Europarecht

Nichtannahme einer mangels hinreichender Substantiierung unzulässigen Verfassungsbeschwerde: Substantiierungsanforderungen im Falle einer Urteilsverfassungsbeschwerde – Berücksichtigung von “Altlasten” aus der ehemaligen DDR bei der Bemessung von Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung – Jahresarbeitsverdienst bei saisonaler Beschäftigung

Aktenzeichen  1 BvR 2326/07

Datum:
9.3.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20110309.1bvr232607
Normen:
Art 3 Abs 1 GG
§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG
§ 92 BVerfGG
Anlage II Kap VIII I EinigVtr
Anlage II Kap VIII I III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 EinigVtr
§ 153 Abs 1 SGB 7
§ 153 Abs 2 SGB 7
§ 153 Abs 3 SGB 7
Spruchkörper:
1. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend BSG, 8. Mai 2007, Az: B 2 U 14/06 R, Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht, 21. Februar 2006, Az: L 3 U 83/05, Urteilvorgehend SG Frankfurt, 7. März 2005, Az: S 16 U 3628/02, Urteil

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB
VII). Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen des professionellen Basketballsports. Sie wendet sich gegen die sie betreffende
Beitragsfestsetzung für das Jahr 2001.

I.
2
Die Aufbringung der Mittel der gesetzlichen Unfallversicherung ist im Sechsten Kapitel des SGB VII (§§ 150 ff. SGB VII) normiert.
Die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung werden nachträglich als Umlage nach dem Aufwand des Vorjahres erhoben (§
152 Abs. 1 SGB VII). Die Berechnungsgrundlagen für die Beiträge sind grundsätzlich der Finanzbedarf (Umlagesoll), die Arbeitsentgelte
der Versicherten und die Gefahrklassen (§ 153 Abs. 1 SGB VII). Das Arbeitsentgelt der Versicherten wird bis zur Höhe des Höchstjahresarbeitsverdienstes
zugrunde gelegt (§ 153 Abs. 2 SGB VII). Die Gefahrklassen ergeben sich aus dem Gefahrtarif, dessen Festsetzung als autonomes
Recht durch den Unfallversicherungsträger in § 157 SGB VII geregelt ist.

3
Einfluss auf die Beitragsberechnung haben seit der Herstellung der deutschen Einheit auch die Rentenaltlasten aus dem Beitrittsgebiet
(sog. “Altlasten-Ost”). Damit sind die Entschädigungsleistungen der Unfallversicherungsträger für die bis zum 31. Dezember
1990 im Beitrittsgebiet eingetretenen Arbeitsunfälle gemeint. Nach Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 1
Buchstabe c Abs. 8 Nr. 2 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über
die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag – EinigVtr) wurden die bis zum 31. Dezember 1990 eingetretenen
Arbeitsunfälle auf alle Unfallversicherungsträger nach einem Schlüssel verteilt, der sich (vereinfacht ausgedrückt) an deren
Leistungsaufwendungen für Renten sowie dem der Beitragsberechnung zugrunde gelegten Entgelt und den Rentenzahlbeträgen für
in den Jahren 1985 bis 1989 erstmals entschädigte Arbeitsunfälle jeweils bezogen auf das Jahr 1989 orientierte. Die Verteilung
der Einzelfälle erfolgte – unabhängig vom sachlich zuständigen Gewerbezweig – numerisch nach den Geburtsdaten der Leistungsempfänger,
innerhalb eines Geburtstages alphabetisch.

4
Zur Finanzierung dieser Rentenaltlasten aus dem Beitrittsgebiet ermöglichte § 1157 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO)
es den Trägern der Unfallversicherung – abweichend von der allgemeinen Regelung des § 725 Abs. 1 RVO – in einer Übergangszeit
bis zum 31. Dezember 1994 bei der Beitragsberechnung von der Berücksichtigung des Grades der Unfallgefahr in den Unternehmen
abzusehen. Anschließend fanden die allgemeinen Vorschriften über die Berechnungsgrundlagen für die Beiträge Anwendung (§ 725
Abs. 1 RVO bis 31. Dezember 1996, § 153 Abs. 1 SGB VII ab 1. Januar 1995). Mit Wirkung zum 1. August 2003 schuf der Gesetzgeber
mit § 215 Abs. 9 SGB VII erneut die Möglichkeit, bei der Beitragsberechnung von der Berücksichtigung des Grades der Unfallgefahr
in den Unternehmen abzusehen.

5
Der vorliegend streitigen Beitragsberechnung für 2001 lag der ab 1. Januar 2001 geltende Gefahrtarif der Berufsgenossenschaft
zugrunde, der für Sportunternehmen drei Gefahrklassen vorsah. Diese unterschieden sich danach, ob es sich bei den Beschäftigten
um bezahlte Sportler aus der 1. oder 2. Fußballbundesliga oder der Fußballregionalliga (Gefahrtarifstelle 54.1: Gefahrklasse
47,75), um sonstige bezahlte Sportler (Gefahrtarifstelle 54.2: Gefahrklasse 18,01) oder um übrige Versicherte (Gefahrtarifstelle
54.3: Gefahrklasse 1,98) handelte. Die Beschwerdeführerin war in die Gefahrtarifstellen 54.2 und 54.3 eingruppiert. Die Rentenaltlasten
aus dem Beitrittsgebiet flossen entsprechend der Regelung des § 153 Abs. 1 SGB VII in die Beitragsberechnung ein. Die Arbeitsentgelte
der Beschäftigten wurden bis zur Höhe des Höchstjahresarbeitsverdienstes berücksichtigt. Die Rechtsbehelfe der Beschwerdeführerin
gegen die Höhe des Beitrages blieben ohne Erfolg.

6
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die angegriffenen Entscheidungen
sowie die zugrunde liegenden Rechtsvorschriften. Die “Altlasten-Ost” müssten aus Steuermitteln getragen werden, jedenfalls
aber müsste die Berechnung dieser Sonderumlage unter Berücksichtigung der Arbeitsentgelte, nicht des Grades der Unfallgefahr
erfolgen. Eine gleichheitswidrige Belastung entstehe ferner dadurch, dass der Beitragsberechnung auch für nicht ganzjährig
beschäftigte Sportler der ungekürzte Höchstjahresarbeitsverdienst zugrunde gelegt werde.

II.
7
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

8
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht in einer den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG
entsprechenden Weise begründet wurde. Die Vorschriften enthalten Mindestanforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde.
So muss ein Beschwerdeführer innerhalb der Beschwerdefrist die Grundrechtsverletzung durch Bezeichnung des angeblich verletzten
Rechts und des die Verletzung enthaltenden Vorgangs substantiiert und schlüssig vortragen. Dabei hat er auch darzulegen, inwieweit
durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 99, 84 m.w.N.) bzw. mit welchen
verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert (vgl. BVerfGE 108, 370 ). Werden gerichtliche
Entscheidungen angegriffen, so muss sich der Beschwerdeführer auch mit deren Gründen auseinandersetzen (vgl. BVerfGE 101,
331 ; 105, 252 ).

9
Die Auslegung einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Fachgerichte.
Sie unterliegen einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nur insoweit, als Auslegungsfehler sichtbar werden, die
auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere des Umfangs seines Schutzbereichs,
beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85
; 19, 303 ; 75, 302 ).

10
2. Zu den “Altlasten-Ost” hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 8. Mai 2007 (BSGE 98, 229) und unter Hinweis auf seine
grundlegende Entscheidung vom 24. Februar 2004 (BSGE 92, 190) dargelegt, es verstoße grundsätzlich nicht gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn der Finanzbedarf für die Entschädigung der in der Deutschen Demokratischen Republik
eingetretenen Arbeitsunfälle in gleicher Weise wie der übrige Finanzbedarf der Unfallversicherungsträger unter Berücksichtigung
des für den jeweiligen Gewerbezweig ermittelten Grades der Unfallgefahr auf die Mitgliedsunternehmen umgelegt wird und wenn
deshalb Unternehmen mit einer höheren Gefahrklasse anteilig stärker zur Tragung der Altlasten herangezogen werden als solche
mit einer niedrigeren Gefahrklasse. Die ungleiche Belastung der Unternehmen lasse sich aufgrund des besonderen Finanzierungssystems
der gesetzlichen Unfallversicherung sachlich begründen; das Gewicht der Rechtfertigungsgründe stehe zur Bedeutung dieser Belastung
in einem angemessenen Verhältnis. Wenn die heutigen Unternehmen über ihr in der Gefahrklasse zum Ausdruck kommendes zeitnahes
Unfallrisiko die Altlasten-West finanzierten, ohne Rücksicht darauf, inwieweit sie ihnen zurechenbar sind, so sei nicht zu
erkennen, wieso bei den Altlasten-Ost etwas Anderes geboten sein sollte.

11
Auch die ungekürzte Berücksichtigung des Höchstjahresarbeitsverdienstes bei Versicherten, die nicht ganzjährig beschäftigt
sind, hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 8. Mai 2007 (BSGE 98, 229) nicht beanstandet. Es hat hierzu dargelegt,
dass die unterschiedliche Berücksichtigung von Mindest- und Höchstjahresarbeitsverdienst bereits aus Wortlaut und Systematik
der Regelung (§ 153 Abs. 2 und 3 SGB VII) folge. Zudem bestehe zwischen der Berechnung der Beiträge und der Berechnung der
Leistungen kein derart unmittelbarer Zusammenhang, dass das entsprechende Unternehmen berechtigt sei, nur einen Teil des Entgelts
der Beitragsberechnung zugrunde zu legen.

12
3. Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerdeführerin nicht hinreichend auseinander. Sie beschränkt sich auf die Wiederholung
ihrer entgegenstehenden Rechtsauffassung.

13
Soweit sie darüber hinaus hinsichtlich der Rentenaltlasten aus dem Beitrittsgebiet in Abgrenzung zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE 14, 221; BVerfGE 23, 12; BVerfGE 36, 383; BVerfGE 75, 108 ; BVerfGE 113, 167 ) ohne nähere
Begründung behauptet, es handele sich vorliegend eben doch um “Fremdlasten” und nicht um den “Binnenbereich” der westdeutschen
Unfallversicherung, genügt dies den dargestellten Anforderungen ebenfalls nicht. Soweit die Verfassungsbeschwerde eine besondere
Rechtfertigung verlangt, weil es sich um die Finanzierung eines Versicherungsschutzes für Dritte handele, setzt sie sich nicht
damit auseinander, dass die gesetzliche Unfallversicherung insbesondere durch die Haftungsbeschränkung der Unternehmer auch
den Arbeitgebern zugute kommt und somit insgesamt nicht allein fremdnützig ist.

14
Letztlich zeigt die Verfassungsbeschwerde nicht auf, warum die Verteilung der Rentenaltlasten aus dem Beitrittsgebiet nach
den Arbeitsentgelten die bessere oder sogar einzig sachgerechte Lösung sein sollte, die nicht ihrerseits wiederum zu Ungleichbehandlungen
führen würde (vgl. BSG, Urteil vom 2. Juli 1996 – 2 RU 17/95 – BSGE 79, 23).

15
Soweit die Beschwerdeführerin eine anteilige Berücksichtigung des Höchstjahresarbeitsverdienstes bei saisonalen Beschäftigungen
fordert, stellt sie die Argumentation des Bundessozialgerichts ohne Begründung in Abrede. Sie geht auch nicht auf folgende
Aspekte ein: Geldleistungen des versicherten Beschäftigten aus der gesetzlichen Unfallversicherung (z.B. Verletztengeld oder
-rente) berechnen sich selbst dann nach dem Jahresarbeitsverdienst (begrenzt auf den Höchstjahresarbeitsverdienst), wenn dieser
Verdienst nur in einem Teil des Jahres erzielt worden ist (wobei Jahr hier – anders als bei der Beitragsberechnung – zudem
nicht das Kalenderjahr ist, sondern die zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist).
Darüber hinaus zählen zum Jahresarbeitsverdienst nicht nur Entgelte aus Tätigkeiten, die dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung
unterliegen (§ 81, § 82 Abs. 1 und 2, § 85 Abs. 2 SGB VII; vgl. Schmitt, SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar,
4. Aufl. 2009, § 82 Rn. 9). Im Übrigen weist die Berücksichtigung der Arbeitsentgelte bei der Beitragsberechnung keinen Bezug
zur Unfallgefahr auf. Letztlich fließt die Entgeltsumme in die Bildung der Gefahrklassen ein; wird sie gekürzt, erhöht sich
die Gefahrklasse.

16
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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