Europarecht

Nichtzulassung, Vorabentscheidung, Fahrzeug, Verletzung, Aussetzung, Kommission, Nutzung, Verfahren, EuGH, Register, Betriebserlaubnis, Betriebsuntersagung, Zulassung, Stellungnahme, Aussetzung des Verfahrens, Zulassung des Fahrzeugs

Aktenzeichen  27 U 1635/22

Datum:
12.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 16986
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

C-100/21 2022-06-02 Schlussantrag (EuGH) GENANWALTEUGH Generalanwalt Luxemburg

Tenor

1. Der Antrag der Klägerin, das Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Rechtsstreits vor dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-100/21 auszusetzen, wird zurückgewiesen.
2. Auf den hilfsweise gestellten Antrag der Rechtsanwälte wird die Frist zur Stellungnahme auf den Senatshinweis verlängert bis 11.08.2022.

Gründe

1. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bzw. einer Aussetzung (§ 148 ZPO analog) des Rechtsstreits bis zum Vorliegen einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über anderweitige Vorlagen nach Art. 267 Abs. 1 – 3 AEUV bedarf es nicht. Auch die Stellungnahme des Generalanwaltes beim Europäischen Gerichtshof vom 02.06.2022 – C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, gibt zu einer Aussetzung des Verfahrens keine Veranlassung. In Anwendung seines richterlichen Ermessens hält der Senat weiterhin eine Aussetzung des Verfahrens nicht für sachgerecht.
a) Der Senat hat die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, insbesondere das Urteil des EuGH vom 17.12.2020 – C-693/18, NJW 2021, 1216 ausgewertet und seine Entscheidung hieran orientiert. Auf dieser Grundlage hat der Senat unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts die Überzeugung gebildet, dass vorliegend die richtige Anwendung des Unionsrechts, insbesondere die Frage des Drittschutzes des Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 angesichts des Wortlauts, der Regelungssystematik und des Regelungszwecks des geltenden Unionsrechts derartig offenkundig zu beantworten ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 04.08.2021 – VII ZR 280/20, BeckRS 2021, 28852 Rn. 1; BGH, NJW 2020, 2798, 2799 f.) und der Senat hierdurch auch nicht von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht. Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde.
Der Senat ist nicht bereits deshalb zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, weil einzelstaatliche Gerichte in Rechtssachen, die der beim Senat anhängigen ähneln und die gleiche Problematik betreffen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 – 3 AEUV vorgelegt haben (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 – C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Ebenso wenig ist der Senat verpflichtet, die Antwort auf diese Frage abzuwarten und das bei ihm rechtshängige Verfahren analog § 148 ZPO auszusetzen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 – C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Der Bundesgerichtshof hat dies jüngst mit Beschluss vom 14.06.2022 – VIII ZR 409/21, BeckRS 2022, 15514 für eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof (wiederum durch das Landgericht Ravensburg) zum Verhältnis zwischen Verbraucherkreditlinie und Kilometerleasingverträgen nochmals ausdrücklich bestätigt.
Eine Verpflichtung der Instanzgerichte, Verfahren aus dem Bereich der sogenannten Abgasthematik bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-100/21 auszusetzen, ist auch der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 01.07.2022, Nr. 104/2022, zur Sache VIa ZR 335/21 nicht zu entnehmen. Eine solche Verpflichtung besteht nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs als auch des Bundesgerichtshofs im Falle von Vorabentscheidungsersuchen anderer nationaler Gerichte gerade nicht (s. o.). Demzufolge hat der Senat auch keinen Anlass anzunehmen, dass der Bundesgerichtshof mit seiner Presseerklärung vom 01.07.2022 im Verfahren VIa ZR 335/21 hiervon abweichen und eine Wartepflicht der Instanzgerichte statuieren wollte. Der Senat versteht diese Pressemitteilung vielmehr dahin, dass der Bundesgerichtshof gelegentlich der Verhandlung am 21.11.2022 denjenigen Gerichten, die in Ausübung ihres richterlichen Ermessens ein Abwarten der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für tunlich erachtet haben, die sich aus einer bis dahin erwarteten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für die bundesdeutsche Ziviljustiz ergebenden Konsequenzen nahezubringen (vgl. Senat, Beschluss vom 08.07.2021 – 27 U 4021/21).
b) Zwar haben die RL 2007/46/EG und die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 insofern drittschützende Wirkung zugunsten der Fahrzeugerwerber, als deren Interesse betroffen ist, „dass ein erworbenes Fahrzeug zur Nutzung im Straßenverkehr zugelassen wird und dass diese Nutzung nicht aufgrund mangelnder Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ bzw. den für diesen Typ geltenden Rechtsvorschriften untersagt wird“ (vgl. Stellungnahme der Europäischen Kommission in der aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts Gera, inzwischen aber aus dem Register des EuGH gestrichenen Rechtssache C-663/19 vom 19.12.2019, Rn. 75 ff.; BGH, NVwZ 2022, 896 Rn. 13). Die Verletzung dieses Interesses macht die Klägerin jedoch nicht geltend. Ihr Fahrzeug ist zugelassen und die Betriebserlaubnis nicht wieder entzogen worden. Es kommen allenfalls mittelbare Folgeschäden, die sich aus der bloßen – hier aber nicht als konkret und ernstlich drohend dargelegten – Gefahr einer Betriebsuntersagung ergeben können, in Betracht. Vielmehr macht die Klägerin als verletztes Schutzgut ihr wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht und damit den Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags geltend (vgl. Klage, S. 13). Diese Interessen werden jedoch vom Schutzzweck der RL 2007/46/EG und der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht erfasst (vgl. BGH, NVwZ 2022, 896 Rn. 13 f. m. w. N.). Der Bundesgerichtshof war auch berechtigt, diese Frage selbst zu entscheiden. Denn die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs eines Schutzgesetzes obliegt den nationalen Gerichten (vgl. EuGH, NVwZ 2013, 565 Rn. 45 ff.; BGH, NVwZ 2022, 896 Rn. 11; Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag vom 02.06.2022 – C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420, Rn. 55, 61). Der Bundesgerichtshof geht daher davon aus, dass bei Verfahren, in denen lediglich eine Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts geltend gemacht wird, sämtliche für den Fall relevanten europarechtlichen Fragestellungen geklärt sind (sog. „acte clair“, vgl. BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 74 ff.).
c) Auch mit Blick auf die Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 19.12.2019 in der beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Rechtssache Az. C-663/19 und die Schlussanträge des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof vom 23.09.2021 in den Rechtssachen EuGH Az. C-128/20, EuGH Az. C-134/20 und EuGH Az. C-145/20 besteht kein vernünftiger Zweifel, dass die durch § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV umgesetzten Vorschriften der RL 2007/46/EG und die Vorschrift des Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht den Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit den Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags bezwecken (vgl. BGH, Beschluss vom 02.05.2022 – VIa ZR 137/21, BeckRS 2022, 12455; BGH, Beschluss vom 14.02.2022 – VIa ZR 204/21, BeckRS 2022, 3564 m. w. N.). Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit § 6 Abs. 1 EG-FGV, § 27 Abs. 1 EG-FGV (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (vgl. BGH, Beschluss vom 13.10.2021 – VII ZR 545/21, BeckRS 2021, 34454 Rn. 3).
Hinsichtlich der vorgenannten Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.09.2021 und bezüglich der von der Klägerin angesprochenen Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 ist ergänzend anzumerken, dass nach Art. 252 Abs. 2 AEUV der Generalanwalt öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Europäischen Gerichtshofs seine Mitwirkung erforderlich ist, stellt. Der Europäischen Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden (vgl. EuGH, NJW 2020, 667 Rn. 49). Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Davon abgesehen ergeben sich aus den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 auch keinerlei Gründe, von der bisherigen Recht sprechung des Bundesgerichtshofs abzuweichen. Denn aus den Schlussanträgen ergibt sich nicht, dass auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts in Gestalt eines Vertragsabschlussschadens und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages von einer etwaigen drittschützenden Wirkung der RL 200/46/EG oder der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 umfasst sein sollte. Der Generalanwalt hat vielmehr solche Schäden im Blick, die durch die Nichtzulassung / verzögerte (Erst-)Zulassung des Fahrzeugs oder ein (Weiter-)Veräußerungsverbot entstehen (vgl. Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag vom 02.06.2022 – C-100/21, ECLI:ECLI:EU:C:2022:420 Rn. 48; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.06.2022 – 15 U 2169/21, BeckRS 2022, 14755 Rn. 8). Dagegen macht die Klägerin vorliegend eine Verletzung ihres wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts geltend (s. o.).
Es besteht daher kein Anlass, im Hinblick auf die von der Klägerin im Schriftsatz vom 11.07.2022 in Bezug genommenen Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-100/21 im vorliegenden Berufungsverfahren ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der vorgenannten Rechtssache abzuwarten. Der Senat schließt sich den überzeugenden Erwägungen des Bundesgerichtshofs an (vgl. u. a. BGH, Beschluss vom 12.01.2022 – VII ZR 424/21, BeckRS 2022, 7010 Rn. 19 ff.; BGH, Urteil vom 08.12.2021 – VIII ZR 190/19, BeckRS 2021, 44235 Rn. 91; BGH, Beschluss vom 08.12.2021 – VIII ZR 280/20, BeckRS 2021, 40565 Rn. 34 ff.; BGH, Beschluss vom 13.10.2021 – VII ZR 545/21, BeckRS 2021, 34454 Rn. 1 ff. m. w. N.; BGH, Beschluss vom 01.09.2021 – VII ZR 128/21, BeckRS 2021, 37683 Rn. 12 ff.). Die Berufungsbegründung und die Ausführungen im Schriftsatz der Klägerin vom 11.07.2022 geben keinen Anlass, davon abzuweichen.
2. Demzufolge kommt der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin hilfsweise gestellte Fristverlängerungsantrag zum Tragen.
Insoweit wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin angesichts der bereits großzügig gewährten Frist zur Stellungnahme mit weiteren Fristverlängerungen aufgrund starker Arbeitsüberlastung ihrer Prozessbevollmächtigten nicht mehr rechnen kann.


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