Europarecht

Leistungen, Berufung, Krankheitsfall, Auslegung, Quartal, Bindungswirkung, GOP, Bewertungsausschuss, Land, Leistungserbringer, Zuschlag, Rechtskraft, EBM-Ä, Nachweis, Selbstbindung der Verwaltung, unbestimmter Rechtsbegriff, gerichtliche Entscheidung

Aktenzeichen  S 38 KA 105/21, S 38 KA 106/21, S 38 KA 107/21

Datum:
28.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18121
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

1. Wird ein Urteil von einer Behörde nicht mit der Berufung angegriffen und damit rechtskräftig, entsteht dadurch noch keine Selbstbindung der Verwaltung. Grundsätzlich setzt eine Selbstbindung der Verwaltung ein aktives Tun voraus.
2. Die Formulierung in § 21 Abs. 1 S. 9 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) stellt keine Definition des Krankheitsfalls dar. Vielmehr handelt es sich um eine zeitliche Eingrenzung des Krankheitsfalls (vgl LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.02.2012, Az L 11 KA 71/08; a. A. BayLSG, Urteil vom 16.09.2020, Az L 12 KA 24/19).

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides und der diesem als Anlage beigefügten Richtigstellungsmitteilung, eingegangen am 16.05.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2021, zur Post gegeben am 12.05.2021 und eingegangen am 17.05.2021 bezüglich des Quartals mit dem Doku-Zeichen: X1. verurteilt, das klägerische Honorar ohne Absetzung der Gebührenpositionen 01793/L5/B1(1x), 11501/L5/B1(1x), 11502/L5/B1(1x), 11503/L5/B1(2x). 11513/L3/B1(20x), 11513y/L3/B1(58x), 11514/L3/B1(1x), 11302/L3/B1(1x) in Höhe von 7.001,48 Euro zu vergüten.
Ferner wird die Beklagte unter Abänderung des Bescheides und der diesem als Anlage beigefügten Richtigstellungsmitteilung eingegangen am 16.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2021, dieser zur Post gegeben am 12.05.2021 und eingegangen am 17.05.2021 bezüglich des Quartals 1/2019 mit dem Doku-Zeichen: Y1. verurteilt, das klägerische Honorar ohne Absetzung der Gebührenpositionen 01793/L4/B1(1x), 11501/L4/B1(1x), 11502/L4/B1(1x) 11514/L2/B1(1x) EBM in Höhe von insgesamt 4.047,87 Euro zu vergüten.
Des Weiteren wird die Beklagte unter der Abänderung des Bescheides und der diesem als Anlage beigefügten Richtigstellungsmitteilung eingegangen am 19.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2021, zur Post gegeben am 12.05.2021 und eingegangen am 17.05.2021 bezüglich des Quartals 4/2019 mit dem Doku-Zeichen: Z1. verurteilt, das klägerische Honorar ohne Absetzung der Gebührenposition 01793/L4/B1(1x) in Höhe von 569,92 Euro zu vergüten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des/der Verfahren

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegten Klagen sind zulässig und erweisen sich auch als begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Im in den jeweiligen Quartalen gültigen EBM sind die strittigen Leistungen wie folgt beschrieben:
– EBM 11301: Grundpauschale humangenetische in vitro-Diagnostik bei Probeneinsendung Abrechnungsausschluss im Krankheitsfall
– EBM 11302: ärztliche Beurteilung und Gemeinkosten konstitutioneller genetischer Analysen; als Zuschlag zu aufwendig zu beurteilenden Untersuchungen berechenbar
– EBM 11501: Zuschlag zu den Gebührenordnungspositionen 11502 und 11503 für die Anwendung eines Kulturverfahrens zur Anzucht von Zellen und Präparation der Zellkerne zu weiteren Analysen einmal im Krankheitsfall
– EBM 11502: postnatale Bestimmung des konstitutionellen Karyotyps mittels lichtmikroskopischer Bänderungsanalyse einmal im Krankheitsfall
– EBM 11503: postnatale molekularzytogenetische Charakterisierung konstitutioneller chromosomaler Aberrationen an Interoder Metaphasen mittels in-situ Hybridisierung Abrechnungsausschlüsse im Krankheitsfall
– EBM 11512: gezielter Nachweis oder Ausschluss von krankheitsrelevanten oder krankheitsauslösenden großen Deletionen und/oder Duplikationen, je Gen; Abrechnungsausschlüsse – im Krankheitsfall – Leistungen 01793
– EBM 11513: postnatale Mutationssuche zum Nachweis oder Ausschluss einer krankheitsrelevanten oder krankheitsauslösenden konstitutionellen genomischen Mutation in bis zu 25 Kilo Basen kodierender Sequenz einschließlich zugehöriger regulatorischer Sequenzen, je vollendete 250 kodierende Basen; Abrechnungsausschlüsse – im Krankheitsfall Leistungen – 01793, 11514
– EBM 11514: Erweiterte Mutationssuche über 25 Kilo Basen, einmal im Krankheitsfall berechnungsfähig.
– EBM 01793: pränatale zytogenetische Untersuchung (EBM) im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge, je Fötus, einmal im Krankheitsfall; Abrechnungsausschlüsseim Behandlungsfall – Leistungen 01600, 01601, 08576 im Krankheitsfall 11501, 11502, 11503, 11506, 11508, 11511, 11512, 11513, 11514, 11516, 1..1517
Über die Ausschlüsse im Zusammenhang mit den GOP 11501 ff EBM hat das Sozialgericht München mit Urteil vom 15.05.2019 (Az S 38 KA 205/18) auch im Verhältnis der Klägerin zu der Beklagten, allerdings ein anderes Quartal betreffend entschieden und der Klage stattgegeben. Nach Auffassung des Gerichts besteht keine Veranlassung, die Sachund Rechtslage nunmehr anders zu beurteilen als im rechtskräftigen Urteil von damals und seine dort vertretene Rechtsauffassung zu revidieren.
Eine Auseinandersetzung mit der Frage des hier streitgegenständlichen Ausschlusses von Leistungen würde sich dann erübrigen, wenn – wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausführt – von dem Urteil des Sozialgerichts München vom 15.05.2019 eine Bindungswirkung für die Beklagte ausgehen würde. Die Entscheidung wurde rechtskräftig, da die Beklagte diese nicht mit Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht angefochten hat, was zwischen den Beteiligten unstrittig ist. Damit ist sowohl formelle Rechtskraft, als auch materielle Rechtskraft mit den damit verbundenen Wirkungen eingetreten. Nach § 141 Abs. 1 SGG binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Die Rechtskraft dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit und sie ist auch zu beachten, wenn die rechtskräftige Entscheidung falsch ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn. 3 zu § 141). Die Wirkungen der Rechtskraft bestehen insbesondere darin, dass eine neue Klage über denselben Klagegegenstand unzulässig wäre und die Beteiligten mit jeglichem tatsächlichen Vorbringen ausgeschlossen sind (Präklusionswirkung). Grundsätzlich erwächst nur die Urteilsformel in materielle Rechtskraft (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn. 3 zu § 141).
Soweit von der Klägerseite geltend gemacht wird, es gehe von dem Urteil des Sozialgerichts München eine Bindung aus, ist dies keine Frage der Rechtskraft. Denn es handelt sich um unterschiedliche Streitgegenstände nach § 95 SGG, die ihrerseits auch festgelegt sind durch die jeweiligen unterschiedlichen Verwaltungsakte. Die im rechtskräftigen Verfahren angefochtenen Verwaltungsakte sind andere als die in den nunmehr streitgegenständlichen Verfahren. Diese Bescheide beziehen sich auch auf andere Quartale und auf andere Patientinnen. Einzuräumen ist allerdings, dass die Verfahrensbeteiligten identisch sind und auch über das gleiche Rechtsproblem zu entscheiden ist.
Vielmehr handelt es sich um eine Frage der Selbstbindung der Verwaltung, die im Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils des Sozialgerichts München steht. Dabei ist zu klären, ob eine Selbstbindung der Beklagten dadurch entstanden ist, dass diese gegen das Urteil des SG B-Stadt keine Berufung eingelegt hat. Die Beklagte macht geltend, aufgrund eines Büroversehens sei dies nicht geschehen. Letztendlich geht es auch bei der Selbstbindung der Verwaltung um Vertrauensschutz. Durfte die Klägerin aufgrund der Rechtskraft des vorausgegangenen Urteils des SG B-Stadt darauf vertrauen, dass sich die Beklagte auch für andere Quartale, in denen die gleiche Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, der Rechtsauffassung des Gerichts anschließt?
Von der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein willkürliches Abweichen der Behörden von ihrer eigenen bzw. der sonst allgemein von den Behörden im Geltungsbereich des Gesetzes bisher in vergleichbaren Fällen eingehaltenen und auch weiterhin beabsichtigten ständigen Praxis unzulässig ist, sofern die in dieser Praxis zugrunde liegenden Erwägungen der Zielsetzung der vom Gesetz eingeräumten Ermächtigung entsprechen (vgl. Kopp/Ramsauer, Kommentar zum VwVfG, Rn. 25 zu § 40). Das Bundesverwaltungsgericht und ihm folgend das VG Augsburg (BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, Az 1 C 12/92; VG Augsburg, Urteil vom 12.09.2018, Az An 4 K 18.203) haben die Auffassung vertreten, ein rechtskräftiges Urteil wirke sich auch auf nachfolgende Verwaltungsakte aus. Konkret hat das VG Augsburg wie folgt ausgeführt: „Die im Erstprozess unterlegene Behörde darf den obsiegenden Kläger nicht erneut in eine Prozesssituation bringen, in der dieselben Sachund Rechtsfragen zu beantworten sind. Die unterlegene Behörde hat zur Bewahrung des Rechtsfriedens die gegen sie ergangene gerichtliche Entscheidung loyal zu beachten.“ Dies würde dafür sprechen, eine Bindungswirkung an das rechtskräftige Urteil des SG B-Stadt vom 15.05.2019 zu bejahen.
Andererseits setzt, wie bereits ausgeführt, eine Selbstbindung der Verwaltung eine ständige Praxis der Verwaltung, hier der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns voraus. Es erscheint zweifelhaft, ob die Nichteinlegung der Berufung – aus welchen Gründen auch immer – mit der Folge, dass das Urteil rechtskräftig wurde, eine solche ständige Praxis der Verwaltung darstellt. Nach Auffassung des Gerichts kann grundsätzlich eine ständige Praxis nur in einem aktiven Tun bestehen, nicht aber in einem Unterlassen. Zu einer anderen Beurteilung könnte man gelangen, wenn die Behörde wiederholt die Möglichkeit nicht wahrgenommen hat, Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil einzulegen. Dies ist aber hier nicht der Fall.
Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass von einer Selbstbindung der Beklagten nicht auszugehen ist. Darauf kommt es aber letztendlich nicht an. Denn die Sachund Rechtslage ist nicht anders zu beurteilen als im vorausgegangenen rechtskräftigen Urteil.
Nach der langjährigen Rechtsprechung der Sozialgerichte (vgl BSG, Urteil vom 16.12.2015, Az B 6 KA 39/15 R) ist für die Auslegung in erster Linie der Wortlaut der Leistungslegenden maßgeblich. Eine systematische Interpretation im Sinne einer Gesamtschau der im inneren Zusammenhang stehenden vergleichbaren oder ähnlichen Gebührenregelungen kommt nur bei unklaren oder mehrdeutigen Regelungen ergänzend in Betracht (BSG, SozR 3-5535 Nr. 119 Nr. 1 S. 5). Bei eindeutigem Wortlaut der Leistungslegende ist auch eine teleologische Reduktion nicht angezeigt.
Soweit die Beklagte auf eine Entscheidung des BayLSG (BayLSG, Urteil vom 16.09.2020, Az L 12 KA 24/19) hinweist, ist festzustellen, dass hiermit zum Ansatz der GOP 01816 (Chlamydia trachomatis mittels eines geeigneten Antigennachweises oder eines Nukleinsäurennachweises ohne Amplifikation) entschieden wurde. Das BayLSG hat die Auffassung vertreten, der Begriff „Krankheitsfall“ in § 21 Abs. 1 S. 9 BMV-Ä sei eindeutig definiert, auch wenn die Mutterschaft-Richtlinien in keiner Fassung eine Beschränkung der Untersuchung bei kurz hintereinander folgenden Schwangerschaften, etwa nach vorzeitiger Beendigung einer Schwangerschaft vorgesehen hätten. Deshalb sei eine systematische Interpretation oder eine entstehungsgeschichtliche Interpretation nicht vorzunehmen. Auch scheide eine teleologische Interpretation aus. Denn die Gerichte dürften grundsätzlich nicht mit punktuellen Entscheidungen in das Gefüge des EBM-Ä eingreifen (BSG, Urteil vom 16.12.2015, Az B 6 KA 39/15 R).
Die Auffassung, wonach der Wortlaut eindeutig ist, wird seitens des SG B-Stadt nicht geteilt. Insofern steht der Wortlaut einer teleologischen Auslegung nicht entgegen. Auch wird durch die Sichtweise des SG B-Stadt nicht unzulässigerweise in das Regelungsgefüge des EBM eingegriffen. Denn, in § 21 Abs. 1 S. 9 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) wird zwar festgelegt, dass ein „Krankheitsfall“ das aktuelle sowie die nachfolgenden drei Kalendervierteljahre, die der Berechnung der krankheitsfallbezogenen Leistungsposition folgen, umfasst. Im Gegensatz dazu bezieht sich der „Behandlungsfall“ lediglich auf ein Kalendervierteljahr. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine exakte Definition des „Krankheitsfalls“, sondern nur um eine zeitliche Eingrenzung des Krankheitsfalls (vgl LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.02.2012, Az L 11 KA 71/08). Auch im EBM findet sich keine Definition des Krankheitsfalls. Es ist daher von einem unbestimmten Rechtsbegriff „Krankheitsfall“ auszugehen, der nicht eindeutig und der Auslegung zugänglich ist. Insofern kann auf den Wortlaut nicht abgestellt werden. Unter dem Begriff „Krankheitsfall“ ist ein permanenter, durchgängiger und einheitlicher Zustand einer gesundheitlichen Störung zu verstehen. Dies bringt es per se mit sich, dass der „Krankheitsfall“ auch innerhalb der Zeitspanne von 4 Quartalen (§ 21 Abs. 1 S.9 BMV-Ä) zeitlich begrenzt sein kann. Endet eine gesundheitliche Störung, endet damit auch der „Krankheitsfall“. Bei einer erneuten gesundheitlichen Störung entsteht ein neuer „Krankheitsfall“. Abrechnungsausschlüsse, wie bei den GOP´s 11512, 11513 und 11513Y sowie bei 01793 betreffen nur einen einheitlichen „Krankheitsfall“ und nicht mehrere „Krankheitsfälle“, auch wenn sie in die Zeitspanne von 4 Quartalen fallen. Dafür spricht auch -wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausführt -, dass es sich bei der Leistung nach der GOP 01793 um die Untersuchung kindlicher Zellen handelt mit der Konsequenz, dass nicht auf die Mutter, sondern auf den Fötus abzustellen sei.
In Anwendung dieser Überlegungen auf die streitgegenständlichen Verfahren konnten die sachlich-rechnerischen Richtigstellungen nicht auf den Abrechnungsausschluss im Anschluss an die Leistungslegende der GOP 01793 Kapitel 11.4.4 gestützt werden. Wurden in Vorquartalen Leistungen erbracht, die einen früheren „Krankheitsfall“ betreffen, erstrecken sich die Abrechnungsausschlüsse nicht auf einen neuen „Krankheitsfall“.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


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