Europarecht

Kostenerstattung bei fortdauernder Leistungsverpflichtung

Aktenzeichen  Au 3 K 18.1562

Datum:
15.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35897
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 86 Abs. 2 S. 1, § 86c Abs. 1 S. 1, § 89c Abs. 1 S. 1, § 89e Abs. 1 S. 1
SGB X § 102 f.
VwGO § 167
GKG § 52 Abs. 3 S. 1
ZPO § 708 Nr. 11, § 711

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat letztlich keinen Anspruch auf Ersatz der ungedeckten Kosten, die sie als Hilfe zur Erziehung von * aufgewendet hat.
1. Allerdings sind die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i.V.m. § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII grundsätzlich gegeben. Obwohl die örtliche Zuständigkeit für die erbrachten Jugendhilfeleistungen mit * Mutters Strafantritt am 28. Oktober 2016 zum Beklagten gewechselt hat, hat die Klägerin im Rahmen ihrer Verpflichtung nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die anfallenden Kosten weiterhin aufgewendet.
Die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung von Jugendhilfeleistungen für * richtete sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt ihrer allein sorgeberechtigten Mutter (vgl. § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Ein gewöhnlicher Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt kann zwar nicht durch Untersuchungshaft, aber durch Strafhaft begründet werden (vgl. Loos in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 86 Rn. 6). Voraussetzung ist, dass sich aus den Umständen des Einzelfalls (wie etwa der voraussichtlichen Dauer der Strafhaft und den sonstigen Lebensumständen der Untergebrachten) ergibt, dass sie sich dort nicht nur vorübergehend aufhält, sondern nunmehr bis auf Weiteres den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen hat (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2010 – 5 C 21.09 – juris Rn. 14). Beim Antritt der Strafhaft am 28. Oktober 2016 musste * Mutter auch unter Berücksichtigung der Anrechnung der Untersuchungshaft und der üblichen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe damit rechnen, erst ca. zwei Jahre und zwei Monate später entlassen zu werden. Bei dieser Prognose ist nicht nur die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten durch das Urteil des Landgerichts * vom 4. Mai 2016 zu berücksichtigen, sondern auch diejenige zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten auf Bewährung durch das Urteil des Amtsgerichts * vom 1. August 2011, weil * Mutter wegen Rückfälligkeit mit einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung rechnen musste. Die Richtigkeit dieser Prognose wird dadurch bestätigt, dass ihre Strafhaft erst am 20. Dezember 2018 endete. Zwar wollte sie stets in das vor ihrer Verhaftung von ihr bewohnte Anwesen im Stadtgebiet der Klägerin zurückkehren (siehe Niederschrift des Landratsamts * vom 19.3.2018). Dies war jedoch angesichts der am 23. Februar 2016 erfolgten Zwangsräumung und angehäufter Mietrückstände in sechsstelliger Höhe (vgl. Schreiben der Eigentümerin vom 30.10.2015) völlig unrealistisch. Auch der allgemeine Wunsch, sich nach der Haftentlassung, also nach mehr als drei Jahren haftbedingter Abwesenheit, dauerhaft im Stadtgebiet der Klägerin niederzulassen, war wenig realistisch, wie der fehlgeschlagene Versuch nach der Haftentlassung zeigt. Trotz mehrerer (Kurz-)Aufenthalte im Stadtgebiet der Klägerin konnte * Mutter dort nicht mehr dauerhaft unterkommen, so dass sie sich in einer Wohnung in * in der Nähe ihres Elternhauses niederließ (vgl. Schreiben der Klägerin vom 9.8.2019).
2. Der Kostenerstattungsanspruch nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist jedoch ausgeschlossen, weil ihm ein gegenläufiger Kostenerstattungsanspruch des Beklagten nach § 89e SGB VIII gegenübersteht. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck der in den §§ 89 ff. SGB VIII enthaltenen Kostenerstattungsregelungen. Eine Kostenerstattung, die unverzüglich rückgängig zu machen ist, würde keinen Sinn ergeben. Davon ist ersichtlich auch die Klägerin ausgegangen (vgl. Schreiben der Klägerin vom 26.1.2017 und 10.8.2017).
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dient dem Schutz der Einrichtungsorte. Richtet sich – wie hier – die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung einer Jugendhilfeleistung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils und ist dieser in einer dem Strafvollzug dienenden Einrichtung begründet worden, so ist der örtliche Träger zur Erstattung der Kosten verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung den gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Da * Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt bis zu ihrem Strafantritt am 28. Oktober 2016 weiter im Stadtgebiet der Klägerin hatte, ist diese demnach ihrerseits dem Beklagten zur Erstattung anfallender Kosten verpflichtet.
Entgegen der Auffassung der Klägerin hat * Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet der Klägerin nicht während der Untersuchungshaft verloren. Auch eine längere Untersuchungshaft beendet regelmäßig nicht einen gewöhnlichen Aufenthalt, weil diese Haftform nach ihrem Zweck und ihrer gesetzlichen Ausgestaltung nur vorübergehend ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2010 – 5 C 21.09 – juris Rn. 27 und 32). Eine Ausnahme von dieser Regel ist hier auch nicht im Hinblick auf die am 23. Februar 2016 erfolgte Zwangsräumung des von * Mutter angemieteten Anwesens zu bejahen. Die von ihr gewünschte Rückkehr bzw. Wiedereinweisung in das Anwesen war zwar aus den genannten Gründen bereits damals völlig unrealistisch. Eine Rückkehr an einen anderen Ort im Stadtgebiet der Klägerin erschien damals aber durchaus naheliegend. So beantragte * Mutter mit Schreiben vom 31. Januar 2016 angesichts der drohenden Zwangsräumung ausdrücklich eine Wohnraumzuweisung durch die Klägerin für sich und ihre fünf Kinder. Da sie sich damals in Untersuchungshaft befand und ihre Kinder bei der Tante bzw. den Großeltern in * untergebracht waren, wurde das Anliegen zwar abschlägig verbeschieden. Bei einer – grundsätzlich jederzeit möglichen – Entlassung aus der Untersuchungshaft wäre die Sachlage jedoch grundlegend anders gewesen. Der Kindsmutter stand damals das Sorgerecht einschließlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts für sämtliche fünf Kinder uneingeschränkt zu. Diese hielten sich zur damaligen Zeit erst einige Wochen bei ihrer Tante bzw. den Großeltern auf, so dass von einer Verfestigung des dortigen Aufenthalts noch keine Rede sein konnte. Das Wohnhaus der Tante (*str. * in *) und dasjenige der Großeltern (*str. * in *) sind ohnehin weniger als 500 m von der Stadtgrenze bzw. vom Stadtgebiet der Klägerin entfernt. Unter diesen Umständen wäre es nach Einschätzung des Gerichts nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die alleinerziehende Mutter für sich und ihre fünf Kinder im Rahmen der kommunalen Wohnungsfürsorge eine (Sozial-)Wohnung im Stadtgebiet der Klägerin zugeteilt bekommen hätte. Im Hinblick auf diese Rückkehrperspektive und den früheren langjährigen Aufenthalt im Stadtgebiet der Klägerin hat * Mutter ihren dortigen gewöhnlichen Aufenthalt auch nicht durch die Zwangsräumung des von ihr angemieteten Anwesens verloren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO. Da der Beigeladene einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, dass die Klägerin auch seine außergerichtlichen Kosten trägt.
Die Kostenentscheidung war gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.


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