Europarecht

Rechtsmittel gegen die Abwesenheitsverurteilung

Aktenzeichen  1 AR 5/16

Datum:
3.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NStZ – 2017, 50
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
IRG IRG § 83 III 1 Nr. 2
EMRK EMRK Art. 6

 

Leitsatz

1. Durch die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI betreffend Abwesenheitsverurteilungen hat in das deutsche Recht (§ 83 IRG n. F.) eine weiter gehende Anerkennung von Abwesenheitsverfahren Einzug gehalten als unter Geltung von § 83 IRG in der bis 24.07.2015 geltenden Fassung. (amtlicher Leitsatz)
2. Der Fall, dass der Verfolgte vor der Auslieferung das Recht erhalten hat, gegen die Abwesenheitsverurteilung Rechtsmittel einzulegen und hierdurch eine Verhandlung mit Anwesenheitsrechten hätte herbeiführen können, der Verfolgte dieses Recht jedoch noch vor seiner Verhaftung im Auslieferungsverfahren nicht wahrgenommen hat, ist seit dem 25.07.2015 in § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG geregelt. Die Auslegung von § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG hat dabei rahmenbeschlusskonform zu erfolgen. (amtlicher Leitsatz)
3. Die mit Rahmenbeschluss 2009/299 erfolgte Einfügung von Art. 4a in den Rahmenbeschluss 2002/584/JI sollte bestehende Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung von Abwesenheitsverurteilungen beseitigen durch die Harmonisierung der Grundlagen für die (Nicht-)Anerkennung von Abwesenheitsurteilen. (amtlicher Leitsatz)
4. Im Rahmen des § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG reicht es aus, dass eine einer Urteilszustellung nach deutschem Recht vergleichbare Handlung nachweislich erfolgt ist. Ist dies der Fall, so ist es (anders als unter Geltung von § 83 IRG a. F.) ohne Belang, dass die Auslieferung ohne diesen Umstand nach § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG unzulässig wäre. (amtlicher Leitsatz)
5. Liegen die Voraussetzungen von § 83 Abs. 3 Nr. 2 IRG vor, so besteht weder Anlass noch Raum, den Ausstellungsmitgliedstaat zur Abgabe einer Einzelgarantie auf Durchführung eines erneuten Verfahrens aufzufordern. (amtlicher Leitsatz)

Gründe

Oberlandesgericht München
1 AR 5/16
Beschluss
vom 03.03.2016
31 Ausl A 13/16 Generalstaatsanwaltschaft München
(rechtskräftig)
1. Strafsenat
Angewendete Vorschriften:
Leitsatz
In der Auslieferungssache
W. M., geboren am … in Staatsangehörigkeit: derzeit in dieser Sache in Auslieferungshaft in der Justizvollzugsanstalt
Rechtsbeistand: Rechtsanwalt …, Rechtsanwältin …
wegen Auslieferung aus der Bundesrepublik Deutschland in die Niederlande zur Strafvollstreckung wegen Betrugs
hier: erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung gem. § 33 IRG
erlässt das Oberlandesgericht München – 1. Strafsenat – durch die unterzeichnenden Richter am 03.03.2016 folgenden Beschluss
1. Die Fortdauer der Auslieferungshaft des Verfolgten wird angeordnet.
2. Die Auslieferung des Verfolgten an die niederländischen Behörden zur Strafvollstreckung wegen der im Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Zwolle-Lelystad vom 14.10.2011, Gz.: 18/654086-07, aufgeführten Straftaten ist weiterhin zulässig.
Gründe:
I. Hinsichtlich des bisherigen Verfahrensgangs wird zunächst auf die Senatsentscheidung vom 14.01.2016, durch die der Senat gegen den am 07.01.2016 zur Sicherung der Auslieferung vorläufig festgenommen Verfolgten zur Sicherung der Auslieferung an die niederländischen Behörden zur Strafvollstreckung vorläufige Auslieferungshaft angeordnet und dem Auslieferungshaftbefehl den Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Groningen vom 14.10.2011, Az.: 18/654086-07, in Verbindung mit dem Urteil des Gerichts Groningen vom 02.04.2009 zugrunde gelegt hat, Bezug genommen.
Mit Beschluss vom 27.01.2016 hat der Senat die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet, dem Auslieferungshaftbefehl den Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Zwolle-Lelystad vom 14.10.2011, Gz.: 18/654086-07, zugrunde gelegt und die Auslieferung des Verfolgten an die niederländischen Behörden zur Strafvollstreckung wegen der im Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft Zwolle-Lelystad vom 14.10.2011, Gz.: 18/654086-07, aufgeführten Straftaten für zulässig erklärt. Mit Beschluss vom 08.02.2016 hat der Senat erneut die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet und hat festgestellt, dass eine Entscheidung des Senats über den vom Verfolgten beantragten Aufschub der Auslieferung nicht veranlasst ist, nachdem die Generalstaatsanwaltschaft München bereits den Vollzug der Auslieferung ausgesetzt hatte, weil der Verfolgte gegen seine Auslieferung Einwendungen erhoben hatte, denen nachzugehen war. In der Entscheidung vom 08.02.2016 wurde die vom Verfolgten mit Schriftsätzen seines Rechtsbeistands vom 29.01.2016 und 01.02.2016 beantragte erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zurückgestellt, da die von den niederländischen Behörden hinsichtlich des Abwesenheitsverfahrens mit Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft München vom 02.20.2016 erbetenen ergänzenden Auskünfte noch nicht vorlagen. Mit Schriftsätzen seines Rechtsbeistands vom 15.02.2016 und vom 23.02.2016 hat der Verfolgte weitere Ausführungen zu dem in seiner Abwesenheit geführten niederländischen Strafverfahren gemacht. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die beiden vorgenannten Schriftsätze Bezug genommen. Der Verfolgte ist weiterhin nicht mit seiner vereinfachten Auslieferung in die Niederlande einverstanden. Nachdem die Generalstaatsanwaltschaft München dem Rechtsbeistand des Verfolgten Akteneinsicht gewährt hat, hat sie dem Senat die Akten mit Schreiben vom 29.02.2016 vorgelegt mit dem Antrag, die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen und auszusprechen, dass es bei der Zulässigkeitsentscheidung vom 27.01.2016 sein Bewenden hat.
II. Nach Eingang der von den niederländischen Behörden mit Schreiben vom 15.02.2016 samt Anlagen erteilten ergänzenden Auskünfte war nunmehr gem. § 33 Abs. 2 IRG erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden, was auch vom Verfolgten mit Schriftsätzen von Rechtsanwältin … vom 29.01.2016 und vom 01.02.2016 beantragt worden war. Die erneute Überprüfung hat ergeben, dass die Auslieferung des Verfolgten weiterhin zulässig ist.
Soweit in der Zulässigkeitsentscheidung des Senats vom 27.01.2016 ausgeführt wurde „Der Zulässigkeit der Auslieferung stehen auch keine Hindernisse nach §§ 2 ff, 80, 81, 83 IRG entgegen. Zwar handelt es sich bei dem auslieferungsgegenständlichen Urteil um ein Abwesenheitsurteil. Ein Auslieferungshindernis nach § 83 Nr. 3 IRG besteht aber nicht aufgrund der Angaben unter lit. d des Europäischen Haftbefehls” sind aufgrund der danach zu den Akten gelangten Auskünfte und Unterlagen folgende Ausführungen veranlasst:
Die vom Senat vorgenommene weitere Sachverhaltsaufklärung hat ergeben, dass das niederländische Abwesenheitsverfahren so durchgeführt wurde, wie es die niederländischen Behörden im Europäischen Haftbefehl vom 14.10.2011 unter lit. d) Punkt 3.3 geschildert haben. Aufgrund der Angaben der niederländischen Behörden im Schreiben vom 15.02.2016 ist davon auszugehen, dass der Verfolgte zum ersten Verhandlungstermin, der im auslieferungsgegenständlichen Strafverfahren am 18.09.2008 stattgefunden hat, durch persönliche Aushändigung am 05.06.2008 geladen wurde, wobei ihm bekanntgegeben wurde, wegen welcher Straftaten er diesbezüglich angeklagt wurde. Mitausgehändigt wurde dem Verfolgten hierbei eine als „Erläuterung zum Verfahren” bezeichnete Belehrung darüber, dass eine Verpflichtung zum Erscheinen nicht besteht und dass im Falle des Nichterscheinens das Strafverfahren in seiner Abwesenheit geführt werden wird. Weiter enthält dieses Formblatt eine Belehrung darüber, welche Rechte dem Verfolgten im Falle der Verurteilung nach dem niederländischen Strafverfahrensrecht zustehen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Anlage I zum Schreiben der niederländischen Behörden vom 15.02.2016 Bezug genommen. Entgegen dem Vorbringen des Verfolgten wurde er durch dieses Formblatt auch darüber belehrt, dass er nach niederländischem Recht in Abwesenheit verurteilt werden kann. Denn dort ist ausgeführt, dass das Urteil des Richters binnen 14 Tagen rechtskräftig wird, wenn dem Angeklagten entweder die Vorladung zum Hauptverhandlungstermin ausgehändigt wird oder der Angeklagte selbst, sein Vertreter oder ein von ihm beauftragter Verteidiger in der Gerichtsverhandlung anwesend gewesen ist. Der Verfolgte erschien in keinem der in der Folge stattfindenden Hauptverhandlungstermine und war auch nicht durch einen Verteidiger vertreten. Nachdem das Gericht Groningen am 11.12.2008 ein erstes Abwesenheitsurteil verkündet hatte, hat es von sich aus das Strafverfahren wieder aufgenommen und hat den Verfolgten zu dem sich anschließenden Verhandlungstermin am 19.03.2009 mittels einfachem Brief geladen. Zu keinem der Hauptverhandlungstermine (mit Ausnahme des ersten Termins vom 18.09.2008) wurde der Verfolgte nachweislich geladen. Dass er Kenntnis von den nach dem 18.09.2008 terminierten weiteren Hauptverhandlungsterminen gehabt hätte, wurde von ihm bestritten und kann nach Aktenlage nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, da insoweit die an seine damals bekannte Anschrift gesandten Ladungen nur mittels einfachem Brief erfolgten und der Verfolgte insoweit einen Zugang bestreitet. Durch Urteil des Gerichts Groningen vom 02.04.2009 wurde der Verfolgte in Abwesenheit wegen der angelasteten Betrugstaten zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt; daneben wurde er zu verschiedenen Schadensersatzzahlungen verurteilt. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die dem Schreiben der niederländischen Behörden vom 15.02.2016 als Anlage II beigefügte „Mitteilung über das Urteil” vom 28.04.2009 Bezug genommen.
Diese Mitteilung wurde dem Verfolgten – auch nach dessen eigenen Angaben im Auslieferungsverfahren – am 07.03.2011 persönlich zugestellt.
Entgegen dem Vorbringen des Verfolgten wurde in dieser Urteilsmitteilung, die nach der vom Senat insoweit vorzunehmenden Parallelwertung aus der Sicht des deutschen Rechts der Zustellung des schriftlichen Urteils entspricht, durch die Angabe desselben Aktenzeichens wie in der – nachweislich erhaltenen – Ladung zum ersten Verhandlungstermin ein ausreichender Bezug hergestellt zu dem dem Verfolgten in der Anklage angelasteten Sachverhalt, welcher ihm aufgrund der persönlichen Zustellung vom 05.06.2008 bekannt war. Im Übrigen hat der Verfolgte im Auslieferungsverfahren nicht dargetan, dass gegen ihn im fraglichen Zeitraum in den Niederlanden noch weitere Strafverfahren geführt wurden, so dass keinerlei Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er bei Erhalt der Urteilsmitteilung vom 28.04.2009 hätte in Zweifel darüber sein können, wegen welcher Straftaten die Verurteilung vom 02.04.2009 ergangen sein könnte. In der Urteilsmitteilung waren nicht nur das das Urteil erlassende Gericht, das Urteilsdatum, die verhängte Freiheitsstrafe und die vom Verfolgten zu erbringenden Schadensersatzleistungen, sondern auch der Tatzeitraum der abgeurteilten Taten und der Straftatbestand enthalten Diesbezüglich wurde in der Urteilsmitteilung ausgeführt: „Begangen: im Zeitraum von 01. Januar 2004 bis zum 24. November 2004 einschließlich in Groningen; Straftatbestand: Mitbegehung von Betrug, mehrere Male verübt, und Mittäterschaft in einem gewerbsmäßig oder aus Gewohnheit begangenem Erwerb von Waren in der Absicht, sich ohne vollständige Zahlung bzw. einem anderen die Verfügung über diese Waren zu verschaffen”; Entscheidung: Freiheitsstrafe für die Dauer von 24 Monaten unter Anrechnung gemäß Artikel 27 des niederländischen Strafgesetzbuches”. Daran anschließend folgt die Aufzählung der Schadensersatzbeträge, zu denen der Verfolgte darüberhinaus verurteilt wurde, unter Angabe der jeweiligen Geschädigten – auch hieraus konnte der Verfolgte entnehmen, wegen welcher Sachverhalte die Verurteilung erfolgt war. Entgegen dem Vorbringen des Verfolgten wurde er hierbei durch die dieser „Mitteilung über das Urteil” beigefügten Belehrung (“Informationsblatt Anwendung von Rechtsmitteln”) über seine Möglichkeiten, gegen das Abwesenheitsurteil vom 02.04.2009 vorzugehen, ausreichend belehrt. Er wurde hierbei insbesondere darüber belehrt, dass das Urteil in seiner Abwesenheit ergangen ist und er deswegen, obwohl das Urteil zum Zeitpunkt der Zustellung der Mitteilung schon fast 2 Jahre existent war, nach Zustellung der Mitteilung das Recht hat, binnen 14 Tagen gegen das Urteil Berufung oder Revision einzulegen und dass im Falle der Berufungseinlegung die Sache (vor einem höheren Richter) erneut verhandelt werden wird.
Damit ist aber die Auslieferung des Verfolgten nach § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG zulässig, da der Verfolgte innerhalb der geltenden und ihm bei Zustellung der Urteilsmitteilung bekanntgemachten Frist kein Berufungsverfahren beantragt hat. Über seine Rechte war er – entgegen seiner Ansicht – bei Zustellung der Urteilsmitteilung ausreichend belehrt worden. Da es gem. § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG ausreicht, dass eine einer Urteilszustellung nach deutschem Recht entsprechende Handlung nachweislich erfolgt ist und der Verfolgte trotz der entsprechenden Belehrung gleichwohl kein Rechtsmittel gegen die in Abwesenheit erfolgte Verurteilung eingelegt hat, ist es unerheblich, dass er zu den Hauptverhandlungsterminen (mit Ausnahme des ersten) nicht nachweislich geladenen wurde und er von den weiteren Hauptverhandlungsterminen nach seiner unwiderleglichen Einlassung im Auslieferungsverfahren auch sonst keine Kenntnis hatte. Ausführungen zu dem diesbezüglichen Vorbringen des Verfolgten erübrigen sich daher. Im Übrigen wurde der Verfolgte durch die Zustellung am 05.06.2008 darüber informiert, dass gegen ihn in den Niederlanden das auslieferungsgegenständliche Strafverfahren durchgeführt wird, dass der (erste) Hauptverhandlungstermin am 18.09.2008 stattfindet, dass das Strafverfahren auch ohne seine Anwesenheit durchgeführt werden wird und dass er auch in Abwesenheit verurteilt werden kann.
Soweit der Verfolgte eingewandt hat, dass ihm „das Urteil” vom 02.04.2009 nie zugestellt wurde, sind folgende Ausführungen veranlasst: Aufgrund der mit Schreiben vom 15.02.2016 durch die niederländischen Behörden erteilten ergänzenden Auskünfte ist davon auszugehen, dass das niederländische Strafprozessrecht eine Zustellung „des Urteils” durch das Gericht nicht kennt, sondern stattdessen (aber mit denselben prozessualen Wirkungen) die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde dem Angeklagten eine „Mitteilung über das Urteil” zustellt. Dies ist vorliegend, wie oben ausgeführt, erfolgt und ausreichend, um die in § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG vorgesehenen Rechtsfolge – die Zulässigkeit der Auslieferung – nach sich zu ziehen. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 83 n. F. (vgl. BT-Drucks. 18/3562, Seite 86) ist ein Abwesenheitsurteil auch dann anzuerkennen und eine Auslieferung zu dessen Vollstreckung zulässig, wenn die verurteilte Person die ihr zugestellte Entscheidung nicht anficht bzw. die nach dem Recht des ersuchenden Staates geltenden Fristen für Rechtsbehelfe fruchtlos verstreichen ließ. Hierbei machte der Gesetzgeber deutlich, dass unter der „Zustellung der Entscheidung” aus der Sicht des deutschen Rechts nicht nur die Zustellung des Urteils als solchem zu verstehen ist, sondern auch die Zustellung „zumindest seiner maßgeblichen Passagen”. Wie oben ausgeführt enthält die Urteilsmitteilung vom 28.04.2009 aber die insoweit maßgeblichen Passagen des Abwesenheitsurteils vom 02.04.2009. Dass die Mitteilung über das Urteil und die dieser beigefügte Rechtsmittelbelehrung dem Verfolgten nicht in einer ihm verständlichen Sprache erteilt wurde, ist weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.
Soweit der Verfolgte rügt, dass die Anerkennung des niederländischen Abwesenheitsverfahrens im Ergebnis dazu führe, dass seine Rechte als Angeklagter beschnitten werden und deswegen seine Auslieferung nur dann zulässig sei, wenn ihm entweder das Abwesenheitsurteil vom 02.04.2009 nunmehr zugestellt werde (mit der Folge, dass die Rechtsmittelfristen erst ab diesem Zeitpunkt laufen würden und daher noch nicht abgelaufen wären) oder ihm in den Niederlanden ein neues Verfahren garantiert werden würde, kann er damit aus folgenden Gründen nicht durchdringen: Anlass für die Änderung des § 83 IRG war die Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI betreffend Abwesenheitsentscheidungen. Durch die – mehr als 4 Jahre nach der am 28.03.2011 endenden Frist – erfolgte Umsetzung des Rahmenbeschlusses in das deutsche Recht hat in das IRG eine sehr viel weiter gehende Anerkennung von Abwesenheitsverfahren Einzug gehalten, als unter Geltung der alten Fassung von § 83 IRG. § 83 Nr. 3 a. F. IRG beruhte auf der Erwägung, dass im Strafverfahren die Mindestrechte der Verteidigung gewahrt sein müssen, damit die Auslieferung zur Strafvollstreckung zulässig ist. Der bis 24.07.2015 geltenden Fassung von § 83 IRG lag das Verständnis zugrunde, dass dem Verfolgten – wenn kein Fluchtfall vorliegt – grundsätzlich durch ein Abwesenheitsverfahren, von dem er keine Kenntnis hat, die Möglichkeit genommen wird, sich wirksam zu verteidigen, insbesondere die Rechte wahrzunehmen, die seine Anwesenheit voraussetzen. Nach § 83 IRG a. F. war in diesen Fällen die Auslieferung zur Strafvollstreckung nur zulässig, wenn der Verfolgte (zumindest auf Antrag) nach vollzogener Auslieferung das Recht auf ein neues Verfahren mit Teilnahmerechten erhielt (vgl. auch Grützner/Pötz/Böse, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 83 IRG Rn. 16; Schomburg/Lagodny/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., § 83 IRG Rn. 5). Nachdem es sich vorliegend nicht um einen Fluchtfall handelt, wäre die Auslieferung des Verfolgten unter Zugrundelegung von § 83 a. F. nach dessen Nr. 3 IRG daher nur zulässig gewesen, wenn die Niederlande zusichern würden, dass der Verfolgte nach erfolgter Auslieferung das Recht auf ein erneutes Verfahren hätte. Dies haben die niederländischen Behörden vorliegend ausgeschlossen, was jedoch entgegen der Ansicht des Verfolgten nicht zur Unzulässigkeit der Auslieferung führt. Denn eine solche Zusicherung ist für die Zulässigkeit der Auslieferung nicht erforderlich, da die Voraussetzungen von § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG erfüllt sind.
Der Fall, dass der Verfolgte – wie hier – vor der Auslieferung das Recht erhalten hat, gegen die Abwesenheitsverurteilung Rechtsmittel einzulegen und hierdurch eine Verhandlung mit Anwesenheitsrechten hätte herbeiführen können, der Verfolgte dieses Recht jedoch noch vor seiner Verhaftung im Auslieferungsverfahren nicht wahrgenommen hat, ist seit dem 25.07.2015 in § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG geregelt. Die Auslegung von § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG hat dabei rahmenbeschlusskonform zu erfolgen, wobei folgende Erwägungen zugrunde zu legen sind: Die vorliegende Fallgestaltung entspricht der in Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung vom 27.03.2009 (also nach der Änderung durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009) in Absatz 1 unter lit. c) ii) geregelten Fallgestaltung. Von der Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 2 RbEuHb zum Vollzug eines Europäischen Haftbefehls macht Art. 4a RbEuHB zunächst eine Ausnahme: ein fakultativer Grund zu Ablehnung der Auslieferung besteht grundsätzlich, wenn die verurteilte Person nicht zur Verhandlung erschienen ist, die zu der Verurteilung geführt hat. Von dieser Ausnahme macht Art. 4a des Rahmenbeschlusses jedoch sogleich 4 Rückausnahmen. Der Europäische Gerichtshof hat durch Urteil vom 26.02.2013, Gz.: C-399/11 im Fall Melloni (NJW 2013, 1215) entschieden, dass beim Vorliegen einer dieser 4 Rückausnahmetatbestände der ersuchte Staat trotz des Vorliegens eines Abwesenheitsurteils nicht mehr die Wahl hat, die Auslieferung zur Vollstreckung für zulässig zu erklären oder sie abzulehnen, sondern dass der ersuchte Staat in diesen Fällen trotz des Vorliegens eines Abwesenheitsurteils den Europäischen Haftbefehl vollziehen muss. Beim Vorliegen einer solchen Rückausnahme – so der Gerichtshof im Fall Melloni – hindert Art. 4a RbEuHb den ersuchten Mitgliedsstaat zugleich daran, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person [noch] von der Möglichkeit der Überprüfung der Verurteilung nach erfolgter Auslieferung in Anwesenheit dieser Person abhängig zu machen. Der Europäische Gerichtshof hat im Fall Melloni ausgeführt, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung mit dem sich aus Art. 47 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren) und Art. 48 Abs. 2 (garantierte Verteidigungsrechte) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergebenden Erfordernissen vereinbar ist. Im Fall Trade Agency hatte der Europäische Gerichtshof zuvor bereits entschieden, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, zwar ein wesentlicher Teil des Rechts auf ein faires Verfahren, aber kein absolutes Recht ist (vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. September 2012 – C 619/10). Der Unionsgesetzgeber geht ganz offensichtlich davon aus, dass ein Angeklagter auf sein Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung ausdrücklich oder stillschweigend verzichten kann (vgl. Grützner/Pötz/Böse, III A 1.2 Rn. 7). Im Fall Melloni hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, dass Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen ist, dass dieser einem Mitgliedsstaat beim Vorliegen der Voraussetzungen aus Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung nicht gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person [noch] von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im ersuchenden Mitgliedsstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in der Verfassung des ersuchten Mitgliedsstaats garantiert sind, verletzt werden. Danach darf die Geltung des Unionsrechts und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass der ersuchte Staat seinen Verpflichtungen aus Art. 4a RbEuHb Vorschriften bzw. Grundsätze des nationalen Rechts entgegenhält, selbst wenn diese im ersuchten Staat Verfassungsrang haben. Der europäische Gesetzgeber hat – so der Gerichtshof – hinsichtlich der in Art. 4a RbEuHb aufgeführten Fallgestaltungen die Abwägung zwischen dem Interesse der Union an einer effektiven strafrechtlichen Kooperation einerseits und dem Interesse der Mitgliedsstaaten an dem Bestand der nationalen Verfassungsrechte andererseits abschließend getroffen, weswegen für einzelstaatliche Erwägungen insoweit kein Raum mehr besteht. Hintergrund ist, wie der Gerichtshof ausdrücklich ausführt, dass die Verwirklichung des Ziels, die Europäische Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werden zu lassen, ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten voraussetzt (vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29. Januar 2013 – C 396/11 im Fall Radu). Der Unionsgesetzgeber wollte – so der Gerichtshof – durch die entsprechenden Regelungen zum Europäischen Haftbefehl nicht nur die justizielle Zusammenarbeit erleichtern; er wollte dadurch zugleich auch die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedsstaaten verbessern, und zwar durch die Harmonisierung der Grundlagen für die (Nicht-)Anerkennung von Entscheidungen, die in Abwesenheit der verurteilten Person ergangen sind. Der Gerichtshof hat hierbei darauf hingewiesen, dass durch die Einfügung von Art. 4a in den Rahmenbeschluss von 2002 durch den Rahmenbeschlusses 2009/299 gerade die Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung von Abwesenheitsverurteilungen beseitigt werden sollten, die darauf beruhen, dass in den Mitgliedsstaaten Unterschiede im Grundrechtsschutz bestehen. Nachdem sich der Unionsgesetzgeber dafür entschieden hat, die Fälle abschließend zu regeln, in denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der auf einer Verurteilung in Abwesenheit beruht, nicht abgelehnt werden kann (nämlich in den oben genannten 4 Rückausnahmefällen), hat er damit – so der Gerichtshof – zugleich abschließend entschieden, dass in diesen Fällen nicht von einer Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte auszugehen ist. Durch diese Auslegung werden die Mitgliedsstaaten letztlich gezwungen, prozessrechtliche Standards anderer Mitgliedsstaaten anzuerkennen, auch wenn diese mit dem Prozessrechtssystem des ersuchten Staates nicht in Einklang stehen (vgl. hierzu den Aufsatz von Safferling in NStZ 2014, 245). Damit kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass der Verfolgte nach vollzogener Auslieferung ein Recht auf ein erneutes Verfahren mit Anwesenheitsrechten hat, sondern dass er überhaupt nach der Abwesenheitsverurteilung ein solches Recht hat bzw. hatte. Dem wurde durch die Schaffung von § 83 Abs. 3 IRG Rechnung getragen.
Durch die Anwendung von § 83 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 IRG auf die vorliegende Fallgestaltung liegt auch kein Verstoß gegen den deutschen ordre public vor, denn diese Fallgestaltung ist mit dem im deutschen Strafverfahren zulässigen Strafbefehlsverfahren durchaus vergleichbar. Bei diesem steht es dem Angeklagten nach Zustellung des Strafbefehls ebenfalls frei, fristgerecht Einspruch einzulegen und so sein Recht auf eine Hauptverhandlung wahrzunehmen oder aber kein Rechtsmittel einzulegen und so die im Strafbefehl ausgesprochen Strafe rechtskräftig und vollstreckbar werden zu lassen. Eine Vorgehensweise, wie vorliegend nach niederländischem Recht erfolgt, ist also auch dem deutschen Straf- bzw. Strafverfahrensrecht im Grundsatz nicht unbekannt. Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts muss sich das aus den oben aufgeführten Erwägungen ergebende Ergebnis mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des deutschen Strafprozessrechts an ein faires Verfahren noch in Einklang bringen lassen. Dies ist zur Überzeugung des Senats der Fall, so dass die Auslieferung des Verfolgten auch nach Einholung der ergänzenden Auskünfte und trotz der vom Verfolgten seit der Zulässigkeitsentscheidung vom 27.01.2016 erhobenen Einwendungen weiterhin zulässig ist.
Ungeachtet des Umstands, dass vorliegend eine Zusicherung durch die niederländischen Behörden auf ein neues Verfahren für die Zulässigkeit der Auslieferung nicht erforderlich ist, legt der Senat die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs im Fall Melloni auch dahingehend aus, dass die Niederlande nicht zur Abgabe einer Einzelgarantie auf erneute Durchführung des Strafverfahrens aufgefordert werden dürften. Denn wenn der um Auslieferung aufgrund eines Abwesenheitsurteils ersuchende Staat das Abwesenheitsverfahren in seinem nationalen Verfahrensrecht geregelt und dieses Verfahren eingehalten hat, hat er aus der Sicht seines Rechts weder Anlaß noch Raum dafür, eine entsprechende Einzelgarantieerklärung abzugeben. Dementsprechend haben die niederländischen Behörden auch bereits erklärt, dass der Verfolgte nach der Auslieferung kein Recht auf eine erneute Durchführung des Strafverfahrens hat.
Soweit der Verfolgte die Unzulässigkeit seiner Auslieferung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 15.02.2015 – 2 BvR 2735/14 stützen möchten, bleibt auch dies ohne Erfolg, da diese Entscheidung ersichtlich noch zu § 83 IRG alter Fassung ergangen ist. § 83 IRG in der seit 25.07.2015 geltenden Fassung liegt eine viel weiter gehende Anerkennung eines in einem Mitgliedsstaat des Europäischen Haftbefehls rechtmäßig durchgeführten Abwesenheitsverfahrens zugrunde.
Da der Verfolgte durch die auf seiner eigenen Entscheidung beruhende Nichteinlegung eines Rechtsmittels gegen das Abwesenheitsurteil vom 02.04.2009 darauf verzichtet hat, dass in den Niederlanden ein Berufungsverfahren durchgeführt wird, kann er nunmehr mit dem Einwand, er habe ja keine Beweise anbieten können bzw. er habe doch ein Recht darauf, dass seine Persönlichkeit bei der Ermittlung der angemessenen Strafe berücksichtigt werde, nicht gehört werden. Entgegen der Ansicht des Verfolgten liegt hierin weder eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, noch ein Verstoß gegen Artikel 6 EMRK bzw. sein Recht auf ein faires Verfahren. Er wurde nachweislich darüber informiert, was ihm im niederländischen Strafverfahren angelastet wurde (Art. 6 Abs. 3 lit. a), er hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. b), denn der erste Termin war am 18.9.2008 und er wurde im Juni 2008 dazu geladen. Er hatte ferner das Recht, sich selbst oder durch einen Verteidiger zu verteidigen (Art. 6 Abs. 3 lit. c), hat aber darauf verzichtet, im ersten (ihm jedenfalls bekannten) Termin zu erscheinen oder einen Verteidiger zu beauftragen. Es stand ihm jederzeit frei, sich bei den niederländischen Behörden über den Fortgang des ihm bekannten Strafverfahrens zu erkundigen, was er jedoch nicht getan hat. Nachdem er nicht zu dem ersten ihm bekannten Hauptverhandlungstermin erschienen ist und sich danach nicht mehr nach dem Fortgang des Verfahrens erkundigt hat und insbesondere nach der Zustellung der Urteilsmitteilung keine Berufung eingelegt hat, hat er sich seines Rechts, Fragen an Belastungszeugen zu stellen bzw. die Vernehmung von Entlastungszeugen zu erwirken (Art. 6 Abs. 3 lit. d) selbst begeben. Auch das übrige Vorbringen des Verfolgten führt nicht zu einer abweichenden Sachentscheidung. Die Auslieferung des Verfolgten ist daher weiterhin zulässig. Ein Grund für einen weiteren Aufschub des Vollzugs der Auslieferung ist nicht ersichtlich.
Nachdem sich hinsichtlich der Haftgründe keine Veränderungen zugunsten des Verfolgten ergeben haben, war die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen. Für eine Außervollzugsetzung des Auslieferungshaftbefehls (§ 25 IRG) fehlt es weiterhin an der erforderlichen Vertrauensgrundlage.


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