dass sie in Deutschland keine Ausbildung absolviert habe und dass sie erstmals 2018 oder 2019 gearbeitet habe. Familiäre Anknüpfungspunkte in Deutschland sind ebenfalls nicht erkennbar. Die Klägerin hat keine Kinder oder andere Verwandte in Deutschland; ihre zwei Ehen sind gescheitert. Demgegenüber hat die Klägerin – wie sie selbst bestätigt hat – enge familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Dort leben ihre Eltern sowie ein Bruder und eine Schwester. Sie habe eine große Familie in der Türkei. Besonders starke soziale Bindungen in Deutschland außerhalb der Kernfamilie, die über bloße Bekanntschaften oder Freundschaften hinausgehen, wurden nicht vorgetragen. Das Gericht verkennt nicht, dass die Klägerin aufgrund ihrer ersten Ehe und der zeitweise bestehenden psychischen Problemen zunächst unter erschwerten Bedingungen in Deutschland leben musste und möglicherweise an einer Integration in die deutschen Lebensverhältnisse gehindert war. Die Trennung von ihrem ersten Ehemann erfolgte jedoch ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts … vom 17. Januar 2012 schon im Januar 2009. Dennoch ist es der Klägerin nicht gelungen, sich in die Lebensverhältnisse in Deutschland zu integrieren. Das Gericht ist davon überzeugt, dass es der Klägerin trotz ihrer gescheiterten Ehen und ihrer geltend gemachten Bisexualität gelingen kann, wieder in der Türkei Fuß zu fassen. Die Klägerin spricht die türkische Sprache und ist mit den dortigen Gepflogenheiten vertraut. Zudem lebt die komplette Familie der Klägerin in der Türkei. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es für die Klägerin aufgrund ihrer sexuellen Orientierung unzumutbar wäre, in ihr Heimatland zu gehen, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin mit ihrer damaligen Lebensgefährten im Jahr 2013 oder 2014 ihren Urlaub in der Türkei verbracht hat.
Im Rahmen einer Gesamtabwägung ist auch unter Berücksichtigung der Regelung des Art. 8 EMRK und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gegeben. Auf das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG kommt es somit nicht mehr entscheidungserheblich an.
2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor, insbesondere ist die Ausreise der Klägerin nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich. Zwar kann nach der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung ein rechtliches Ausreisehindernis in sogenannten „Verwurzelungsfällen“ aus den Menschenrechten auf Schutz des Familienlebens und des Privatlebens nach Art. 8 EMRK hergeleitet werden. Eine derartige Verwurzelung ist jedoch im Falle der Klägerin nicht gegeben. Auf die Ausführungen unter Ziffer II.1. wird verwiesen.
III.
Die Beklagte hat auch in nicht zu beanstandender Weise eine Rechtsstellung der Klägerin nach ARB 1/80 abgelehnt, ebenso begegnen der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung keine rechtlichen Bedenken. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Die Klage war somit vollumfänglich abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt geht zurück auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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