Europarecht

Nepalesische Familie mit Kleinkindern, Volltäuscher über Identität und Staatsangehörigkeit, Rücknahme der Aufenthaltstitel mit Wirkung für die Vergangenheit, Ausweisung, Verlust der durch Geburt erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit (verneint)

Aktenzeichen  M 4 K 20.2385

Datum:
12.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 48664
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVwVfG Art. 48
AufenthG §§ 53 ff.
AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2
AufenthG § 11 Abs. 1
AEUV Art. 20
§ 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG

 

Leitsatz

Die Erteilung einer Duldung an den drittstaatsangehörigen ausgewiesenen Elternteil eines Unionsbürgers ohne Aufenthaltsrecht aus nationalem Recht, unionsrechtlichem Sekundärrecht oder abgeleitetem Primärrecht reicht aus, um dem minderjährigen Unionsbürger den tatsächlichen Genuss des Kernbestands seiner Unionsbürgerrechte i.S.d Rechtsprechung des EuGH zu Art. 20 AEUV (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 49 m.w.N.) zu gewährleisten; die Gewährung eines bislang nicht weiter definierten Aufenthaltsrechts „sui generis“ ist nicht erforderlich (a.A. VG Düsseldorf, U.v. 19.11.2020 – 8 K 5232/19 – ZAR 2021, 173 – Ls. 2).

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zum Teil unzulässig, und im Übrigen unbegründet.
I. Die Klage ist nur teilweise zulässig.
1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft und zulässig, soweit sie sich gegen die Rücknahme der Aufenthaltstitel der Klägerin (Nr. 1), ihre Ausweisung (Nr. 3 Satz 1), die befristete Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von vier bzw. zwei Jahren unter der Bedingung, dass das am … geborene Kind der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verliert (Nr. 3 Satz 2), sowie die Verpflichtung, die Niederlassungserlaubnis und den Reiseausweis für Ausländer unverzüglich nach Bestandskraft bei der Ausländerbehörde abzugeben (Nr. 6), richtet.
2. Die Anfechtungsklage ist jedoch unstatthaft und unzulässig, soweit sie sich gegen die Feststellung in Nr. 2 richtet, dass in Bezug auf die Person der Klägerin keine Zeiten vorliegen, in denen ihr der Aufenthalt in Deutschland erlaubt war (Nr. 2). Es handelt sich hierbei nur um einen Hinweis an die Klägerin ohne Regelungswirkung.
3. Die hilfsweise erhobene Klage auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist als Verpflichtungsklage zulässig im Hinblick auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes, bzw. im Hinblick auf ein evtl. unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als Leistungsklage (BVerwG, U.v. 23.9.2020 – 1 C 27/19 – juris Rn. 14).
4. Ferner ist die hilfsweise erhobene Verpflichtungsklage auch insoweit zulässig, als sie sich auf die Verkürzung der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots bezieht.
II. Die Klage ist – soweit sie zulässig ist – unbegründet.
Der angegriffene Bescheid erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Rücknahme der Aufenthaltstitel (1.), die Ausweisung (2.), und die Verpflichtung, die erteilten Aufenthaltstitel und den Reiseausweis für Ausländer bei der Beklagten abzugeben (3.), sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat auch keinen hilfsweisen Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. Feststellung eines Aufenthaltsrechts (4.) oder die kürzere Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (5.).
1. Die Rücknahme der Aufenthaltstitel der Klägerin mit jeweils ursprünglicher Wirkung ist rechtmäßig.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist der einem Volltäuscher erteilte Aufenthaltstitel nicht bereits nichtig (BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 16/16 – juris Rn. 22).
Die der Klägerin erteilten Aufenthaltserlaubnisse und die Niederlassungserlaubnis sind nach Art. 48 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG rechtswidrig (1.1.). Die Klägerin kann sich wegen ihrer arglistigen Täuschungen nicht auf Vertrauensschutz (1.2.) oder die Begrenzung der Rücknahmefrist auf ein Jahr (1.3.) berufen. Ermessensfehler bei der Ausübung des Rücknahmeermessens sind nicht ersichtlich (1.4.).
1.1. Die der Klägerin am … und … gemäß § 104a Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 23 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnisse (1.1.1.) sowie die am … nach § 26 Abs. 4 AufenthG erteilte Niederlassungserlaubnis (1.1.2.) sind rechtswidrig, da deren Erteilungsvoraussetzungen nicht vorlagen.
1.1.1. Nach der Altfallregelung des § 104a Abs. 1 Satz 2 i.V.m § 23 Abs. 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am … 2007 seit mindestens acht Jahren oder, falls er zusammen mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Gemäß § 104a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG darf die Aufenthaltserlaubnis aber nur erteilt werden, wenn der Ausländer die Ausländerbehörde nicht vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht hat.
Vorliegend hat die Klägerin gegenüber der Beklagten vor Offenlegung ihrer wahren Identität im Jahr 2016 weder ihren richtigen Namen, Geburtsort und Geburtsdatum noch ihre zutreffende Staatsangehörigkeit, sondern stattdessen seit ihrer Einreise im Jahr 2003 eine bhutanische Aliasidentität angegeben und damit die Ausländerbehörde vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Tatsachen getäuscht.
1.1.2. Die Niederlassungserlaubnis ist nach § 26 Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 4 AufenthG rechtswidrig erteilt worden, da wegen der Rücknahme der Aufenthaltserlaubnisse mit Wirkung für die Vergangenheit deren fünfjährige Besitzzeit rückwirkend entfällt und die Klägerin außerdem wiederholt über ihre Identität, ihre Staatsangehörigkeit und ihren Familienstand getäuscht hat und deswegen Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis entgegen gestanden haben (§§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG).
1.2. Die Klägerin kann sich nicht auf Vertrauensschutz im Sinne des Art. 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BayVwVfG berufen.
Für begünstigende Verwaltungsakte, wie die Erteilung von Aufenthaltstiteln, gelten hinsichtlich der Möglichkeit der Rücknahme Einschränkungen gemäß Art. 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BayVwVfG. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach Art. 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 BayVwVfG jedoch nicht berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. Dies ist vorliegend jedoch der Fall. Die Klägerin hat sowohl die Aufenthaltserlaubnisse als auch die Niederlassungserlaubnis durch arglistige Täuschung erwirkt.
Eine Täuschung liegt mit der Angabe einer Aliasidentität und der bhutanischen Staatsangehörigkeit im Asylverfahren und bei den Ausländerbehörden vor. Um eine arglistige Täuschung handelt es sich, wenn die Adressatin des Verwaltungsaktes durch Angaben, deren Unrichtigkeit ihr bewusst waren oder deren Unrichtigkeit sie für möglich hielt, jedoch in Kauf nahm, bei Behördenmitarbeitern einen Irrtum in dem Bewusstsein hervorruft, diese durch Täuschung zu einer für sie günstigen Entscheidung zu bestimmen (VGH BW, B.v. 14.8.2015 – 2 S 384/14 – juris Rn. 28). Die Klägerin machte bewusst umfassend falsche Angaben, indem sie wahrheitswidrig unter anderem im Asylverfahren, vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig und bei der Beklagten im ausländerrechtlichen Verfahren angab, bhutanische Staatsangehörige zu sein. Mithilfe der arglistigen Täuschung wollte die Klägerin für sich Aufenthaltstitel erwirken, auf die sie ohne die arglistige Täuschung keinen Anspruch gehabt hätte. Weder die o.g. Aufenthaltserlaubnisse noch die Niederlassungserlaubnis wären in Kenntnis der wahren Identität und Staatsangehörigkeit der Klägerin im jeweiligen Erteilungszeitpunkt erteilt worden.
1.3. Die zeitliche Begrenzung der Möglichkeit von Rücknahmen durch die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG steht einer Rücknahme der Aufenthaltstitel der Klägerin vorliegend nicht entgegen, da die Jahresfrist in Fällen der arglistigen Täuschung – wie hier – nicht gilt, Art. 48 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG.
1.4. Die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnisse und der Niederlassungserlaubnis der Klägerin erfolgte ermessensfehlerfrei. Das Gericht überprüft die Entscheidung der Beklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 11) lediglich auf das Vorliegen von Ermessensfehlern, § 114 Satz 1 VwGO.
Eine Entscheidung über den Fortbestand der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter der Klägerin ist im Rahmen der Prüfung des Rücknahmeermessens entbehrlich. Die Ermessensausübung erweist sich unabhängig von der zu treffenden Entscheidung im Verfahren … sowohl für den Fall, dass die Tochter, die deutsche Staatsangehörigkeit behält, als auch, dass sie sie verloren hat, als rechtmäßig.
Die Einschätzung der Beklagten, dass in Anbetracht aller genannten Umstände, selbst einer deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter, der Herstellung rechtmäßiger Zustände durch die Rücknahme der durch falsche Angaben erschlichenen Aufenthaltstitel der Vorrang einzuräumen ist, ist nicht zu beanstanden. Es ist weder ein Ermessensausfall oder eine Fehlgewichtung von Ermessensgesichtspunkten noch eine Ermessensüberschreitung ersichtlich. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die deutsche Staatsangehörigkeit der Tochter der Klägerin dazu führen würde, dass die Ausreisepflicht der Klägerin und ihrer Familie trotz der Rücknahme der Aufenthaltstitel unter Umständen faktisch bis zur Volljährigkeit des deutschen Kindes wegen eines Duldungsanspruchs aus familiären Gründen nicht vollzogen wird (s. hierzu nachfolgend Rn. 100 ff.). Die arglistige Täuschung fällt im Rahmen der Ausübung des Ermessens über das Ob der Rücknahme und über den Zeitpunkt der Rücknahme vorliegend zu Lasten der Klägerin ins Gewicht (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 1.8.2012 – 8 LA 137/11 – juris Rn. 8). Ein Überwiegen der ausführlich von der Beklagten dargestellten, schwerwiegenden öffentlichen Interessen an der Rücknahme der Aufenthaltstitel der Klägerin ist daher unter Annahme des Erhalts der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes der Klägerin ermessensfehlerfrei von der Beklagten angenommen worden. Erst recht liegt dann aber kein Ermessensfehler bei Einschätzung der Beklagten vor, für den Fall, dass, die Tochter der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben sollte.
2. Die Ausweisung der Klägerin aus der Bundesrepublik Deutschland ist rechtmäßig.
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Die Anwesenheit der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar (2.1.). Auch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ergibt die Abwägung der Interessen, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen der Klägerin überwiegt, § 53 Abs. 1 AufenthG (2.2.).
2.1. Der weitere Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG dar.
Bei der Klägerin liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, da sie sich bewusst und gewollt durch unrichtige Angaben über ihre Identität und Staatsangehörigkeit im Asylverfahren und bei den Ausländerbehörden zunächst eine Duldung und später Aufenthaltstitel beschaffte (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Dabei handelt es sich auch nicht um einen geringfügigen Rechtsverstoß. Vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) stellen nach Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar (BayVGH, B.v. 18.9.2020 – 10 CE 20.1914, 10 CS 20.1915 – juris Rn. 30; B.v. 29.3.2021 – 10 B 18.943 – juris Rn. 52). Entgegenstehende Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich.
Dabei führt auch Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO zu keinem abweichenden Ergebnis, da es für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses unerheblich ist, ob der Verstoß tatsächlich geahndet worden ist. Es genügt insoweit allein die Begehung der Tat, wovon die Kammer vorliegend ausgeht (vgl. BeckOK MigR/Katzer AufenthG, § 54 Rn. 98).
Auf Grundlage der über 13 Jahre lang aufrechterhaltenen und wiederholten Identitätstäuschung der Klägerin ist prognostisch davon auszugehen, dass die Klägerin in Zukunft – auch gesetzeswidrige – Möglichkeiten nutzen wird, um ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bzw. aufenthaltsrechtliche Vorteile zu sichern. Die Täuschungen verübte die Klägerin systematisch unter zu missbilligender Ausnutzung der Möglichkeiten des deutschen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Rechtssystems. Die Klägerin reiste planmäßig unter Angabe einer falschen Identität und Staatsangehörigkeit ein. Sie konnte bis zur erstmaligen Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Altfallregelung des § 104a AufenthG im Jahr 2008 nur wegen der fehlenden Passpapierbeschaffung nicht abgeschoben werden. Ebenso vorsätzlich und planvoll täuschend verfuhr die Klägerin, als sie im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig angab, sie sei bhutanische Staatsangehörige, habe in ihrem Heimatland Zwangsarbeit leisten müssen und sei vergewaltigt worden. Mit hoher krimineller Energie täuschte die Klägerin die deutschen Behörden jahrelang bis zum Erwerb eines unbefristeten Aufenthaltsrechts. Die nachträglich beantragte „Berichtigung“ des melde- und ausländerrechtlichen Datensatzes unter Vorlage eines bereits ausgestellten Reisepasses nach Erhalt der Niederlassungserlaubnis zeugt von einer ausgeprägten planvollen Berechnung bzw. mangelndem Unrechtsbewusstsein, die die weitere von der Klägerin ausgehende Gefahr belegt. Vor diesem Hintergrund geht das Gericht nicht davon aus, dass die Klägerin ihr Verhalten bei Kontakt zu Behörden, insbesondere in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, in Zukunft maßgeblich ändern wird.
Überdies liegen auch erhebliche generalpräventive Gründe für die Ausweisung vor. § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der weitere „Aufenthalt“ des Ausländers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Verstöße zu begehen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17). Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83 – juris Rn. 24; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77 – juris Rn. 37; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06 – juris Rn. 23 ff.). Es liegt vorliegend im öffentlichen Interesse, die von der Klägerin begangenen Verstöße mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Es soll anderen Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Verstöße, hier insbesondere gegen die Mitwirkungspflichten im Rahmen der Identitätsklärung, zur Aufenthaltsbeendigung und einem Aufenthaltsverbot führen. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen. Die konsequente Ahndung ist geeignet, unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen Vergehen generalpräventiv vorzubeugen.
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist im Falle der Klägerin auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8). Ungeachtet der Entscheidung der Staatsanwaltschaft München I, das Verfahren gegen die Klägerin infolge Verjährung gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, sind die unrichtigen Angaben, die zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis führten, unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Verjährungsfristen nach § 78 a Abs. 3 Nr. 4 StGB und § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB für das Ausweisungsinteresse noch aktuell. Die Verjährungsfrist begann mit Beendigung der Tat durch Offenbarung der wahren Identität der Klägerin am 15. Oktober 2016 zu laufen, sodass zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2021 noch nicht einmal die einfache Verjährungsfrist von fünf Jahren gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB abgelaufen ist (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 23 ff.). Unabhängig davon ist, selbst wenn man hierbei für den Zeitpunkt der Tatbeendigung auf den Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels abstellen würde (Bergmann/Dienelt/Winkelmann/Stephan, AufenthG § 95 Rn. 106), auch hinsichtlich der bis 31. Dezember 2011 befristet erteilten Aufenthaltserlaubnis zumindest die absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht erreicht. Mithin ist das auf die Identitätstäuschung gestützte Ausweisungsinteresse unter besonderer Berücksichtigung der generalpräventiven Erwägungen zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch aktuell (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 23 ff.).
2.2. Die Abwägung ergibt – selbst bei zu Gunsten der Klägerin unterstelltem Fortbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter – dass das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse der Klägerin überwiegt, § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG.
Eine inzidente Entscheidung über den Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter der Klägerin kann auch im Rahmen der Prüfung der Ausweisung dahinstehen, da das öffentliche Ausweisungsinteresse das klägerische Bleibeinteresse für den Fall des Fortbestehens der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter (2.2.1.) sowie erst recht im Fall des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit (2.2.2.) überwiegt.
2.2.1. Die Ausweisung der Klägerin ist wegen der von ihr ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in spezial- und generalpräventiver Hinsicht aufgrund der langen systematischen Identitätstäuschung gegenüber den Behörden selbst bei Berücksichtigung der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter der Klägerin rechtmäßig.
Bei der erforderlichen Abwägung ist die deutsche Staatsangehörigkeit der am … geborenen Tochter der Klägerin zu ihren Gunsten als besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse maßgeblich zu berücksichtigen, § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG.
Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Klägerin wegen der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter sowie der Krankheit ihres Sohnes nach Auffassung des Gerichts ein Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus familiären Gründen zusteht (s. hierzu nachfolgend Rn. 100 ff.). Damit steht die Belastung der Klägerin durch die Ausweisung faktisch der bei einer sogenannten inlandsbezogenen Ausweisung gleich. Dies ist in der Abwägung derart zu berücksichtigen, als dass die Intensität der Rechtsfolgen der Ausweisung mangels Möglichkeit der Vollziehung der Ausreisepflicht faktisch erheblich weniger schwer ist, als im Fall einer Ausweisung, die zu einer tatsächlichen Beendigung des Aufenthalts führt. Jedoch verlieren die aus spezialpräventiven Gründen für das Überwiegen des Ausweisungsinteresses sprechenden Gesichtspunkte, die wegen der von der Klägerin nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr weiterhin zu berücksichtigen sind, nicht deshalb ihre Bedeutung, weil die Klägerin nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden kann. Denn eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Charakter auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern nur zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt, etwa indem einer weiteren Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt wird oder Aufenthaltsbeschränkungen ausgelöst werden (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – juris Rn. 40 f.; Tanneberger/Fleuß in BeckOK AuslR, AufenthG, 24. Edition Stand 1.11.2019, § 53 Rn. 96 ff.). Dies ist hier der Fall, da der Klägerin auf Grund der Titelerteilungssperre nach § 11 Abs. 1 S. 2 AufenthG kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf. Der Ausweisung kommt damit trotz des bestehenden Duldungsanspruchs eine verhaltenssteuernde Wirkung zu. Um überhaupt wieder eine Chance auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu bekommen und einen gesicherten Aufenthalt zu erhalten, darf kein neues Ausweisungsinteresse entstehen, d.h. die Klägerin darf nicht erneut straffällig werden (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – juris Rn. 41).
Unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Tochter der Klägerin sprechen auch die schwerwiegenden Bleibeinteressen des § 55 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 5 AufenthG für die Klägerin, da sie die Personensorge für ihre zwei minderjährigen Kinder im Bundesgebiet ausübt, deren Belange für die Ausweisung zu berücksichtigen sind.
Ferner spricht für die Klägerin ihr langjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik seit dem Jahr 2003. Besondere integrative Bindungen der Klägerin im Bundesgebiet außerhalb ihrer Familie sind allerdings nicht ersichtlich. Die Klägerin ist erst im Erwachsenenalter ins Bundesgebiet eingereist. Sie beherrscht die Heimatsprache ihres Herkunftslands und kann dort einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Mangels Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht kommt es zu keiner Trennung von ihren Familienangehörigen, insbesondere ihren minderjährigen Kindern. Rechtstreu hat sich die Klägerin ebenfalls nicht verhalten.
Im Ergebnis ist vorliegend daher das öffentliche Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse als schwerer zu gewichten.
2.2.2. Zum selben Abwägungsergebnis kommt die Kammer erst recht für den Fall, dass die Tochter der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit durch die rückwirkende Rücknahme der Aufenthaltstitel verloren haben sollte, da zu Gunsten der Klägerin dann nicht mehr das besonders schwere Bleibeinteresse des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG streitet, ihr Aufenthalt im Bundesgebiet aufgrund der familiären Beziehung zu ihrem kranken Sohn aber weiterhin geduldet wird (s. hierzu nachfolgend Rn. 100 ff.).
3. Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begegnet wegen der rechtmäßigen Ausweisung keinen rechtlichen Bedenken. Die Klägerin hat insoweit keinen Anspruch auf Verkürzung.
Die angeordnete Dauer erweist sich sowohl für den Fall, dass zugunsten der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit der Tochter angenommen wird (3.1.), als auch für den Fall des Verlusts (3.2.) als rechtmäßig.
3.1. Die mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2021 durch die Beklagte vorgenommene Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter der Bedingung, dass die Tochter der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren hat, birgt keine Ermessensfehler. Die Befristung auf zwei Jahre ist angesichts der Schwere und Dauer der systematischen Täuschungen durch die Klägerin auch unter Berücksichtigung des deutschen Kindes ermessensfehlerfrei, § 114 VwGO. Insbesondere ist für diesen Fall zu berücksichtigen, dass aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter ein Duldungsanspruch der Klägerin entstanden ist; die Klägerin somit faktisch nicht ausreisen muss. Die Familieneinheit würde daher weiter gewahrt bleiben; die Rechtsfolgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind aufgrund des Duldungsanspruchs weniger intensiv.
3.2. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre wäre aber auch für den Fall, dass die Tochter der Klägerin ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden. Ermessensfehler sind auch insoweit nicht ersichtlich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Klägerin auch aufgrund der Krankheit ihres im Jahr 2007 geborenen Sohns einen Duldungsanspruch hat (s. dazu nachfolgend Rn. 100 ff.), wodurch sie faktisch nicht aus dem Bundesgebiet ausreisen muss.
4. Die Klage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. Feststellung eines Aufenthaltsrechts bleibt ohne Erfolg.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Tochter der Klägerin deutsche Staatsangehörige ist, hat die Klägerin weder einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach nationalem Recht (4.1.), noch steht ihr ein Aufenthaltsrecht aufgrund sekundären oder primären Unionsrechts zu (4.2.). Dies gilt erst recht für den Fall, dass die Tochter die deutsche Staatsangehörigkeit wieder verloren haben sollte (4.3.).
4.1. Einem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach nationalem Recht steht die aus der rechtmäßigen Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots folgende Titelerteilungssperre entgegen, § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
4.2. Der Klägerin steht auch dann kein Aufenthaltsrecht aus Unionsrecht zu, wenn man davon ausgeht, dass die Tochter deutsche Staatsangehörige ist. Die RL 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251/12 vom 3.10.2003, S. 12 – 18; im Folgenden: Familienzusammenführungsrichtlinie) (4.2.1.) sowie das FreizügG/EU (4.2.2.; 4.2.3.) finden keine Anwendung. Auch ein aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Klägerin im Bundesgebiet besteht nicht (4.2.4.). Auch Art. 20 AEUV führt vorliegend nicht zu einem Aufenthaltsrecht der Klägerin (4.2.5.).
4.2.1. Die Familienzusammenführungsrichtlinie findet bereits keine Anwendung auf Familienangehörige eines Unionsbürgers, Art. 3 Abs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie.
4.2.2. Die Klägerin ist nicht als Familienangehörige ihrer deutschen Tochter nach § 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 Nr. 6 FreizügG/EU i.V.m. § 12a FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil ihre Tochter ausweislich der Angaben in der mündlichen Verhandlung von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV noch nicht nachhaltig Gebrauch gemacht hat.
Der deutsche Gesetzgeber hat durch Einfügung von § 1 Abs. 1 Nr. 6 FreizügG/EU und § 12a FreizügG/EU mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gesetzlich nachvollzogen, nach denen auf Familienangehörige und nahestehende Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben, die Regelungen des FreizügG/EU Anwendung finden. Die maßgeblich zu Grunde liegenden Überlegungen des Europäischen Gerichtshof waren, dass deutsche Staatsangehörige, die von ihrem Freizügigkeitsrecht nachhaltig Gebrauch gemacht haben, in bestimmten Fällen wegen einer nationalrechtlichen Schlechterstellung ihrer Angehörigen im Vergleich zum FreizügG/EU Nachteile erleiden, die sie daran hindern könnten, ihr Freizügigkeitsrecht auszuüben (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2020 – 1 C 27/19 – beckonline Rn. 22, 21; BVerwG, U.v. 22.6.2011, – 1 C 11/10 – NVwZ 2012, 52, Rn. 9; EuGH, U.v. 15.11.2011 – C-256/11 (Dereci) – beckonline Rn. 50 ff.; EuGH, U.v. 12.3.2014 – C-456/12 (O. und B.) – beckonline Rn. 43 ff.; EuGH, U.v.14.11.2017 – C-165/16 (Toufik Lounes) – beckonline Rn. 45 ff.; EuGH, U.v. 5.6.2018 – C-673/16 (Coman) – NVwZ 2018, 1545, Rn. 23 ff.).
Ein nachhaltiges Gebrauchmachen vom Freizügigkeitsrecht durch die Tochter der Klägerin ist derzeit jedoch weder ersichtlich noch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden, so dass kein von der Tochter abgeleitetes Recht der Klägerin gemäß der §§ 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 Nr. 6 FreizügG/EU entstanden ist.
4.2.3. Die Klägerin ist auch nicht als Familienangehörige eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers, hier ihrer Tochter, freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. §§ 3, 4 FreizügG/EU.
Unionsbürger in diesem Sinne sind zunächst nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die nicht Deutsche sind. Die Tochter der Klägerin besitzt die deutsche und die nepalesische Staatsangehörigkeit, so dass sie nicht Unionsbürgerin i.S.v. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist.
Deutsche Staatsangehörige können gegenüber der Bundesrepublik Deutschland richtlinienkonform (vgl. Art. 3 Abs. 1 der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Abl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77 – 123 (im Folgenden: Freizügigkeitsrichtlinie)) im Grundsatz keine Ansprüche für ihre Familienangehörigen aus dem europäischen Freizügigkeitsrecht herleiten, da für deutsche Staatsangehörige insoweit das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland den Familiennachzug regelt (BVerwG, U.v. 30.7.2013 -1 C 15/12 – juris Rn. 28; BVerwG, U.v. 22.6.2011, – 1 C 11/10 – NVwZ 2012, 52, Rn. 8; EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – beckonline Rn. 40; EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – beckonline Rn. 52 f., 58 m.w.N.; EuGH, U.v. 17.4.2013 – C-202/13 (McCarthy) – EuZW 2011, 511 Rn. 29, 34). Von ihrer Tochter als deutscher Staatsangehöriger kann die Klägerin daher kein Recht auf Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach den §§ 2 Abs. 1, 1 Absätze 1 Nr. 1, 2 Nr. 1 FreizügG/EU ableiten.
Im Übrigen wäre die Klägerin auch nicht Familienangehörige einer Person im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU. Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3d FreizügG/EU sind Familienangehörige einer Person Verwandte in gerader aufsteigender Linie, denen vom Unionsbürger Unterhalt gewährt wird. Vorliegend gewährt nicht der (potentiell) Freizügigkeitsberechtigte, die Tochter der Klägerin, der Klägerin Unterhalt, sondern der Sachverhalt gestaltet sich genau anders herum.
4.2.4. Der Klägerin steht auch kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt auf Grundlage des europäischen Primärrechts aus Art. 21 AEUV zu.
Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistet das Recht eines Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen – frei zu bewegen und aufzuhalten. Das Recht nach Art. 21 AEUV vermittelt dem Unionsbürger, vorliegend der Tochter der Klägerin, ein Freizügigkeitsrecht i.S.v. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU und wird unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unmittelbar kraft Gesetzes erworben.
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass dieses Recht des Unionsbürgers auch praktisch wirksam werden muss. Deshalb kann in besonders gelagerten FallkonsteIlationen auch ein drittstaatsangehöriger Familienangehöriger eines Unionsbürgers, dem zwar nach unionsrechtlichem Sekundärrecht kein Recht auf Aufenthalt im Mitgliedstaat zusteht, unter gewissen Voraussetzungen dennoch ein Aufenthaltsrecht unmittelbar aus Art. 21 AEUV ableiten (EuGH v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Rn. 54; EuGH, U.v. 19.10.2004 – C-200/02 (Zhu & Chen) – beckonline Rn.45; EuGH, U.v. 8.11.2012 – C-40/11 (Iida), Beckonline Rn.68 ff.; BVerwG, U.v. 23.9.2020 – 1 C 27/19 – beckonline Rn. 19).
Entwickelt wurde diese Rechtsprechung in Fällen, in denen einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers mangels Unterhaltsgewährung durch den (minderjährigen) Unionsbürger ein Freizügigkeitsrecht aus Sekundärrecht nicht zustand, er aber tatsächlich für das Kind sorgte und dieses über ausreichende Existenzmittel i.S.v. Art. 7 Abs. 1b) der Freizügigkeitsrichtlinie verfügte. Zugrunde lag die Überlegung, dass der Genuss des unmittelbar aus der Unionsbürgerschaft fließenden Rechts auf Aufenthalt eines Kindes im Kleinkindalter offenkundig voraussetzt, dass sich die Person, die tatsächlich für das Kind sorgt, auch bei diesem aufhalten muss (BVerwG, U.v. 23.9.2020 – 1 C 27/19 – beckonline Rn. 20, 22; EuGH; U.v. 10.10.2013 – C-86/12 (Alopka) – beckonline Rn. 26 ff.; EuGH v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Rn. 54 ff.; EuGH, U.v. 19.10.2004 – C-200/02 (Zhu & Chen) – beckonline Rn. 43 ff. (noch ohne klare Abgrenzung zu Art. 20 AEUV); EuGH, U.v. 8.11.2012 – C-40/11 (Iida), Beckonline Rn. 68 ff. (noch ohne klare Abgrenzung zu Art. 20 AEUV)).
Ob die entsprechenden Voraussetzungen für die Ableitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 21 AEUV vorliegend erfüllt sind, bedarf indes keiner Klärung, weil ein aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils stets voraussetzt, dass der Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit bereits nachhaltig Gebrauch gemacht hat (EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Rn. 52, 54 ff.; EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 40; EuGH, U.v. 8.3.2011 – C-34/09 (Zambrano), beckonline Rn. 39; BVerwG, U.v. 22.6.2011 – 1 C 11/10 – beckonline Rn. 10). Dies ist vorliegend ersichtlich nicht der Fall.
Die Klägerin kann somit auch kein Aufenthaltsrecht unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ableiten.
4.2.5. Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf ein Aufenthaltsrecht sui generis aus Art. 20 AEUV berufen.
Art. 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser umfasst nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2a, Art. 21 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet Art. 20 AEUV weiter ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte nationale Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige, die ihrerseits dazu führen, dass einem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands derjenigen Rechte verwehrt wird, die ihm seine Unionsbürgerschaft verleihen (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 49 m.w.N.). Die Vertragsbestimmungen verleihen Drittstaatsangehörigen indes keine eigenen Rechte, sondern sind aus dem Recht des Unionsbürgers abgeleitet (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 50 m.w.N.).
Insbesondere für minderjährige Unionsbürger soll aus Art. 20 AEUV ein Verbot von nationalen Maßnahmen gegen einen Drittstaatsangehörigen folgen, die bewirken, dass sich der minderjährige Unionsbürger rechtlich oder faktisch gezwungen sieht, das Unionsgebiet (mit dem Drittstaatsangehörigen) zu verlassen (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 51 m.w.N.; vgl. BVerwG, U.v. 22.6.2011 – 1 C 11/10 – NVwZ 2012, 52, Rn.10). Verhindert werden soll eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht, als einem Drittstaatsangehörigen, vom dem er rechtlich, wirtschaftlich und affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen bzw. sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 52; EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Beckonline Rn. 63, 65, 69; EuGH, U.v. 8.3.2011 – C-34/09 (Zambrano), beckonline Rn. 44; EuGH, U.v. 8.11.2012 – C-40/11 (Iida) – Rn. 71, 74). Eine solche Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls zugrunde legen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindungen und des Risikos, das mit der Trennung für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre. Dabei ist auch die Dauer einer zu erwartenden Trennung des Kindes vom drittstaatsangehörigen Elternteil zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 35 m.w.N.; EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Beckonline Rn. 71 f.; EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 70 ff.). Unerheblich soll sein, ob der Unionsbürger sein Recht bereits ausgeübt hat (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 51; EuGH, U.v. 17.4.2013 – C-202/13 (McCarthy) – EuZW 2011, 511 Rn.30, 44 ff.; EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Beckonline Rn. 63; BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris Rn. 31).
Zwar ist vorliegend davon auszugehen, dass die sich die Tochter der Klägerin faktisch zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn deren Ausweisung vollzogen werden würde. Dennoch ist das Gericht nach diesen Maßstäben der Überzeugung, dass der Klägerin kein Aufenthaltsrecht sui generis aus Art. 20 AEUV zusteht.
(1) Ungeachtet dessen, dass das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2018 (1 C 16/17 – juris Rn. 34) von einem „Aufenthaltsrecht“ eigener Art spricht, ist Ausgangspunkt, dass der EuGH selbst in erster Linie von einem „Verbot nationaler Maßnahmen gegen einen Drittstaatsangehörigen“ spricht. Schon von daher ist fraglich, ob aus Art. 20 AEUV überhaupt ein Aufenthalts“recht“ – wie es auch immer verstanden wird – abgeleitet werden kann. Das Bundesverwaltungsgericht stellt selbst ausdrücklich darauf ab, dass es sich nicht um ein nationales Aufenthaltsrecht handelt. Die Formulierung des EuGH legt ebenfalls nahe, dass aus Art. 20 AEUV nicht ein positives (Aufenthalts-)Recht folgen soll, sondern dass es sich um ein Abwehrrecht eines Unionsbürgers gegen Maßnahmen zuungunsten eines Drittstaatsangehörigen handelt. Zu Recht wird auch darauf hingewiesen, dass es dogmatischen Schwierigkeiten begegnet, wenn aus der Unionsbürgerschaft, die ihrerseits aus der – vorliegend deutschen – nationalen Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats hergeleitet wird, weitergehende Rechte folgen sollten als aus der „Quelle“ selbst.
Weiter stellt auch der EuGH fest, dass seine Rechtsprechung zu Art. 20 AEUV in Regelungen eingreift, die a priori von nationalem Recht der Mitgliedsstaaten geregelt werden (EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Beckonline Rn. 63 f.; EuGH, U.v. 8.11.2012 – C-40/11 (Iida), Beckonline Rn.71 f.). Die Annahme eines Sonderfalles nach Art. 20 AEUV setzt nach der EuGH-Rechtsprechung gerade voraus, dass das vom europäischen Gesetzgeber erlassene Sekundärrecht nicht einschlägig und Art. 21 AEUV wegen fehlenden Gebrauchmachens von dem unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrecht nicht anwendbar ist.
Die aus Art. 20 AEUV fließenden Rechte der Familienangehörigen von Unionsbürgern müssen in diesem Kontext zur Wahrung der Gewaltenteilung sowohl zwischen Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union als auch zwischen Legislative und Judikative besonders sensibel in das für den Aufenthalt eigener Staatsangehöriger und deren Familienmitglieder geltende nationale Recht eingefügt werden. Dies vermeidet die Umgehung der nationalrechtlichen Gesetze, die zwar europarechtskonform und unter Wahrung des effet utile ausgelegt werden müssen, jedoch nicht auf Grundlage von vom EuGH (und nicht dem nationalen bzw. europäischen Gesetzgeber) festgelegten großzügigen Ausnahmekonstellationen größtenteils ausgehebelt werden dürfen (so im Ergebnis: VG Düsseldorf, U.v. 19.11.2020 – 8 K 5232/19 – ZAR 2021,173; bei dem jedoch keine Ausweisung des drittstaatsangehörigen Elternteils vorlag). Die effektive Umsetzung und Wirksamkeit der aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV fließenden Rechte (vgl. EuGH, U.v. 10.5.2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – Beckonline Rn. 64 f. m.w.N.), ist daher unter möglichst weitreichenden Anpassungen an das jeweilige nationale Recht, das a priori den Sachverhalt regelt, zu gewährleisten.
Der EuGH hat weiter in seinem Urteil vom 8. Mai 2018 (C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 57) ausgeführt, dass die Weigerung eines Drittstaatsangehörigen, einer Rückkehrverpflichtung aus einer Rückkehrentscheidung eines Mitgliedstaates nachzukommen, ihm nicht ermöglichen soll, sich den Rechtswirkungen eines Einreiseverbots ganz oder teilweise zu entziehen. Bei Vorliegen eines aus Art. 20 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrechts ist die ergangene Rückkehrentscheidung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben, zumindest aber auszusetzen. Um eine solche Aussetzung der Abschiebung handelt es sich bereits im Fall einer Duldung aus familiären Gründen nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
(2) Nach Auffassung des Gerichts wird vorliegend dem vom EuGH geforderten Schutz der Unionsbürgerin, der Tochter der Klägerin, vor nationalen Maßnahmen gegen ihre drittstaatsangehörige Mutter, der Klägerin, dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass die Klägerin das Bundesgebiet trotz vollziehbarer Ausreisepflicht nicht verlassen muss, weil ihr gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG eine Duldung zu erteilen ist. Damit ist sichergestellt, dass sich die Tochter der Klägerin weder rechtlich noch faktisch gezwungen sieht, das Unionsgebiet mit der drittstaatsangehörigen Klägerin zu verlassen. Die Erteilung einer Duldung an den drittstaatsangehörigen ausgewiesenen Elternteil eines Unionsbürgers ohne Aufenthaltsrecht aus nationalem Recht, unionsrechtlichem Sekundärrecht oder abgeleitetem Primärrecht reicht aus, um dem minderjährigen Unionsbürger den tatsächlichen Genuss des Kernbestands seiner Unionsbürgerrechte i.S.d. Rechtsprechung des EuGHs zu Art. 20 AEUV (EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 (K.A.) – NVwZ 2018, 1859, Rn. 49 m.w.N.) zu gewährleisten; die Gewährung eines bislang nicht weiter definierten Aufenthaltsrechts „sui generis“ ist nicht erforderlich (a.A. VG Düsseldorf, U.v. 19.11.2020 – 8 K 5232/19 – ZAR 2021,173 – Ls. 2).
Der Klägerin steht sowohl wegen der angenommenen deutschen Staatsangehörigkeit ihrer Tochter als auch aufgrund der Erkrankung ihres Sohnes ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK zu.
Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Abschiebung ist vorliegend aus rechtlichen Gründen unmöglich, da der Schutzbereich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK bei Trennung der zweijährigen Tochter und des minderjährigen kranken Sohns von ihrer Mutter, der Klägerin, in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt würde. Aus Art. 8 EMRK ergibt sich zwar keine allgemeine Verpflichtung für die Konventionsstaaten, die Wahl des Aufenthaltsstaates durch Zuwanderer anzuerkennen und eine Familienzusammenführung zu ermöglichen. Anderes gilt jedoch, wenn die Familie die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, wie beispielsweise im Fall der Trennung kleiner Kinder von ihren Eltern oder auch bei kranken und pflegebedürftigen Angehörigen (vgl. BayVGH, B.v. 21.1.2020 – 10 CE 20.60 – BeckRS 2020, 1190; BayVGH, B.v. 25.4.2014 – 10 CE 14.650 – juris; BeckOK AuslR/Kluth/Breidenbach, AufenthG § 60a Rn. 15 m.w.N.).
Eine Trennung der Kernfamilie wegen einerseits der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter sowie des kranken Sohns der Klägerin und andererseits der Ausreisepflicht der Klägerin ist den Kindern der Klägerin – vor dem Hintergrund des ebenfalls fehlenden Aufenthaltsrechts des Vaters und Ehemanns der Klägerin (vgl. Verfahren …*) – unzumutbar. Die Abschiebung der Klägerin ist daher rechtlich unmöglich. Die Täuschungshandlungen der Klägerin sind nach Auffassung des Gerichts auch nicht derart gravierend, dass der Schutz der Familie aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK aus einwanderungspolitischen und sicherheitsrechtlichen Gründen zurückgedrängt würde.
Eine Duldung aus familiären Gründen nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG stellt in Fallkonstellationen mit zwei drittstaatsangehörigen Elternteilen, die beide rechtmäßig ausgewiesen sind (vgl. Az. …*), einen ausreichenden Schutz der erst zweijährigen Tochter der Klägerin vor einer erzwungenen Ausreise dar.
4.3. Für den Fall des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit der Tochter ergibt sich nach diesen Maßgaben dann aber erst recht kein Aufenthaltstitel aus dem AufenthG bzw. Aufenthaltsrecht aus primären oder sekundären Unionsrecht für die Klägerin.
5. Die Verpflichtung der Klägerin, ihren Aufenthaltstitel nach Bestandskraft des Bescheids unverzüglich abzugeben, begegnet keinen rechtlichen Bedenken und beruht auf Art. 52 Satz 1 und Satz 2 BayVwVfG (vgl. BeckOK MigR/Decker VwVfG § 52 Rn. 1-4).
Die Klage war daher abzuweisen.
II. Die Klägerin trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 704 ff., 708 Nr. 11 ZPO.
IV. Die Berufung ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine in der Rechtsprechung bislang noch nicht geklärte, fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachengrundlage aufwirft, die für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich war und auch für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich und damit klärungsfähig ist, und die im Interesse der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf.
Vorliegend ist von grundsätzlicher Bedeutung, ob die Duldung eines drittstaatsangehörigen rechtmäßig ausgewiesenen Elternteils eines Unionsbürgers im Kleinkindalter aus familiären Gründen ausreicht, um zu verhindern, dass dem Kleinkind (Unionsbürger) der tatsächliche Genuss seines Rechts aus der Unionsbürgerschaft tatsächlich verwehrt wird.
Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet Art. 20 AEUV ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte nationale Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige, die ihrerseits dazu führen, dass einem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands derjenigen Rechte verwehrt wird, die ihm seine Unionsbürgerschaft verleihen. In einem Urteil vom 8. Mai 2018 erklärte der EuGH, dass eine Rückkehrentscheidung aufzuheben, zumindest jedoch auszusetzen sei, wenn die Voraussetzungen des Art. 20 AEUV vorliegen (vgl. EuGH, U.v. 8.5.2018 – C 82/16 – juris Rn. 57; Hervorhebung durch die Kammer). Es stellt sich daher die Frage, ob ein vorübergehend nur über eine Duldung gesicherter Aufenthalt von rechtmäßig ausgewiesenen Eltern dazu führt, das einem Kleinkind, das von seinem Freizügigkeitsrecht bisher keinen Gebrauch gemacht hat und absehbar auch nicht machen wird, der Kernbestand seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird, wenn es faktisch mit seinen Eltern im Bundesgebiet verbleiben kann.


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