Europarecht

Rücknahmefiktion bei Untertauchen des Asylbewerbers

Aktenzeichen  Au 4 K 17.35379

Datum:
4.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 9519
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 10 Abs. 1, § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 5

 

Leitsatz

1 Es ist grundsätzlich Sache des Asylbewerbers, dafür Sorge zu tragen, dass beim Bundesamt bzw. der Ausländerbehörde nicht der Eindruck des Untertauchens entsteht. Das Bundesamt ist nicht gehalten, aktiv langwierige Nachforschungen nach dem aktuellen Aufenthalt zu betreiben. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Auch aus Ereignissen, die dem Einstellungsbescheid nachfolgen, kann geschlossen werden, dass der Asylbewerber im Zeitpunkt des Bescheiderlasses jedenfalls nicht in einer für die Annahme seines Untertauchens ausreichenden Weise für die staatlichen Behörden nicht auffindbar oder nicht greifbar war. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 15.11.2017 (Gesch.-Z.: …) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Nachdem hinsichtlich des klageabweisenden Gerichtsbescheids vom 2. Februar 2018 rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt wurde, gilt diese als nicht ergangen (§ 84 Abs. 3 Halbs. 2 VwGO).
Die Klage, über die, nachdem § 102 Abs. 2 VwGO beachtet wurde, trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte, ist unter Berücksichtigung der vor der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse zulässig und begründet. Der Bescheid vom 15. November 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Beklagte konnte nicht davon ausgehen, dass der Kläger gem. § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG untergetaucht war.
Zwar mag es, wie im Gerichtsbescheid ausgeführt, für die Annahme eines Untertauchens ausreichen, wenn eine Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde vorliegt, dass der Ausländer nicht in der zugewiesenen Unterkunft nächtige, weil davon auszugehen ist, dass diese Unterkunft zumindest zum Übernachten aufgesucht wird. Eine solche Mitteilung wird regelmäßig auch ausreichen, um ein Untertauchen, wie vom Gesetzgeber – allerdings ohne entsprechende Normierung – gewünscht (vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 17), aktenkundig zu machen. Unter Berücksichtigung der Pflichten nach § 10 Abs. 1 AsylG (Gewährleistung der Erreichbarkeit für Behörden und Gerichte) sowie der Regelungen in § 33 Abs. 2 Satz 2 und 3 AsylG ist es ferner grundsätzlich Sache des Ausländers, dafür Sorge zu tragen, dass bei Bundesamt bzw. Ausländerbehörde nicht der Eindruck des Untertauchens entsteht; das Bundesamt ist nicht gehalten, aktiv langwierige Nachforschungen nach dem aktuellen Aufenthalt zu betreiben (vgl. Heusch, in Kluth/ders., BeckOK AuslR, Rn. 21 zu § 33 AsylG).
Allerdings setzt die vom Gesetzgeber für ein Untertauchen geforderte Nichtauffindbarkeit für die staatlichen Behörden (vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 17) mehr als eine bloße Momentaufnahme voraus. Begrifflich bzw. bildlich bedeutet Untertauchen ein Verschwinden, so dass die Sichtbar- und Wahrnehmbarkeit des Betreffenden nicht mehr gegeben und sein Aufenthalt und seine Aktivitäten nicht mehr nachvollziehbar sind. Auch wegen der einschneidenden Rechtsfolgen einer Verfahrenseinstellung kann ein Untertauchen nicht vorschnell angenommen werden. Schließlich kann aus dem Gesamtkontext von Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) als unionsrechtliche Grundlage von § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG geschlossen werden, dass eine gewisse Frist verstrichen sein muss, bevor von einem Untertauchen gesprochen werden kann (vgl. VG München, B.v. 8.8.2017 – M 9 S 17.39626 – juris Rn. 20); freilich ist es, wie ausgeführt, Sache des Ausländers, dafür Sorge zu tragen, dass seine Erreichbarkeit zu keiner Zeit in Frage steht.
Gemessen hieran war im vorliegenden Fall eine Verfahrenseinstellung wegen Untertauchens gem. § 33 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht gerechtfertigt. Dem Bundesamt war die Mitteilung der Regierung von * vom 26. Oktober 2017, dass der Kläger untergetaucht sei, offenbar Ende Oktober / Anfang November 2017 zugegangen (vgl. Bundesamtsakte, Bl. 227 – 229). Frühere oder andere Erkenntnisse über ein Untertauchen des Klägers lassen sich der Bundesamtsakte nicht entnehmen. Der streitgegenständliche Bescheid ist am 17. November 2017 durch Bekanntgabe an die Klägerbevollmächtigten wirksam geworden (§ 43 Abs. 1 VwVfG). Den Angaben der Klägerbevollmächtigen in der mündlichen Verhandlung zur klägerseits erteilten Vollmacht lässt sich entnehmen, dass der Kläger bereits am 22. November 2017, also fünf Kalenderbzw. drei Werktage nach Bescheidbekanntgabe, die Kanzlei der Klägerbevollmächtigten aufgesucht hat. Ferner hat der Kläger wenige weitere Tage später, am 28. November 2017, beim Landratsamt * als mittlerweile zuständiger Ausländerbehörde vorgesprochen. Am 15. Dezember 2017 wurde dem Kläger antragsgemäß eine Duldungsbescheinigung ausgestellt, deren Empfang er am selben Tag quittierte. Diese Ereignisse fanden zwar nach Ergehen des Einstellungsbescheids statt; nachdem sie jedoch in engem zeitlichen und insbesondere auch sachlichen Zusammenhang mit der Verfahrenseinstellung wegen Untertauchens standen, kann aus ihnen zur Überzeugung des Gerichts geschlossen werden, dass der Kläger im Zeitpunkt des Bescheiderlasses jedenfalls nicht in einer für die Annahme seines Untertauchens ausreichenden Weise für die staatlichen Behörden nicht auffindbar oder nicht greifbar war. Im Übrigen ist gem. § 77 Abs. 1 AsylG – der nicht Art und Gegenstand der Streitigkeiten differenziert – auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen; an dieser hat der Kläger auch teilgenommen.
Der Klage war damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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