Europarecht

Rückruf eines Produkts, Abgrenzung Nahrungsmittel, Arzneimittel, Funktionsarzneimittel, Alpha-Liponsäure in Nahrungsergänzungsmittel, Austausch der Rechtsgrundlage

Aktenzeichen  M 26b S 21.3863

Datum:
14.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 29651
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
KontrollVO Art. 138
BasisVO Art. 14
RL 2001/83/EG Art. 1 Nr. 2 der
AMG § 2 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 21. Juli 2021 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juli 2021, Az. …, wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500,– festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen einen lebensmittelrechtlichen Rückruf.
Die Antragstellerin betreibt unter dem Namen A … verschiedene Nahrungsergänzungsmittel. Die Erzeugnisse werden hauptsächlich online in Deutschland und europaweit vertrieben. Hierzu zählt u.a. das Produkt „A … B … – Nahrungsergänzungsmittel mit Vitamin C, Vitamin E, Alpha-Liponsäure, OPC, Q10, Curcuma & Piperin“ mit einer täglichen Verzehrmenge von 300 mg Alpha-Liponsäure (ALA) bei einer bestimmungsgemäßen Aufnahme von 3 Kapseln pro Tag (im Folgenden als „Produkt“ bezeichnet).
Am … Juli 2021 wurde auf Anforderung des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) eine Probe des Produkts genommen. Mit Gutachten des LGL vom 15. Juli 2021 wurde es als gesundheitsschädlich und nicht sicher im Sinne des Art. 14 Absatz 2 Buchst. a der Basisverordnung beurteilt. Der ermittelte Gehalt an ALA entspreche bei der bestimmungsgemäßen Einnahme von 3 Kapseln pro Tag einer zugeführten Menge von 306 mg ALA pro Tagesdosis. Das nationale dänische Lebensmittelinstitut habe für ALA basierend auf einem NOAEL (No Observed Adverse Effect Level, höchste Konzentration oder Menge eines Stoffs, bei der in einer exponierten Population keine nachweisbare nachteilige Wirkung auftritt) von 60 mg/Kilogramm Körpergewicht und Tag aus einem Langzeitversuch an Ratten und der Einrechnung eines Sicherheitsfaktors von 100 eine gesundheitlich duldbare tägliche Dosis von 0,6 mg ALA pro Kilogramm Körpergewicht abgeleitet. Danach könne ein 70 kg schwerer Erwachsener täglich bis zu 42 mg ALA oral aufnehmen, ohne dass eine Gesundheitsschädigung zu erwarten sei. Die Tagesdosis von 306 mg ALA überschreite die sichere tägliche Aufnahmemenge von bis zu 42 mg HLA erheblich, nämlich um den Faktor 7,3. Die deklarierte Tagesdosis von 306 mg ALA liege nur wenig unterhalb des Bereichs, in dem ALA als Arzneimittel zur Behandlung von Parästhesien bei diabetischer Polyneuropathie (krankhafte Empfindung im Versorgungsgebiet eines Hautnervs ohne erkennbare adäquate physikalische Reize aufgrund geschädigter Nerven an verschiedenen Stellen im Körper durch hohe Blutzuckerwerte) eingesetzt werde und für den das Auftreten einer Reihe adverser Affekte in klinischen Studien, in der Post Marketing Surveillance und aus Einzelfallberichten beschrieben werde, darunter auch schwerwiegender wie Herzrhythmusstörungen und myokardialer Störungen, Zeichen von Leberschädigung und das Auftreten eines Insulinautoimmunsyndroms (IAS – Unterzuckerung, die bis zu einer Bewusstlosigkeit führen kann).
Mit E-Mail vom 15. Juli 2021 wurde dieses Gutachten an die Antragstellerin übermittelt. Es wurden alle Unterlagen angefordert, die für eine Schnellwarnung (Meldung im europäischen Schnellwarnsystem RASFF) erforderlich sind. Eigenkontrollmaßnahmen der Antragstellerin wurden abgefragt. Am selben Tag teilte die Antragstellerin mit, dass sie alle Chargen des Produktes auf ihrer Homepage und in ihrem Wirtschaftssystem gesperrt habe, damit keine weiteren Verkäufe erfolgten. Die schnellstmögliche Übermittlung der angeforderten Unterlagen wurde zugesagt.
Am Freitagmittag des 16. Juli 2021 teilte die Antragstellerin mit, dass das Gutachten des LGL ernst genommen werde und Kooperationsbereitschaft bestehe, dass aber noch Klärungsbedarf im Hinblick auf das Gutachten gesehen werde. Es werde um eine Frist bis Dienstag der folgenden Woche zur Prüfung und Darlegung der Sachlage gebeten. Im anliegenden Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin wurde ausgeführt, dass eine Gesundheitsgefahr durch den Verzehr von ALA entgegen der Einschätzung des LGL nicht bestehe. Als Beleg wurde u.a. eine Stellungnahme der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vom 8. April 2021 vorgelegt. Gemäß dieser Stellungnahme sei ungeklärt, ob es unerwünschte Effekte durch den Verzehr von ALA bei Personen gäbe, die an einer seltenen Erkrankung litten. Welche Schlüsse die Kommission aus dieser Stellungnahme ziehe, sei noch nicht klar. Jedenfalls seien keine Dringlichkeitsmaßnahmen angeordnet worden. Die in Rede stehenden Produkte seien bereits seit langem auf dem Markt, wobei die Dosierung von 300 mg im Produkt keineswegs ungewöhnlich sei.
Am Montagmorgen, 19. Juli 2021, bat der Bevollmächtigte der Antragstellerin um die Möglichkeit einer Frist von zwei Arbeitstagen, um zu der Angelegenheit durch die Vorlage einer sachverständigen Bewertung Stellung zu nehmen. Daraufhin wurde eine Stellungnahmefrist bis 14:00 Uhr desselben Tages eingeräumt. Mit E-Mail vom 19. Juli 2021, welche der Antragstellerin am Nachmittag übersandt wurde, nahm das LGL zu den Einwendungen der Antragstellerin Stellung. Die EFSA-Stellungnahme sei bei der Erstellung der toxikologischen Risikobewertung zu ALA berücksichtigt worden und liefere weitere gewichtige Argumente für die Einstufung des Produkts als gesundheitsschädlich. Ab einer Tagesdosis von 200 mg werde ALA mit der Entwicklung eines IAS in Verbindung gebracht, wobei auch schon niedrigere Dosen möglicherweise diese Entwicklung auslösen könnten, wozu aber noch belastbare Informationen fehlten. Die EFSA schlussfolgere, dass der Verzehr von ALAangereicherten Lebensmitteln einschließlich Nahrungsergänzungsmittels wahrscheinlich zu einem erhöhten Risiko der Entwicklung einer IAS führe. Die Gesamtschau mit weiteren in der toxikologischen Risikobewertung aufgeführten Befunden mache eine Auslösung adverser Effekte durch das Produkt wahrscheinlich und eine Bewertung als gesundheitsschädliches Lebensmittel notwendig.
Gleichzeitig wurde der Antragstellerin eine ausführliche Fassung des Kurzgutachtens vom 15. Juli 2021 übermittelt. Dieser ist zu entnehmen, dass ALA in Nahrungsmitteln vor allem in rotem Fleisch sowie in Innereien vorkomme. Der ALA-Gehalt in Nahrungsmitteln sei allerdings sehr gering, nicht mehr als 3 mg/Kilogramm. Bezüglich Humandaten wird u.a. ausgeführt, dass in Deutschland ALA seit vielen Jahren als Arzneimittel zur Behandlung von Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie eingesetzt werde und zwar in einer Tagesdosis von 400 bis 600 mg. Für den therapeutischen Einsatz von ALA in einer Dosis von 600 mg pro Tag würden eine Reihe adverser Effekte berichtet. Im Zeitraum 1992 bis 1995 seien laut einer Post Marketing Studie bei oraler täglicher Aufnahme von 600 mg HLA durch 3616 Patienten insgesamt 11 Fälle von Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Diarrhoe, bei insgesamt 10 Fällen allergische Reaktionen der Haut wie das Auftreten von Urticaria (Nesselsucht), Juckreiz und Dermatitis, bei 7 Fällen Anzeichen eine Schädigung der Leber oder der Galle aufgetreten. In randomisierten Doppel-Blind und Placebokontrollierten MulticenterStudien im Rahmen der Behandlung von Diabetes-Patienten habe sich gezeigt, dass schwerwiegende adverse Effekte in der mit 600 (bzw. 1200 und 1800) mg ALA behandelten Gruppe häufiger aufgetreten seien als in der Placebogruppe, darunter Herzfrequenzund Herzrhythmusstörungen, myo-, endo-und pericardiale Störungen sowie Störungen im Harnwegssystem. Dosisabhängig wurde eine Zunahme des Auftretens von Übelkeit, Erbrechen und Schwindel festgestellt.
Ein 14-jähriges 45 kg schweres Mädchen sei laut Studie nach akuter oraler Aufnahme von mindestens 6000 mg ALA (abgeschätzte akute letale Dosis: 133 mg/Kilogramm Körpergewicht) in Suizidabsicht innerhalb von 24 Stunden an Multiorganversagen verstorben. Anderswo werde über die Auslösung eines Status epilepticus nach akuter Aufnahme von ALA bei zwei Kleinkindern berichtet.
In den Fachinformationen der ALA enthaltenden Arzneimittel würden die adversen Wirkungen im Sinne von gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Diarrhoe als sehr selten, allergische Reaktionen wie Hautausschlag, Urticaria, und Juckreiz ebenfalls als sehr selten angegeben, hypoglykämische Beschwerden ebenfalls als sehr selten.
2014 sei das Auftreten von 6 Fällen von IAS im Zusammenhang mit der täglichen Einnahme von 600 mg ALA mit Symptomen einer ausgeprägten Hypoglykämie beschrieben worden. Die betroffenen Personen seien aufgrund genetischer Disposition suszeptibel hierfür gewesen. Daraufhin sei auf Veranlassung der Europäische Arzneimittel-Agentur in die Produktinformationen ein entsprechender Warnhinweis aufgenommen worden. Die genetische Anfälligkeit findet sich vorwiegend bei Patienten aus Japan und Korea. In einer Bewertung der EFSA 2021 seien 44 Fälle der Einnahme von ALA mit IAS in Verbindung gebracht worden. Die EFSA habe keine Dosis definieren können, ab der eine IAS nicht zu erwarten sei.
Die beim Verzehr des vorliegenden Nahrungsergänzungsmittels resultierende Tagesmenge an ALA von 306 mg liege erheblich über der nahrungsbedingten Aufnahme an ALA, die bei ungünstiger Annahme weniger als 3 mg pro Tag betrage. Somit überschreite die Aufnahmemenge an ALA die übliche nahrungsmittelbedingte Aufnahme an ALA um mindestens den Faktor 102. Der Abstand der beim Verzehr des vorliegenden Nahrungsergänzungsmittels resultierenden Expositionsdosen zum NOAEL von 60 mg/Kilogramm Körpergewicht und Tag betrage nur Faktor 13,6. Der Sicherheitsfaktor von 100 sei damit deutlich unterschritten, weshalb nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass das vorliegenden Nahrungsergänzungsmittel beim täglichen Verzehr gesundheitsschädlich sei.
Mit derselben E-Mail vom 19. Juli 2021 wurde wegen Gefahr im Verzug der Erlass eines Anordnungsbescheides für denselben Tag oder spätestens den 20. Juli 2021 angekündigt.
Mit Bescheid vom 20. Juli 2021 ordnete die Antragsgegnerin gegen die Antragstellerin an, das streitgegenständliche Produkt mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum 31. Mai 2022, Losnummer …: … und alle Chargen mit gleichem Inhalt und der gleichen Rezeptur von ihren Kunden, die die Ware von der Firma im Onlinehandel erworben haben, mittels einer schriftlichen Kundeninformation oder per E-Mail zurückzurufen (Nr. 1.1 des Bescheids), von den Verbrauchern, die die Ware im Einzelhandel erworben haben, mittels eines öffentlichen Warenrückrufes zurückzurufen (jeweils mit Produktfoto: Veröffentlichung auf der eigenen Firmenwebseite, Pressemitteilung, Kundenaushang) (1.2) und von den belieferten Händlern (Online-Apotheken, Vertriebspartner, Ländervertretungen) zurückzurufen und den Händlern einen entsprechenden Kundenaushang mit Produktfoto bereitzustellen (Nr. 1.4). Der öffentliche Warenrückruf (Pressemitteilung) sei gemäß dem beigefügten Muster zu erstellen; die Veröffentlichung habe mittels Zuleitung einer Pressemitteilung an die relevanten Medien und Nachrichtenagenturen im Vertriebsgebiet des streitgegenständlichen Lebensmittels zu erfolgen (Nr. 1.3)
In den Informationen gemäß Nr. 1.1 bis 1.4 müssten die folgenden konkreten Gesundheitsgefahren und Warnungen angegeben werden:
„Es liegt eine bestehende Gesundheitsgefahr vor, da die aus den Verzehrempfehlungen des Artikels resultierende Tagesdosis der Alpha-Liponsäure (ALA) die sichere tägliche Aufnahmemenge um ein Vielfaches überschreitet. Als mögliche Effekte können folgende genannt werden: Bei einer nur wenig höheren Tagesdosis wurde das Auftreten einer Reihe adverser Effekte, darunter auch schwerwiegende adverse Effekte wie die Auslösung von Herzrhythmusstörungen und myokardialer Störungen (Angina pectoris und Myokardinfarkt), Zeichen einer Leberschädigung und das Auftreten eines Insulinautoimmunsyndroms beobachtet. Kunden, die den entsprechenden Artikel gekauft haben, wird empfohlen, das Produkt nicht weiter zu verzehren.“ (Nr. 2)
Für die Lebensmittel unter Nr. 1 1 seien innerhalb eines Werktages nach Bekanntwerden dieses Bescheides Vertriebslisten über die belieferten Händler und Kunden in Tabellenform in elektronischer Form (sortierbar) der Antragsgegnerin vorzulegen (Nr. 3). Die aktuellen Warenbestände des Lebensmittels seien innerhalb eines Werktages nach Bekanntwerden des Bescheides der Antragsgegnerin schriftlich mitzuteilen (Nr. 4). Die Muster der Kundeninformation, des Händleranschreibens und des Kundenaushangs sowie die veröffentliche Pressemitteilung, die Übermittlungsnachweise an die Medien und Nachrichtenagenturen seien der Antragsgegnerin innerhalb eines Werktages nach Bekanntwerden des Bescheides vorzulegen (Nrn. 5 und 6). In Nr. 7 wurden diesbezüglich jeweils Zwangsgelder angedroht.
Die Anordnung des Rückrufs der Lebensmittel und der Vorlage der entsprechenden Nachweise und Unterlagen stütze sich auf § 39 Abs. 2 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB), Art. 138 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) 2017/625 (Verordnung über amtliche Kontrollen) in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Basisverordnung). Die Antragstellerin habe nicht sichere Lebensmittel in Verkehr gebracht. Gemäß den Gutachten des LGL vom 15. Juli 2021 handle es sich um ein gesundheitsschädliches und damit nicht sicheres Lebensmittel. Diese Einschätzung teile die Antragsgegnerin.
Die Anordnungen seien im Rahmen der Ermessensausübung gerechtfertigt. Um zu verhindern, dass das Produkt weiter durch die Endverbraucher verzehrt würde, müssten die Kunden so schnell und effektiv wie möglich informiert werden. Dass das Produkt bereits länger im Verkauf sei, bedeute eine Verschärfung der Gefahrenlage, da potentiell zahllose Verbraucher betroffen seien. Da das Produkt 90 Tagesdosen enthalte, könne sogar eine wiederholte tägliche Einnahme des gesundheitsschädlichen Lebensmittels über einen Zeitraum von 3 Monaten erfolgen. Somit liege eine besonders hohe Gefahr der Gesundheitsschädigung vor.
Auch wenn von der Antragstellerin aus dem EFSA-Papier andere Schlüsse gezogen würden, sei es aufgrund des hohen Stellenwerts der menschlichen Gesundheit und der zu erwartenden wiederholten Aufnahme des Lebensmittels über einen längeren Zeitraum notwendig, die Gefahr auszuräumen und einer weiteren möglichen Gesundheitsschädigung unverzüglich vorzubeugen. Vor diesem Hintergrund sei die Anordnung des öffentlichen Rückrufes geeignet und angemessen. Die finanziellen Interessen der Antragstellerin müssten hier zurückstehen. Auf eine Anhörung habe verzichtet werden müssen. Die Antragstellerin habe bereits Gelegenheit gehabt, zu dem Kurzgutachten des LGL vom 15. Juli 2021 Stellung zu nehmen.
Die Anordnungen der Nrn. 1 bis 7 seien gemäß § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB sowie Art. 21 Buchst. a Satz 1 VwZVG kraft Gesetzes sofort vollziehbar.
Auf den Bescheid und seine Begründung im Einzelnen wird verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 21. Juli 2021 ließ die Antragstellerin durch ihre Prozessbevollmächtigten beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben und gleichzeitig in diesem Verfahren beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tag gegen den Bescheid vom 20.07.2021, Az. …, wird angeordnet.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass Lebensmittel mit dem Stoff ALA seit vielen Jahren auf dem Markt seien, und zwar auch in Dosen wie der hier in Rede stehenden. Für ALA gebe es keine festgelegten Höchstmengen oder sonstige mengenbezogenen Anforderungen. Negative gesundheitliche Auswirkungen durch den Verzehr von Lebensmitteln mit ALA seien bisher nie festgestellt worden. Lebensmittel und speziell Nahrungsergänzungsmittel mit ALA seien, auch in höheren Dosierungen mit bis zu 600 mg, zahlreich im Handel zu finden. Es gebe keine klinischen Studien und keine Verbraucherbeschwerden zu gesundheitlichen Auswirkungen von ALA in der streitgegenständlichen Konzentration. Entsprechende Verfahren von Untersuchungsämtern oder Vollzugsbehörden in anderen Bundesländern seien unbekannt. Derzeit nehme die Europäische Kommission die Sicherheitsbewertung für ALA in einem Verfahren nach Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 (VO über den Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln) neu vor. Von der Option, Dringlichkeitsmaßnahmen nach Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung einzuleiten, habe die Kommission jedenfalls keinen Gebrauch gemacht.
In ihrer jüngsten Stellungnahme vom Juni 2021 habe die EFSA gerade nicht dargestellt, dass der Konsum von ALA per se zu einem erhöhten Risiko von IAS führe, sondern lediglich bei bestimmten sensiblen, genetisch disponierten Personen. Die EFSA habe darauf hingewiesen, dass der genaue Zusammenhang dahingehend nicht geklärt sei und keine Dosis bestimmt werden könne, die einen Schwellenwert hinsichtlich der Sicherheit darstelle. Insgesamt sei die Datenlage hierfür nach Darstellung der EFSA sehr dünn. Tatsächlich seien aus der wissenschaftlichen Literatur nur 49 Fälle bekannt, bei denen IAS nachweislich auf dem Konsum von ALA beruhe. Hiervon seien nur 19 Fälle nachweislich auf Nahrungsergänzungsmittel zurückzuführen. Die Inzidenz von IAS in Europa schätze die EFSA als gering ein, nämlich noch niedriger als in Japan, wo sie 2017/2018 bei 0,017 pro Hunderttausend Einwohnern (das sind 22 Fälle) liege. Die Publikation aus Dänemark, wonach ein NOAEL von 60 mg/Kilogramm Körpergewicht und Tag anzunehmen sei, stütze sich auf zwei Studien, von der mindestens eine bereits in den 1970er Jahren gefertigt, jedoch erst 2006 veröffentlicht worden sei. Der Schluss, dass alle Produkte oberhalb der NOAEL-Dosis zwingend gesundheitsschädlich seien, werde nicht gezogen und könne auch nicht gezogen werden. Die (arzneimittelbezogenen) Studien, die das LGL für weitere negative Auswirkungen heranziehe, bezögen sich allesamt auf Produkte mit einer deutlich höheren Dosis (mindestens 600 mg bis zu 6.000 mg), als die hier in Rede stehende.
Der Bescheid sei formell rechtswidrig, da die erforderliche Anhörung im Sinne der Gelegenheit, sich nach Prüfung des Sachverhalts fundiert zur Sache zu äußern, entgegen der mehrmaligen Bitte der Antragstellerin nicht erfolgt sei. Ein Fall von Gefahr in Verzug sei mit Blick auf die Tatsache, dass es viele gleichartige Produkte seit vielen Jahren auf dem Markt gebe, nicht gegeben.
Im Hinblick auf Art. 14 Abs. 3 BasisVO, wonach grundsätzlich auf die normalen Bedingungen der Verwendung eines Lebensmittels abzustellen sei, gelte: ALA in der angegebenen empfohlenen Tagesdosis sei für die Zielgruppe der Konsumenten von Nahrungsergänzungsmitteln, nämlich gesunde Menschen, unbedenklich. Selbst wenn kranke Personen, die unter einer seltenen genetischen Disposition litten, in seltenen Fällen negativ auf ALA reagierten, liege das nicht an der Gefährlichkeit des Produkts, sondern an der jeweiligen Disposition des Verbrauchers, so wie beispielsweise bestimmte ansonsten völlig unbedenkliche Lebensmittel bei prädisponierten Personen Allergien auslösten. Auch gebe es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine Gesundheitsschädlichkeit der hier streitgegenständlichen konkreten Dosis von 300 mg ALA belegten.
Das LGL bleibe eine nachvollziehbare Begründung seiner Einstufung schuldig. Für das Auftreten von IAS durch ALA sei die Datenlage nicht ausreichend, um damit eine Gesundheitsgefahr zu belegen. An der Bewertung von ALA habe die Einschätzung der EFSA bislang nichts Signifikantes geändert. Die Stellungnahme von Frau Dr. A… …, staatlich geprüfte Lebensmittelchemikerin, die die Datenlage zu ALA in Nahrungsergänzungsmitteln bewertet habe, vom … Juli 2021 komme zu dem Schluss, dass durch die vorgelegten Studien nicht hinreichend belegt sei, dass ein Nahrungsergänzungsmittel mit ALA in einer Dosierung von 300 mg ein gesundheitsschädliches Lebensmittel sei. IAS, hervorgerufen durch ALA Konsum, sei jedenfalls stets reversibel (umkehrbar, heilbar ohne bleibende Schäden).
Es sei davon auszugehen, dass allein in Italien zwischen 2011 und 2020 70 Millionen Packungen Nahrungsergänzungsmittel mit ALA auf den Markt gebracht wurden und dass dort ungefähr 12 Millionen Menschen ALA verzehrt haben. Vorkommnisse oder Warnungen bezüglich schädlicher Effekte hätten deshalb auffallen müssen, seien aber bisher jedoch nicht bekannt geworden. Im europäischen Warnsystem RASFF seien bislang keinerlei Warnungen verzeichnet gewesen. Warum ab Juli 2021 plötzlich eine höhere Gefahr von Nahrungsergänzungsmittel mit ALA gegeben sein sollte, sei nicht plausibel. Die wenigen alten und bisher unberücksichtigten Studienergebnisse aufgrund von Tierversuchen könnten keinen Anlass bieten, nunmehr das Gefahrenpotential anders einzuschätzen.
Auf die Antragsbegründung im Übrigen wird verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2021 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Hierzu wurde verwiesen auf den streitgegenständlichen Bescheid sowie eine Stellungnahme des LGL zur Antragsbegründung vom 23. Juli 2021.
Mit Schreiben vom 27. Juli 2021 wies das Gericht unter Bezugnahme auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 5. August 2014, Az. 7 K 5469/12 darauf hin, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt um ein Arzneimittel handeln könnte. Hierzu nahm das LGL mit Schreiben vom 29. Juli 2021 Stellung. Die Entscheidung, ob ein Produkt der Definition des Arzneimittels unterfalle, sei jeweils von Fall zu Fall zu treffen, wobei regelmäßig alle Eigenschaften des Erzeugnisses, insbesondere seine Zusammensetzung und seine pharmakologischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauches, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen könne, zu berücksichtigen seien. Eine Zweckbestimmung des Produkts zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten sei aus den Informationen im Internetauftritt der Antragstellerin nicht abzuleiten. Die Inhaltsstoffe des Produkts Vitamin C, Vitamin E, OPC, Coenzym Q 10, Curcuma und Heparin seien Bestandteile von Lebensmitteln und in einer Vielzahl von Nahrungsergänzungsmittel meist als Antioxidantien enthalten. Präparate mit solchen Inhaltsstoffen in wirksamer Dosierung könnten nur bei eindeutiger medizinischer Zweckbestimmung als Arzneimittel eingestuft werden. Auch ALA sei Nahrungsergänzungsmitteln als Antioxidans zugesetzt. Zudem finde ALA auch seit vielen Jahren medizinische Verwendung zur Behandlung von Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie in einer Dosierung von 300 bis 600 mg pro Tag. ALA fungiere als Cofaktor der Multienzymkomplexe der Alpha-Ketosäurendehydrogenasen und sei als Antioxidans in der Lage, freie Radikale abzufangen und andere Antioxidantien zu regenerieren. ALA könne zu einem gewissen Grad vom Organismus selbst synthetisiert werden oder werde mit der menschlichen Nahrung aufgenommen. In verschiedenen klinischen Studien sei gezeigt worden, dass ALA bei Typ 1- und Typ 2-Diabetes positive Einflüsse auf Symptome, neurologische Defizite und Nervenleitgeschwindigkeit habe. Laut einer Aufbereitungsmonographie der Kommission B des damaligen Bundesgesundheitsamtes vom 3. November 1990 könne die orale Gabe von ALA in einer Dosierung von 300-600 mg pro Tag bei Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie wirksam sein. Bei starken Dysästhesien im Rahmen einer schweren diabetischen Polyneuropathie werde die parenterale Gabe von 300-600 mg pro Tag für 2-4 Wochen in der Anfangsphase empfohlen. Als weiterführende orale Therapie werde eine Dosierung von 200-300 mg pro Tag vorgeschlagen. Derzeit seien im Arzneimittel-Informationssystem der für die Arzneimittelzulassung zuständigen Bundesoberbehörden 13 Präparate mit ALA als Humanarzneimittel zur Anwendung bei Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie gelistet. Der EuGH habe in seinem Urteil vom 15. November 2007 zu Knoblauchkapseln festgestellt, dass Stoffen wie ALA, die auch mit Lebensmitteln aufgenommen werden könnten, nur dann eine pharmakologische Wirkung im Sinne des Arzneimittelgesetzes beigemessen werden könne, wenn sie die normalen physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers in nennenswerter Weise beeinflussen können und der Einfluss über dasjenige Maß hinausgeht, wie es mit dem Verzehr eines entsprechenden Lebensmittels erreicht werden kann. Zwar würden mit dem streitgegenständlichen Produkt wesentlich höhere Mengen an ALA aufgenommen, als dies durch den Verzehr von Lebensmitteln in verzehrsüblichen Mengen möglich sei. Es lägen aber keine belastbaren Daten vor, dass ALA bei Gesunden die physiologischen Funktionen des Körpers im Sinne einer pharmakologischen Wirksamkeit in erheblichem Maße beeinflusse. Eine pharmakologische Wirkung sei demnach für ALA ausschließlich bei einer Verwendung im Zusammenhang mit neurologischen Defiziten bei Diabetes in einer Dosierung von 300-600 mg oral belegt. Das Produkt werde lediglich als Antioxidanz beworben, Hinweise auf diabetische Neuropathie, die Indikationen der Monographie oder der Arzneimittel fehlten.
Bei dem der Entscheidung des VG Köln zugrundeliegenden Produkt habe es sich um ein Nahrungsergänzungsmittel mit einer empfohlenen Einnahmemenge von 300 mg ALA pro Tag gehandelt, welches mit dem Hinweis beworben worden sei, dass Patienten mit diabetische Neuropathie einen erhöhten medizinisch bedingten Nährstoffbedarf an ALA aufweisen. In diesem Falle habe die Bewerbung des Produktes eindeutig auf eine medizinische Zweckbestimmung abgestellt. Das Produkt sei in seiner Dosierung geeignet gewesen, einen therapeutischen Nutzen für die Zielgruppe „Patienten mit diabetische Neuropathie“ zu erzielen. Jenes Produkt sei demnach mit dem streitgegenständlichen Produkt, welches für gesunde Menschen als unspezifisches Antioxidans in Verkehr gebracht werde, nicht zu vergleichen.
Nachdem das Gericht mit Schreiben vom 10. August 2021 auf die aus seiner Sicht notwendige, aber bislang fehlende Anhörung hingewiesen hatte, hörte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 11. August 2021 die Antragstellerin zum Erlass des streitgegenständlichen Bescheides mit Fristsetzung zur Äußerung bis zum 20. August 2021, welche nochmals verlängert wurde, an. Hierauf nahm die Antragstellerin durch Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom … August 2021 an die Antragsgegnerin Stellung. Mit Schreiben vom 9. September 2021 an den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin führte die Antragsgegnerin aus, dass sie der Auffassung des LGL vollumfänglich folge und die Einwendungen der Antragstellerin hieran nichts änderten. Auch zum heutigen Zeitpunkt würde von Seiten der Antragstellerin aufgrund des aktuellen Sachverhaltes und der Gefahrenlage keine andere Entscheidung getroffen werden. Beigegeben war dem Schreiben eine weitere Stellungnahme des LGL vom 8. September 2021, auf die verwiesen wird.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte mit den Schriftsätzen der Beteiligten samt Anlagen, auch im Hauptsacheverfahren M 26b K 21.3866, sowie auf die übersandten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg. Er ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.
Soweit die Hauptsacheklage auf die Aufhebung der Anordnungen unter Ziffern 1.1 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheids gerichtet ist, ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 39 Abs. 7 LFGB (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch) statthaft. Gemäß § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Anordnungen, die der Durchführung von Verboten nach Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 (BasisVO) dienen, keine aufschiebende Wirkung. Diese Vorschrift gilt auch dann, wenn § 39 Abs. 2 LFGB von unmittelbar geltendem Unionsrecht, hier Art. 138 der Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 (KontrollVO), auf den sich die streitgegenständliche Anordnung stützt, überlagert oder verdrängt wird (vgl. zur inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des Art. 54 der Verordnung (EG) 882/2004: OVG Hamburg, B.v. 5.9.2011 – 5 Bs 139/11 – juris Rn. 9 ff.; Rathke in Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 178. EL November 2020, LFGB § 39 Rn. 56).
Soweit sich die Hauptsacheklage gegen die Androhung von Zwangsgeldern wendet (Nr. 7 des streitgegenständlichen Bescheids) folgt die Statthaftigkeit des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung aus § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG).
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage – wie hier – keine aufschiebende Wirkung hat. Dabei trifft das Gericht im Rahmen einer summarischen Prüfung der sich im Zeitpunkt der Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene, originäre Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Wesentliches Element dieser Entscheidung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei kursorischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, bleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach diesen Maßstäben fällt die Abwägung zu Lasten der Antragsgegnerin aus, da die Hauptsacheklage aller Voraussicht nach Erfolg haben wird. Die in der Hauptsache zulässige, insbesondere fristgerecht (§ 74 Abs. 1 VwGO) erhobene Anfechtungsklage erweist sich aller Voraussicht nach als begründet, da der angefochtene Verwaltungsakt insgesamt rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2.1. Der streitgegenständliche Bescheid ist nunmehr zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zwar formell rechtmäßig. Die Antragsgegnerin hat es nachgeholt, der Antragstellerin ausreichend Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.
2.1.1 Eine Anhörung der Antragstellerin war zunächst entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nach Art. 28 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) notwendig. Von ihr konnte nicht nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG abgesehen werden. Es liegt keine Fallkonstellation vor, in der eine sofortige Entscheidung nach den Umständen des Einzelfalls wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint (Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 BayVwVfG).
Die Anwendung des Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG durch die Verwaltungsbehörde unterliegt hinsichtlich des unbestimmten Rechtsbegriffs „Gefahr im Verzug“ in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung. Dabei muss das Gericht aus einer ex-ante-Sicht beurteilen, ob bei Erlass des Verwaltungsakts Gefahr im Verzug vorgelegen hat. Für diese rechtliche Beurteilung ist der objektiven Notwendigkeit zu einer sofortigen Entscheidung der Fall gleich zu erachten, dass die Behörde aufgrund der ihr bekannt gewordenen konkreten Tatsachen eine sofortige Entscheidung für notwendig halten durfte. Im Hinblick auf den mit dieser Vorschrift verfolgten Zweck ist eine solche Gefahr dann anzunehmen, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1983 – 3 C 27.82 – juris Rn. 55 f.).
Hiervon ausgehend führt die rechtliche Beurteilung derjenigen Tatsachen, die der Antragsgegnerin bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids vom 20. Juli 2021 bekannt waren, nicht zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug für erforderlich halten durfte. Es ist nicht zu erkennen, dass der Rückruf im konkreten Fall derart unaufschiebbar war, dass er ohne eine (weitere) Anhörung hätte ergehen dürfen. Unter Zugrundelegung der gebotenen ex-ante-Sicht muss für die Beurteilung des drohenden Gefahrenpotentials danach differenziert werden, welchen sachlichen Gehalt die der Antragsgegnerin damals bekannten konkreten Tatsachen hatten.
Zwar durfte die Antragsgegnerin aufgrund der fachlich begründeten und hinsichtlich ihres Ergebnisses eindeutigen Gutachten des LGL vom 15. Juli 2021 zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses davon ausgehen, dass es sich bei dem in Rede stehenden Nahrungsergänzungsmittel um ein gesundheitsschädliches und nicht sicheres Lebensmittel nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. a BasisVO handelte. Allerdings war ihr aus der Stellungnahme der Antragstellerin vom … Juli 2021 und der Antwort des LGL hierauf auch bekannt, dass ähnliche Produkte, die ALA in ähnlich hohen Dosen enthalten, bereits seit langem auf dem Markt sind. Aus der Stellungnahme der EFSA vom April 2021, aus der die Antragsgegnerin insbesondere eine Gefahr im Verzug ableiten will, sind neue valide Erkenntnisse zu Gefahrenpotenzialen des streitgegenständlichen Produkts in Bezug auf das Auftreten eines IAS, die eine Unaufschiebbarkeit der Maßnahmen aus Sicht der Antragsgegnerin nahelegen, gerade nicht ableitbar. Aus dieser Stellungnahme ergeben sich keine neuen Anhaltspunkte für ein wesentlich erhöhtes Gefahrenpotenzial. Einerseits geht aus dieser Stellungnahme hervor, dass die wissenschaftliche Datenlage (noch) zu dünn ist, um sichere Ableitungen zu treffen, andererseits ist aber auch ersichtlich, dass es im Ergebnis um einen verschwindend geringen Anteil von durch die Aufnahme von ALA in Bezug auf eine IAS gefährdeten Personen handelt, nämlich um eine Inzidenz von wohl weniger als 1,7 Fälle auf 10 Millionen Einwohner. Deswegen hat die EFSA auch keine Handlungsempfehlung in Bezug auf die Beschränkung der Verwendung von ALA abgegeben.
Dies zugrunde gelegt durfte die Antragsgegnerin im konkreten Fall einen Fall von Gefahr im Verzug im Sinne der Anhörungsvorschriften nicht annehmen. Zwar ging sie im Ausgangspunkt zu Recht davon aus, dass sie die höchstrangigen Rechtsgüter von Gesundheit und Leben der Verbraucher vor Gefahren zu schützen habe, und zwar vor deren Verwirklichung. Dies rechtfertigt aber mit Blick auf die niedrige Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts – vergleichbare Nahrungsergänzungsmittel sind seit langem auf dem Markt eingeführt – im konkreten Fall kein Verwaltungsverfahren, das auf eine Anhörung zu wesentlichen Tatsachengrundlagen verzichtet bzw. es, wie hier geschehen, für nicht notwendig erachtet, der Antragstellerin zu nachträglich vorgelegten gutachterlichen Aussagen des LGL wenigstens eine kurze, nach wenigen Tagen bemessene Anhörungsfrist einzuräumen. In Anbetracht der konkreten Umstände des Falles wäre es ermessensgerecht gewesen, der Antragstellerin, wie gefordert, wenigstens eine kurze Äußerungsfrist von wenigen Tagen zu dem ausführlichen Gutachten des LGL vom 15. Juli 2021 einzuräumen. Das hätte das öffentliche Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr und das grundrechtlich geschützte Interesse der Antragstellerin an einer effektiven Geltendmachung ihres Sachund Rechtsstandpunktes in Einklang gebracht. Warum nach Jahren des – soweit ersichtlich – unbeanstandeten Vertriebs des Produkts und vergleichbarer Produkte keine zwei Tage für eine Stellungnahme abgewartet werden können, erschließt sich schlechterdings nicht.
2.1.2 Die Anhörung war auch zunächst wenigstens teilweise unterblieben. „Anhörung“ bedeutet, dass die Behörde dem Betroffenen Gelegenheit zur Äußerung zum Gang des Verfahrens, zum Gegenstand, den entscheidungserheblichen Tatsachen und zum möglichen Ergebnis, ggf. innerhalb einer angemessenen Frist, gibt und dass diese Äußerung bei der behördlichen Entscheidung ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Der Anspruch auf Gehör umfasst dabei, soll die Anhörung ihren Zweck erfüllen, auch das Recht auf Kenntnisnahme von allen der Behörde bekannten, für die Entscheidung möglicherweise erheblichen Tatsachen, Beweisergebnissen etc. sowie das Recht, beabsichtigte Ausführungen sachgerecht vorzubereiten. Da dem Betroffenen eine Äußerung zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen nur dann möglich ist, wenn ihm diese Tatsachen bekannt sind, folgt aus dem Recht auf Anhörung mittelbar auch die Verpflichtung der Behörde, dem Betroffenen diese Tatsache soweit dies zur Wahrung des rechtlichen Gehörs erforderlich ist, mitzuteilen. Dies gilt umso mehr und mit strengeren Anforderungen dann, wenn in der Sache Grundrechte betroffen sind (zum Ganzen Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22. Aufl. 2021, § 28 Rn. 12 ff.).
Diesen Anforderungen, die ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips sind und dem Grundrechtsschutz durch Verfahren dienen, hat die Antragsgegnerin nicht genügt. Zwar hat sie, worauf sie zu Recht hinweist, der Antragstellerin von Anfang an und auch mehrfach Gelegenheit gegeben, sich zum Gegenstand des Verfahrens zu äußern. So wurde das Kurzgutachten des LGL vom 15. Juli 2021 bereits bei Verfahrenseinleitung am selben Tag an die Antragstellerin übermittelt und immer wieder über weitere Schritte auf kurzem Wege per E-Mail informiert. Die Antragstellerin hat aber das Anhörungsverfahren an entscheidender Stelle abgebrochen. Sie hat nämlich im Hinblick auf das ausführliche Gutachten des LGL vom 15. Juli 2021, das dem zusammenfassenden Gutachten des LGL vom selben Datum zugrunde lag, der Antragstellerin keine Möglichkeit der Äußerung mehr eingeräumt. Dieses Gutachten hat sie zwar dem anwaltlichen Vertreter am Nachmittag des 19. Juli 2021 übermittelt, jedoch gleichzeitig darauf hingewiesen, dass wegen Gefahr im Verzug auf eine weitere Anhörung verzichtet werde und beabsichtigt sei, bis spätestens 20. Juli 2021 einen Bescheid zu erlassen, welcher dann auch am 20. Juli 2021 erging.
Damit fehlt es in Bezug auf dieses Gutachten an einer vollständigen Anhörung. Es hat hier nicht ausgereicht, dieses Gutachten nachträglich zu übersenden und gleichzeitig den Bescheid zu erlassen, vielmehr wäre die Stellungnahme der Antragstellerin zu diesem abzuwarten gewesen. Denn dieses Gutachten enthält die ausführliche Begründung für die Annahme der Gesundheitsschädlichkeit des streitgegenständlichen Produkts mit genauer Wiedergabe der einschlägigen Studienergebnisse samt wissenschaftlichen Quellenangaben, dessen Kenntnis für eine substantiierte Stellungnahme der Antragstellerin zu der fachlichen Bewertung durch das LGL und für daraus folgende Rechtsausführungen unerlässlich ist. Die Übersendung des Kurzgutachtens als bloßer Zusammenfassung war für eine sachgerechte Wahrnehmung des Rechts, angehört zu werden, nicht ausreichend. Dabei spielt es keine Rolle, dass dieses Gutachten der Antragsgegnerin auch erst im Verlauf des Verfahrens vom LGL übermittelt wurde, obwohl es bereits bei Verfahrenseinleitung erstellt war. Es kann insoweit nicht zulasten der Antragstellerin gehen, dass der Informationsfluss zwischen den beteiligten Behörden nicht reibungslos funktioniert und dadurch Zeitverluste bis zum Ergehen des Bescheids eintreten.
2.1.3 Diesen Anhörungsmangel hat die Antragsgegnerin durch die nachträgliche Anhörung aber geheilt, Art. 45 Abs. 1 Nr. 3 BayVwVfG.
Nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 3 BayVwVfG ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach Art. 44 BayVwVfG nichtig macht, dann unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Nach Art. 45 Abs. 2 BayVwVfG kann die Anhörung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Ist die Anhörung entgegen Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG unterblieben, tritt eine derartige Heilung aber nur dann ein, wenn die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Diese Funktion besteht nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließt vielmehr ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren als solche zur Heilung einer zunächst unterbliebenen Anhörung nicht ausreichen lassen. Eine funktionsgerecht nachgeholte Anhörung setzt vielmehr voraus, dass sich die Behörde nicht darauf beschränkt, die einmal getroffene Sachentscheidung zu verteidigen, sondern das Vorbringen des Betroffenen erkennbar zum Anlass nimmt, die Entscheidung kritisch zu überdenken (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 7 C 5/14 – juris Rn. 17).
Vorliegend hat die Antragsgegnerin das Anhörungsverfahren eigenständig und außerhalb des gerichtlichen Verfahrens ordnungsgemäß nachgeholt. Sie hat den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ein Anhörungsschreiben vom 11. August 2021 mit Fristsetzung zur Äußerung bis zum 20. August 2021, welche nochmals verlängert wurde, übermittelt. Hierauf nahm die Antragstellerin durch Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 25. August 2021 an die Antragsgegnerin Stellung. Mit Schreiben vom 9. September 2021 an den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin führte die Antragsgegnerin aus, dass sie der Auffassung des LGL vollumfänglich folge und die Einwendungen der Antragstellerin hieran nichts änderten. Aus dem Schreiben mit anliegender Stellungnahme des LGL wird deutlich, dass sich die Antragsgegnerin mit den im nachgeholten Anhörungsverfahren vorgebrachten Einwendungen der Antragstellerin ernsthaft und im Einzelnen befasst hat.
2.2 Der nach dem Gesagten formell rechtmäßige Bescheid ist aber materiell rechtswidrig. Die von der Antragsgegnerin herangezogene Rechtsgrundlage § 39 Abs. 2 LFGB (nunmehr § 39 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 LFGB in der durch Gesetz vom 27.7.2021 (BGBl. I S. 3274) geänderten Fassung) bzw. Art. 138 der KontrollVO in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der BasisVO ist hier nicht anwendbar.
Gemäß Art. 138 Abs. 1 KontrollVO ergreifen die zuständigen Behörden, wenn ein Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften festgestellt wird, geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet und dass er erneute Verstöße dieser Art verhindert. Zu den beispielhaft, aber nicht abschließend aufgezählten, geeigneten Maßnahmen gehört insbesondere auch die Anordnung des Rückrufs, der Rücknahme, der Beseitigung und der Vernichtung von Waren (Art. 138 Abs. 2 Buchst. g KontrollVO). Gemäß Art. 14 Abs. 1 BasisVO dürfen nicht sichere Lebensmittel nicht in Verkehr gebracht werden. Lebensmittel gelten dann als nicht sicher, wenn davon auszugehen ist, dass sie gesundheitsschädlich sind (Art. 14 Abs. 2 Buchst. a BasisVO).
Diese Rechtsgrundlage erweist sich als nicht tragfähig, da Überwiegendes dafür spricht, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt bei summarischer Prüfung nicht um ein Lebensmittel handelt, auf das die lebensmittelrechtlichen Vorschriften Anwendung finden, sondern um ein Arzneimittel, sodass ausschließlich Arzneimittelrecht einschlägig ist und die Anwendung von lebensmittelrechtlichen Vorschriften nicht in Betracht kommt.
Für die Begriffsbestimmung von Lebensmitteln ist Art. 2 der BasisVO einschlägig. Nach Art. 2 Unterabs. 3 Buchst. d dieser Verordnung gehören Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG und 92/73/EWG nicht zu den Lebensmitteln. Diese Richtlinien sind zwar inzwischen außer Kraft getreten und durch die RL 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes Humanarzneimittel (ABl. L 311 S. 67) ersetzt worden. Deren Art. 128 bestimmt aber, dass Bezugnahmen auf die aufgehobenen Richtlinien als Bezugnahmen auf die neue Richtlinie gelten, so dass die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 nunmehr die Arzneimitteldefinition in Art. 1 Nr. 2 der RL 2001/83/EG für die Ausgrenzung der Arzneimittel aus den Lebensmitteln für verbindlich erklärt (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – 3 C 40.05 -Buchholz 418.710 LFGB Rn. 15).
Nach § 2 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG), der mit Art. 1 Nr. 2 der RL 2001/83/EG inhaltlich identisch ist, sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen,
1. die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind oder
2. die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder
a) die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder
b) eine medizinische Diagnose zu stellen.
Der Arzneimittelbegriff des § 2 Abs. 1 AMG geht zurück auf die Umsetzung des europarechtlichen Arzneimittelbegriffs aus Art. 1 Nr. 2 der RL 2001/83/EG in der Fassung durch die RL 2004/27/EG und ist damit richtlinienkonform und unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH auszulegen.
2.2.1 Bei dem streitgegenständlichen Produkt der Antragstellerin handelt es sich nicht um ein Präsentationsarzneimittel im Sinn von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG.
Unter den Begriff des Präsentationsarzneimittels fallen Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind. Ein Erzeugnis erfüllt diese Merkmale, wenn es entweder ausdrücklich als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung, Linderung oder Verhütung menschlicher Krankheiten bezeichnet oder empfohlen wird oder wenn sonst bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass das Produkt in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden Eigenschaften haben müsse (BVerwG vom 20.11.2014 Az. 3 C 25/13 – juris, Rn. 14, m.w.N.). Dies ist bei dem vorliegenden Produkt nicht gegeben. Insoweit ist dem LGL beizupflichten, wenn es in seiner Stellungnahme vom 29. Juli 2021 ausführt, dass eine Zweckbestimmung des Präparates zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten aus den Produktinformationen im Internetauftritt der Antragstellerin nicht abzuleiten sei.
2.2.2 Das Produkt erfüllt aber bei summarischer Prüfung aller Voraussicht nach die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) AMG. Die Ausführungen des LGL hierzu, wonach es sich aus fachlicher Sicht um kein Funktionsarzneimittel handelt, überzeugen die Kammer nicht.
a) Ob ein Erzeugnis unter die Begriffsbestimmung eines Funktionsarzneimittels fällt, bedarf nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer Einzelfallprüfung, bei der alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen sind. Hierbei sind die pharmakologischen Eigenschaften das wesentliche Kriterium, auf dessen Grundlage, ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses, zu beurteilen ist, ob ein Funktionsarzneimittel vorliegt. Kann ein Erzeugnis bei bestimmungsgemäßer Anwendung die physiologischen Funktionen nicht nachweisbar und in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische (oder immunologische oder metabolische) Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen, kommt eine Einstufung als Funktionsarzneimittel nicht in Betracht. Danach ist die pharmakologische Wirkung zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels fällt (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2017 – 3 C 18/15, juris Rn. 12 mit umfangreichen weiteren Nachweisen).
Auch nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (z.B. U.v. 15.1.2009 – C 140/07, juris) ist die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition eines Funktionsarzneimittels fällt, von Fall zu Fall zu treffen. Dabei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen und metabolischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken seiner Verwendung.
Nicht erfasst vom Begriff des Funktionsarzneimittels sind Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein (BVerwG, U.v. 20.11.2014 – 3 C 25/13, juris Rn. 19 m.w.N.). Schließlich genügt es nicht, dass das fragliche Erzeugnis Eigenschaften besitzt, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind, oder dass es einen Stoff enthält, der für therapeutische Zwecke verwendet werden kann. Ihm muss vielmehr tatsächlich die Funktion der Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden zukommen. Das Produkt muss objektiv geeignet sein, für therapeutische Zwecke eingesetzt zu werden (BVerwG, U.v. 20.11.2014 – a.a.O., Rn. 19).
Des Weiteren folgt aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. z.B. EuGH, U.v. 15.1.2009 – C-140/07, H. P. GmbH – Rn. 40, v. 30.4.2009 – C-27/08 [ECLI:ECLI:EU:C:2009:278], BIOS Naturprodukte GmbH – Rn. 19; v 6.9.2012 – C-308/11, Chemische Fabrik Kreussler – Rn. 33) gerade zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln (die regelmäßig auch eine physiologische Wirkung besitzen), dass die pharmakologische oder metabolische Wirkung eines Stoffes nur dann die Zuordnung eines Stoffes zu den Arzneimitteln rechtfertigen können, wenn sie nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken und somit dessen Funktionsbedingungen wirklich beeinflussen, folglich eine Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Eingriffe in die Körperfunktionen, die völlig unerheblich sind, können dagegen die Zuordnung zu den Arzneimitteln nicht rechtfertigen (BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 3 C 34/06, juris Rn. 29 m.w.N.). Ein Erzeugnis, dessen Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann, besitzt keine nennenswerten Auswirkungen auf den Stoffwechsel und kann damit nicht als ein Erzeugnis eingestuft werden, das die physiologischen Funktionen wiederherstellen, bessern oder beeinflussen könnte (EuGH U.v. 15.11.2007 – C-319/05, juris Rn. 68).
Die erhebliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und das Vorliegen erheblicher pharmakologischer Wirkungen müssen durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt sein (BVerwG, U.v. 25.7.2007 – 3 C 23/06, juris Rn. 22). Die Arzneimitteleigenschaft muss wissenschaftlich nachgewiesen und festgestellt sein (EuGH, U. vom 15.1.2009, a.a.O. Rn. 26-29).
Mögliche Gesundheitsrisiken sind in die Gesamtbetrachtung anlässlich der Einstufung eines Produkts als Arzneimittel einzustellen. Liegen die Auswirkungen eines Produkts auf die physiologischen Funktionen im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungsmittel- und Arzneimittel, kommt dem Merkmal der Verwendungsrisiken besonderes Gewicht zu. Eine Einstufung als Arzneimittel ist insoweit nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutze der menschlichen Gesundheit erforderlich ist (BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19/18, juris).
b) Gemessen an diesen Vorgaben ist bei summarischer Prüfung davon auszugehen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Präparat der Antragstellerin um ein Funktionsarzneimittel handelt.
Das Gericht schließt sich insoweit den überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Köln in seinem Urteil vom 5. August 2014 (Az. 7 K 5469/12; bestätigt durch OVG Münster, B.v. 27.1.2015 – 13 A 1872/14 – juris) an, das ein vergleichbares Produkt zu beurteilen und es als Funktionsarzneimittel eingeordnet hatte. Dabei stützt sich das Verwaltungsgericht Köln ausschließlich auf die Definition des Funktionsarzneimittels und lässt ausdrücklich offen, ob das Produkt auch die Voraussetzungen eines Präsentationsmittels erfüllt. Wenn das LGL hierzu ausführt, dass in dem vom Verwaltungsgericht Köln entschiedenen Fall die Bewerbung des Produktes eindeutig auf eine medizinische Zweckbestimmung abgestellt habe, im hier zu entscheidenden Falle aber eine Zweckbestimmung des Präparates zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten aus den Produktinformationen im Internetauftritt der Antragstellerin nicht abzuleiten sei, so kommt es hierauf nicht an, da es für die Einordnung als Funktionsarzneimittel auf eine medizinische Zweckbestimmung durch den Produktverantwortlichen gerade nicht ankommt (Rathke in Zipfel/Rathke LebensmittelR, 179. EL März 2021, EG-Lebensmittel-Basisverordnung Art. 2 Rn. 78). Das „um …zu“ in der Definition des Funktionsarzneimittels drückt die (objektive) Eignung oder Funktion des Erzeugnisses aus, die physiologischen Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.
Das vom Verwaltungsgericht Köln beurteilte Produkt ist mit dem hier zu beurteilenden Produkt vergleichbar. Neben einer identischen Dosierung von 100 mg ALA je Kapsel bei einer jeweils empfohlenen Einnahmemenge von 3 Kapseln (das entspricht 300 mg ALA pro Tag) enthalten beide Produkte eine Reihe weiterer Inhaltsstoffe und Vitamine, die erstens jeweils ähnlich zusammengesetzt sind und zweitens für die maßgebliche Bewertung des Inhaltsstoffes ALA keine rechtserhebliche Rolle spielen, weil sie sich offenbar auf die Wirkungsweise von ALA nicht (unterschiedlich) auswirken.
Die pharmakologische Wirkung von ALA ist ausreichend belegt. Gemäß den aktuellen Ausführungen des LGL im vorliegenden Verfahren vom 29. Juli 2021 findet ALA seit vielen Jahren medizinische Verwendung zur Behandlung von Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie in einer Dosierung von 300 bis 600 mg pro Tag. ALA fungiere als Cofaktor der Multienzymkomplexe der Alpha-Ketosäurendehydrogenasen und sei als Antioxidans in der Lage, freie Radikale abzufangen und andere Antioxidantien zu regenerieren. In verschiedenen klinischen Studien sei gezeigt worden, dass ALA bei Typ 1- und Typ 2-Diabetes positive Einflüsse auf Symptome, neurologische Defizite und Nervenleitgeschwindigkeit habe. (Der pharmakologische Wirkmechanismus von ALA im Körper nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip ist dabei bekannt und vom Verwaltungsgericht Köln in seiner genannten Entscheidung näher geschrieben worden). Laut der Aufbereitungsmonographie der Kommission B des damaligen Bundesgesundheitsamtes vom 3. November 1990 könne die orale Gabe von ALA in einer Dosierung von 300-600 mg pro Tag bei Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie wirksam sein. Bei starken Dysästhesien im Rahmen einer schweren diabetischen Polyneuropathie werde die parenterale Gabe von 300-600 mg pro Tag für 2-4 Wochen in der Anfangsphase empfohlen. Als weiterführende orale Therapie werde eine Dosierung von 200-300 mg pro Tag vorgeschlagen. Derzeit seien im Arzneimittel-Informationssystem der für die Arzneimittelzulassung zuständigen Bundesoberbehörden 13 Präparate mit ALA als Humanarzneimittel zur Anwendung bei Missempfindungen bei diabetischer Polyneuropathie gelistet.
Die Auswirkungen von ALA in einer Dosierung wie der streitgegenständlichen auf die physiologischen Funktionen gehen auch über die Wirkungen hinaus, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann. Das Gericht geht davon aus, dass ALA in einer Dosierung von 300 mg pro Tag nicht durch einen Verzehr normaler Lebensmittel in angemessener Menge aufgenommen werden kann. Auch diese Annahme findet ihre Grundlage in den Ausführungen des LGL, wonach mit dem streitgegenständlichen Produkt wesentlich höhere Mengen an ALA aufgenommen werden, als dies durch den Verzehr von Lebensmitteln in verzehrüblichen Mengen möglich sei.
Trotz dieser Ergebnisse schließt das LGL eine Arzneimitteleigenschaft des streitgegenständlichen Produkts deswegen aus, weil keine belastbaren Daten vorlägen, dass ALA bei Gesunden die physiologischen Funktionen des Körpers im Sinne einer pharmakologischen Wirksamkeit in erheblichem Maße beeinflusse. Eine pharmakologische Wirkung sei demnach für ALA ausschließlich bei einer Verwendung im Zusammenhang mit neurologischen Defiziten bei Diabetes in einer Dosierung von 300-600 mg oral belegt. Diese Ausführungen sind nicht nachvollziehbar und mit der Definition des Funktionsarzneimittels nicht vereinbar. Sie verkennen den richtigen rechtlichen Maßstab. Für die Annahme einer positiven Beeinflussung der physiologischen Funktionen reicht aus, dass die betreffenden Stoffe eine positive Wirkung für das Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich für die menschliche Gesundheit haben. Dies gilt sowohl für den Fall, dass keine Krankheit vorliegt (so im vom Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 7.11.2019 entschiedenen Fall (3 C 19/18 – juris Rn. 23), als auch für den umgekehrten Fall, dass die positive Beeinflussung der physiologischen Funktionen nur bei bestimmten Krankheitszuständen, wie hier bei diabetischer Polyneuropathie, zum Tragen kommt. Es gibt mithin keinen gleichsam relativen Arzneimittelbegriff, wonach ein Stoff in Hinsicht auf bestimmte Krankheitsbilder bzw. kranke Patienten als Arzneimittel zu qualifizieren ist, in Bezug auf andere Krankheitsbilder bzw. auf gesunde Menschen jedoch nicht.
Für die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungsmittel- und Arzneimitteleigenschaft sind zusätzlich auch mögliche Gesundheitsrisiken als eigenständiger Faktor zu berücksichtigen; eine Einstufung als Arzneimittel ist hier nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der Gesundheit erforderlich ist. Grundsätzlich ist es nach dem unionsrechtlichen Vorsorgegrundsatz gerechtfertigt, Schutzmaßnahmen auch gegen potentielle Gesundheitsgefahren zu ergreifen. Vernünftige Zweifel an der Unbedenklichkeit eines Erzeugnisses rechtfertigen daher die Einstufung als Arzneimittel (vgl. BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19/18 – juris).
Solche potentiellen Gesundheitsgefahren des streitgegenständlichen Produkts liegen nach den Ausführungen des LGL, die sich freilich auf die lebensmittelrechtliche Frage der Gesundheitsschädlichkeit des Produkts beziehen, die aber auch für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreich sind, vor. Gesichert und im Gutachten des LGL vom 15. Juli 2021 durch die Angabe einer Reihe von Humanstudien zum therapeutischen Einsatz von ALA in einer Dosis von 600 mg pro Tag ausreichend belegt ist, dass ALA in einer solchen Dosierung zu einer Reihe adverser Effekte führen kann, darunter auch zu schwerwiegenden wie Herzfrequenz- und Herzrhythmusstörungen und myokardialen Störungen (wie Angina pectoris, Myokardinfarkt), Leberschädigung und zum Auftreten eines Insulinautoimmunsyndroms (IAS). Für die therapeutische Anwendung in einer Tagesdosis von 400-600 mg ALA werden in den Fachinformationen der ALA enthaltenen Arzneimittel verschiedene adverse Wirkungen wie gastrointestinale Beschwerden (Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Diarrhö), allergische Reaktionen wie Hautausschlag, Urticaria und Juckreiz sowie hypoglykämische Beschwerden mit Schwindel, Schwitzen, Kopfschmerzen und Sehstörungen beschrieben. Aus den belegten toxischen Effekten bei Dosen von 600 mg ALA pro Tag, welche das LGL als LOAEL, d. h. als geringste Dosis, bei der eine schädliche Wirkung beim Menschen festgestellt werden konnte, betrachtet, leitet es, da entsprechende Untersuchungen zu einer Dosierung von 300 mg ALA pro Tag fehlen, im Wege einer toxikologischen Risikobewertung ab, dass der NOAEL, d. h. die höchste Dosis, bei der (noch) keine Wirkung festzustellen sind, um mindestens den Faktor „Drei“ niedriger sein müsse als der LOAEL. Der Abstand der Tagesdosis des streitgegenständlichen Produkts von 300 mg ALA zum LOAEL betrage aber weniger als Faktor 2, ohne dass übrigens zusätzliche Sicherheitsabstände aufgrund der Intraspeziesvariabilität berücksichtigt würden.
Aus diesen plausiblen Ausführungen ergeben sich für die Kammer ausreichende Hinweise auf mögliche Gesundheitsrisiken durch das streitgegenständliche Produkt. Die Ableitung von konkret bekannten und benannten Gesundheitsrisiken bei ALA in höherer Dosierung auf mögliche Verwendungsrisiken bei einer ALA-Dosierung wie im streitgegenständlichen Produkt, die nur um die Hälfte niedriger ist, überzeugen bei summarischer Prüfung und rechtfertigen es, das streitgegenständliche Produkt den Vorschriften über Arzneimittel zu unterwerfen.
2.2.3 Damit wäre grundsätzlich taugliche Rechtsgrundlage, gegen das Produkt wie im Bescheid geschehen vorzugehen, § 69 Arzneimittelgesetz (AMG). Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG können sie insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln oder Wirkstoffen untersagen, deren Rückruf anordnen und diese sicherstellen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für das Arzneimittel nicht vorliegt oder deren Ruhen angeordnet ist.
Kommt das Verwaltungsgericht zu der Erkenntnis, dass ein Verwaltungshandeln zu Unrecht auf die von der Behörde herangezogene Rechtsnorm gestützt ist, ist es entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO befugt und verpflichtet zu prüfen, ob und ggf. in welchem Umfang das Verwaltungshandeln mit Blick auf eine andere Rechtsgrundlage aufrechterhalten werden kann (BVerwG, B.v. 29.07.2019 – 2 B 19/18 – juris; stRspr.) Allerdings darf der Bescheid durch die Berücksichtigung der anderen Rechtsnorm nicht in seinem Wesen verändert werden (BVerwG, B.v. 29.7.2019 – 2 B 19.18 – NVwZ-RR 2020, 113 Rn. 24; BayVGH, U.v.23.07.2020 – 14 B 18.1472 -, juris).
Die Frage, ob ein angefochtener Bescheid materiell rechtmäßig oder rechtswidrig ist, richtet sich nach dem Recht, das geeignet ist, die getroffene Regelung zu tragen. Erweist sie sich aus anderen als im Bescheid angegebenen Gründen als rechtmäßig, ohne dass sie durch den Austausch der Begründung in ihrem Wesen geändert würde, dann ist der Verwaltungsakt im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht rechtswidrig (BVerwG, Urt. v. 19.8.1988 – BVerwG 8 C 29.87 -, juris Rn. 13; v. 31.3.2010 – BVerwG 8 C 12.09 -, juris Rn. 16).
Hinsichtlich des besagten Kriteriums, dass sich durch die Berücksichtigung der anderen Rechtsgrundlage das Wesen des Bescheids nicht verändern darf, bestehen bei Ermessensentscheidungen allerdings engere Grenzen als bei gebundenen Verwaltungsakten. Bei gebundenen Verwaltungsakten schadet eine inhaltlich fehlerhafte Begründung zur zugrundeliegenden Rechtsgrundlage von vornherein grundsätzlich nicht, sondern es geht allein darum, ob sich bei objektiver gerichtlicher Betrachtung eine Grundlage für die ergangene Regelung findet (BVerwG, B.v. 29.7.2019 a.a.O. m.w.N.). Dagegen gelten für die Frage einer Wesensänderung durch ein Auswechseln der Rechtsgrundlage durch das Gericht bei Ermessensentscheidungen strengere Anforderungen; insoweit sind die Zielsetzungen und die Voraussetzungen der im Bescheid gewählten und der tatsächlich einschlägigen Norm in den Blick zu nehmen (BayVGH, U.v.23.07.2020 – 14 B 18.1472 -, juris m.w.N.)
Das Auswechseln der Rechtsgrundlage von § 39 LFGB bzw. § 138 BasisVO gegen § 69 AMG im Wege der Umdeutung ist hier nach diesen Maßstäben nicht möglich. Erstens ist für Maßnahmen nach § 69 AMG zuständige Behörde nicht die hier handelnde Antragsgegnerin, sondern nach § 2 Abs. 1, 2 und 5 der Verordnung über die Zuständigkeiten der Arzneimittelüberwachungsbehörden und zum Vollzug des Samenspenderregistergesetzes sowie des Gendiagnostikgesetzes (Arzneimittelüberwachungszuständigkeitsverordnung – ZustVAMÜB) die Regierung von Oberbayern. Schon deshalb ist ein Austausch der Rechtsgrundlage hier ausgeschlossen. Zweitens würde durch die Umdeutung der lebensmittelrechtlichen in eine arzneimittelrechtliche Anordnung der Verwaltungsakt in seinem Wesen verändert. Zwar stehen den zuständigen Behörden bei nicht zugelassenen Arzneimitteln ähnliche Befugnisse zu wie angesichts nicht sicherer Lebensmittel. Insbesondere können sie in beiden Fällen das Inverkehrbringen des betroffenen Produkts untersagen oder einen Rückruf anordnen. Allerdings handelt es sich in beiden Fällen um Befugnisnormen, die der Behörde auf der Rechtsfolgenseite ein Auswahlermessen hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen einräumen. Auch deshalb verbietet es sich, einen lebensmittelrechtlichen Rückruf als arzneimittelrechtlichen Rückruf gelten zu lassen. Zielrichtung, Struktur und Befugnisrahmen der beiden Rechtsgrundlagen sind wesentlich verschieden. Die Begründung für die Maßnahme ändert sich jeweils wesentlich, wenn einmal ein lebensmittelrechtlicher Verstoß und einmal ein arzneimittelrechtlicher Verstoß zugrunde gelegt wird.
2.2.4 Die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob das Produkt, unterstellt seine Lebensmitteleigenschaft, als gesundheitsschädlich und damit als nicht sicher und nicht verkehrsfähig gemäß Art. 14 Abs. 1 BasisVO einzustufen wäre, bedarf demnach keiner Entscheidung.
2.2. Unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage überwiegt im vorliegenden Fall das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung der streitgegenständlichen Anordnung. Für eine zusätzliche Abwägung des öffentlichen Interesses an einer sofortigen Vollziehung mit dem privaten Interesse der Antragstellerin an einer Aussetzung der Vollziehung ist deshalb kein Raum.
Der Antrag war daher abzulehnen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Über den Jahresbetrag der erwarteten wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahmen gem. Nr. 25.2 des Streitwertkatalogs wurden keine Angaben gemacht, weshalb der Auffangwert angesetzt wurde.


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