Europarecht

Schadensersatzanspruch gegen Hersteller im sog. Dieselskandal

Aktenzeichen  32 O 671/20

Datum:
18.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6476
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Deggendorf
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 31, § 199 Abs. 1, § 214 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 6a, § 249 Abs. 1, § 266, § 269, § 288, § 291, § 826
VO (EG) 715/2007 Art. 5 Abs. 2
FZV § 5 Abs. 1
EG-FGV § 2 Abs. 1
ZPO § 138 Abs. 3, Abs. 4, § 167, § 287, § 607 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Hersteller des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Motors vom Typ EA 189 haftet dem Käufer eines Fahrzeugs, in das ein solcher Motor verbaut ist, auf Schadensersatz wegen einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung, gerichtet auf Rückzahlung des Kaufpreises unter Abzug einer Nutzungsentschädigung; der Schaden entfällt nicht durch das Aufspielen eines Software-Updates (BGH BeckRS 2020, 10555). (Rn. 21 – 54) (redaktioneller Leitsatz)
2. Solange ein Individualanspruch im Zeitpunkt der Erhebung einer Musterfeststellungsklage unverjährt bestand, hemmt seine Anmeldung im Klageregister die Verjährung trotz zwischenzeitlichen Ablaufs der Verjährungsfrist für den Individualanspruch. (Rn. 59 – 61) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 22.710,48 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.11.2020 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeuges Audi A 4 Avant, Fahrzeug-Identifikationsnummer (FIN) … nebst Fahrzeugschlüssel.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 25 % und die Beklagte 75 % zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 30.156,06 € festgesetzt.

Gründe

Die teilweise zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet.
1. Die Klage ist teilweise zulässig. Insbesondere ist das Landgericht Deggendorf nach §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG, 32 ZPO sachlich und örtlich zuständig.
Hinsichtlich des Antrags zu Ziff. 2 folgt ein berechtigtes Feststellungsinteresse aus §§ 756, 765 ZPO.
Der mit Ziff. 3 verfolgte Hauptantrag ist bereits unzulässig. Die Feststellungsklage ist jedenfalls wegen des Vorrangs der Leistungsklage unzulässig (OLG München, Hinweisbeschluss vom 12.06.2018 – 8 U 3169/17, NJW-RR 2019, 184). Wie das OLG zutreffend entschieden hat, ist die Feststellungsklage dann unzulässig, wenn der Kläger dasselbe Ziel mit einer vorrangigen Leistungsklage erreichen könnte. Die Klagepartei hätte aber, insbesondere unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den EA 189-Fällen (Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19), den ihr entstandenen Schaden ohne weiteres beziffern können.
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht zwar dann, wenn davon ausgegangen werden kann, dass eine Erledigung der Streitpunkte durch ein rechtskräftiges Feststellungsurteil zu erwarten ist (OLG München a.a.O. Rn. 11). Dies ist hier ersichtlich nicht der Fall.
Hinsichtlich weiterer behaupteter Schäden ist der Vortrag unsubstantiiert und ersichtlich ins Blaue hinein.
2. Die Klage ist hinsichtlich der mit dem Antrag in Ziff. 1 geltend gemachten Forderung überwiegend begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 22.710,48 € Zug um Zug gegen Rückgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs aus §§ 826, 31 BGB.
2.1. Das Verhalten der Beklagten im Zusammenhang mit dem Inverkehrbringen des Motors ist als sittenwidrig zu qualifizieren, auch im Verhältnis zur Klagepartei.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 15, juris).
Das Verhalten der Beklagten ist im Verhältnis zur Klagepartei objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren. Die Beklagte hat auf der Grundlage einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig und in Bezug auf den Dieselmotor der Baureihe EA189 in siebenstelligen Stückzahlen in Deutschland Fahrzeuge in Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging einerseits eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden und andererseits die Gefahr einher, dass bei einer Aufdeckung dieses Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren. Das gilt auch, wenn es sich wie hier um den Erwerb eines Gebrauchtfahrzeugs handelt. Die Sittenwidrigkeit ergibt sich aus einer Gesamtschau des festgestellten Verhaltens der Beklagten unter Berücksichtigung des verfolgten Ziels, der eingesetzten Mittel, der zutage getretenen Gesinnung und der eingetretenen Folgen (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 16, juris).
Bei der im Fahrzeug der Klagepartei im Erwerbszeitpunkt vorhandenen Einrichtung handelte es sich um eine nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung. Insoweit sind die rechtskräftigen Feststellungen des KBA im Bescheid vom 15.10.2015 auch für das Zivilgericht bindend, denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NJW-RR 2007, 398, 399 m.w.N.), der das Gericht folgt, sind Verwaltungsakte in den Grenzen ihrer Bestandskraft für andere Gerichte und Behörden bindend.
Zur Überzeugung des Gerichts steht auch fest, dass die Abschalteinrichtung auf der Grundlage einer strategischen unternehmerischen Entscheidung der Beklagten über Jahre hinweg im Unternehmen der Beklagten in verschiedenen Fahrzeugmodellen durch aktive, im Hinblick auf dieses Ergebnis gewollte präzise Programmierung der Motorsteuerungssoftware zur Beeinflussung der Abgasrückführung in die Motorsteuerung eingebaut worden ist, wobei bei einer Entdeckung der verwendeten Software eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hätte erfolgen können, § 5 Abs. 1 FZV (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 19, juris).
Das Ziel der Beklagten bestand darin, Fahrzeuge und Motoren kostengünstiger als ihr sonst möglich zu produzieren und damit in einer Erhöhung ihres Gewinns. Ein solches Ziel ist zwar grundsätzlich erlaubt und auch nicht per se verwerflich. Dass auch die handelnden Personen dieses Ziel erstrebten, stellt die Beklagte auch nicht in Abrede; dem Entgegenstehendes ist auch sonst nicht ersichtlich. Weiterer Feststellungen zu den individuellen Beweggründen der handelnden Personen bedarf es nicht, denn dass sie über das Ziel der Erhöhung des Gewinns der Beklagten hinaus (weitere) Vorteile für sich persönlich erstrebten, ist für die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes der Sittenwidrigkeit durch die Beklagte selbst nicht erforderlich.
Das an sich erlaubte Ziel der Erhöhung des Gewinns wird auch im Verhältnis zu dem Käufer eines der betroffenen Fahrzeuge aber dann verwerflich, wenn es auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der zuständigen Typgenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde – des KBA (§ 2 Abs. 1 EG-FGV) erreicht werden soll, und dies mit einer Gesinnung verbunden ist, die sich sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer möglicherweise eintretenden Folgen und Schäden als auch im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt, gleichgültig zeigt. Ein solches Vorgehen verstößt derart gegen die Mindestanforderungen im Rechts- und Geschäftsverkehr auf dem hier betroffenen Markt für Kraftfahrzeuge, dass ein Ausgleich der bei den einzelnen Käufern verursachten Vermögensschäden geboten erscheint (vgl. auch BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 – II ZR 402/02, BGHZ 160, 149, 157). Gerade wenn der Fahrzeugerwerber – wie hier die Klagepartei – sich keine konkreten Vorstellungen über die Rechtsbeständigkeit der Typgenehmigung und die Erfüllung der gesetzlichen Abgasgrenzwerte machte, war das Inverkehrbringen der Fahrzeuge unter diesen Umständen sittenwidrig und stand wertungsmäßig einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Klagepartei gleich (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 23, juris).
Der Markt für Kraftfahrzeuge ist im Interesse der Vereinheitlichung und der Harmonisierung des Binnenmarktes, der Verkehrssicherheit und des Gesundheits- und Umweltschutzes geprägt durch eine große Regulierungsdichte im Hinblick auf die Fahrzeuggenehmigung und -zulassung. Es besteht ferner ein erhebliches Ungleichgewicht im Hinblick auf das bei den Herstellern und den Käufern der Fahrzeuge vorhandene (technische) Wissen in Bezug auf die Funktionsweise der hergestellten und vertriebenen Fahrzeuge. Arglose Käufer der bemakelten Fahrzeuge mussten daher mangels eigener Möglichkeiten, die Einhaltung der entsprechenden gesetzlichen Vorgaben auch nur nachvollziehen, geschweige denn kontrollieren zu können, darauf vertrauen, dass die gesetzlichen Vorgaben von der Beklagten eingehalten worden waren; gleichzeitig durften sie sich angesichts der die Beklagte nach den genannten Regelungen treffenden Pflichten, insbesondere im Hinblick auf das Typengenehmigungsverfahren, darauf auch verlassen.
Die Einhaltung der entsprechenden Vorgaben setzte die Klagepartei zur Überzeugung des Gerichts arglos als selbstverständlich voraus. Die Beklagte machte sich im Rahmen der von ihr bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typgenehmigungen durch arglistige Täuschung des KBA zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt zunutze. Dabei erfolgte das Inverkehrbringen der Fahrzeuge gerade mit dem Ziel, möglichst viele der bemakelten Fahrzeuge abzusetzen. Ein solcher Fall steht einer bewussten arglistigen Täuschung derjenigen, die ein solches Fahrzeug erwerben, gleich.
Die Beklagte trifft das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, daher gerade auch im Hinblick auf die Schädigung aller unwissenden Käufer der bemakelten Fahrzeuge. Diese Schädigung stellt die zwangsläufige Folge des Inverkehrbringens der betroffenen Fahrzeuge dar und liegt unmittelbar in der Zielrichtung des sittenwidrigen Verhaltens (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 25, juris).
Folglich kommt es auf die Frage, ob dem Inverkehrbringen der mit der unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuge oder Motoren – auch im Hinblick auf die Übereinstimmungsbescheinigung – ein irgendwie gearteter Erklärungswert beizumessen ist nicht an.
Bei der Bewertung der Sittenwidrigkeit berücksichtigt das Gericht vorliegend auch, dass die Beklagte systematisch und bewusst eine Software eingesetzt hat, durch die die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm nur im Prüfbetrieb eingehalten wurden. Dadurch wurde unerlaubt Einfluss auf den Stickoxidausstoß genommen und dieser über das Maß des nach den gesetzlichen Vorgaben Zulässigen hinaus erhöht. Dieses Vorgehen zeigt im Hinblick auf den von den gesetzlichen Vorgaben intendierten Schutz der Gesundheit der Bevölkerung eine rücksichtslose Gesinnung, die gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 27, juris).
2.2. Das Gericht geht davon aus, dass die grundlegende strategische Entscheidung in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Software von den im Hause der Beklagten für die Motorenentwicklung verantwortlichen Personen, namentlich dem vormaligen Leiter der Entwicklungsabteilung und den für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Beklagten verantwortlichen vormaligen Vorständen, wenn nicht selbst, so zumindest mit ihrer Kenntnis und Billigung getroffen bzw. jahrelang umgesetzt worden ist. Deren Verhalten wird der Beklagten nach § 31 BGB zugerechnet (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 29, juris).
Das Gericht geht auch davon aus, dass sowohl der vormalige Leiter der Entwicklungsabteilung als auch der vormalige Vorstand der Beklagten von den illegalen Praktiken in Bezug auf die unzulässige Abschalteinrichtung Kenntnis hatten und dies im Bewusstsein der Täuschung über die Zulassungsfähigkeit der Fahrzeuge gebilligt haben. Insoweit ist das Bestreiten der Beklagten mit Nichtwissen nach § 138 Abs. 4 ZPO unzulässig, der Vortrag der Klagepartei ist mithin als zugestanden anzusehen, § 138 Abs. 3 ZPO (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 30, juris).
Der Leiter der Entwicklungsabteilung ist dabei ebenso wie der Vorstand als verfassungsmäßig berufener Vertreter im Sinne des § 31 BGB anzusehen, sie haben auch in dieser Eigenschaft gehandelt (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 33, juris).
Die Beklagte ist insoweit ihrer sekundären Darlegungslast nicht ausreichend nachgekommen.
Wegen der besonderen Schwierigkeiten der Klagepartei, konkrete Tatsachen darzulegen, aus denen sich die Kenntnis eines bestimmten Vorstandsmitglieds ergibt, ist die pauschale Einlassung der Beklagten, nach dem derzeitigen Ermittlungsstand lägen keine Erkenntnisse dafür vor, dass eines ihrer Vorstandsmitglieder im Sinne des Aktienrechts an der Entwicklung der Software beteiligt gewesen sei oder die Entwicklung und Verwendung der Software in Auftrag gegeben oder davon gewusst habe, nicht ausreichend (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 39, juris).
Zudem käme eine Haftung der Beklagten für das Verhalten der von der Klagepartei benannten Personen jedenfalls nach §§ 826, 831 BGB in Betracht. Danach haftet der Geschäftsherr für einen Verrichtungsgehilfen, wenn er sich bezüglich dessen Auswahl und Überwachung nicht entlasten kann. Für die Frage einer sittenwidrigen Schädigung durch diese Personen würde letztlich nichts grundsätzlich anderes gelten als für die vormaligen Leiter der Entwicklungsabteilung und den Vorstand (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 43, juris).
2.3. Der Klagepartei ist durch den Fahrzeugkauf ein Schaden im Sinne der §§ 826, 249 Abs. 1 BGB entstanden, der bereits in dem Abschluss des Kaufvertrags über das bemakelte Fahrzeug liegt (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 44, juris).
Die Bejahung eines Vermögensschadens setzt voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 46, juris).
Vorliegend ist die Klagepartei durch das einer arglistigen Täuschung gleichstehende Verhalten der Beklagten eine ungewollte Verpflichtung eingegangen. Hierbei kann dahinstehen, ob der Vermögensschaden dadurch eingetreten ist, dass im Zeitpunkt des Erwerbs eine objektive Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung nicht gegeben war, denn ein Schaden ist hier jedenfalls deshalb eingetreten weil der Vertragsschluss als unvernünftig anzusehen war.
Der Kläger konnte nachvollziehbar darlegen, dass er den Kaufvertrag in Kenntnis der Abschalteinrichtung nicht geschlossen hätte. Zur Überzeugung des Gerichts ergibt sich schon aus der allgemeinen Lebenserfahrung und der Art des zu beurteilenden Geschäfts der allgemeine Erfahrungssatz, wonach auszuschließen ist, dass ein Käufer ein Fahrzeug erwirbt, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 49, juris). Bei einem zur eigenen Nutzung erworbenen Kraftfahrzeug sind dessen Gebrauchsfähigkeit und ständige Verfügbarkeit für den Eigentümer von so großer Bedeutung, dass die vorübergehende Entziehung eines Kraftfahrzeugs auch bei der Anlegung des gebotenen strengen Maßstabs einen Vermögensschaden darstellt (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 51, juris).
Die bei Erwerb vorhandene unzulässige Abschalteinrichtung barg zumindest die abstrakte Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder – untersagung nach § 5 Abs. 1 FZV, weshalb es für die Zwecke der Klagepartei nicht voll brauchbar war (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 53, juris).
Es lag auch nicht lediglich eine Vermögensgefährdung vor, vielmehr begründete bereits der (ungewollte) Vertragsabschluss einen Schadensersatzanspruch. Er war darauf gerichtet, so gestellt zu werden, als ob die Klagepartei den Vertrag nicht abgeschlossen hätte. Darauf, dass die unzulässige Abschalteinrichtung und damit die Unvernünftigkeit des Vertragsschlusses erst später bekannt wurde, kommt es für die Entstehung des Schadens nicht an (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 55, juris).
Der Schaden ist auch nicht durch das später aufgespielte Update wieder entfallen, die Geltendmachung des Schadens verstößt ferner auch nicht gegen die Grundsätze von Treu und Glauben (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 58, 59, juris).
2.4. Das Gericht geht auch davon aus, dass der vormalige Leiter der Entwicklungsabteilung und die für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Beklagten verantwortlichen vormaligen Vorstände mit Schädigungsvorsatz auch in Bezug auf die Fahrzeugkäufer handelten.
Dies ergibt sich bereits daraus, dass diese Verantwortlichen die grundlegende und mit der bewussten Täuschung des KBA verbundene strategische Entscheidung in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Software jedenfalls kannten und jahrelang umsetzten, weshalb schon nach der Lebenserfahrung davon auszugehen ist, dass ihnen als für die zentrale Aufgabe der Entwicklung und des Inverkehrbringens der Fahrzeuge zuständigem Organ oder verfassungsmäßigem Vertreter (§ 31 BGB) bewusst war, in Kenntnis des Risikos einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung der betroffenen Fahrzeuge werde niemand – ohne einen erheblichen, dies berücksichtigenden Abschlag vom Kaufpreis – ein damit belastetes Fahrzeug erwerben (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 63, juris).
2.5. Die Klagepartei muss sich jedoch im Wege des Vorteilsausgleichs die gezogenen Nutzungen anrechnen lassen, denn die Grundsätze der Vorteilsausgleichung gelten auch für einen Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB; anderenfalls würde der Ersatzanspruch in die Nähe eines dem deutschen Recht fremden Strafschadensersatzes gerückt (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 64, 66, 67, juris).
Die abzuziehende Nutzungsentschädigung errechnet das Gericht gemäß § 287 ZPO nach der folgenden Formel:
Gebrauchsvorteil =
Bruttokaufpreis × gefahrene Kilometer
erwartete Laufleistung im Erwerbszeitpunkt (300.000 km bei Neuwagen)
Das Gericht schätzt dabei die zu erwartende Gesamtlaufleistung auf 300.000 Kilometer. Dies ergibt sich bereits daraus, dass gerade Dieselmotoren deutscher Markenhersteller als robust und langlebig bekannt sind (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 -, Rn. 83, juris).
Der Bruttokaufpreis betrug 36.042,09 €. Die Laufleistung am 03.03.2021 betrug 110.967.
Dies ergibt eine zu berücksichtigende Nutzungsentschädigung von 13.331,61 €. Dem Kläger steht daher noch ein Anspruch in Höhe von 22.710,48 € zu.
Da der Kläger den Vorteilsausgleich in seinem Klageantrag nur zum Teil berücksichtigt hat, indem von einer Gesamtlaufleistung von 400.000 km und daher einer geringeren anzurechnenden Entschädigung ausgegangen war, unterliegt die Klage teilweise der Abweisung (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 12. Juni 2019 – 5 U 1318/18 -, Rn. 111-113, juris).
2.6. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Anspruch auch nicht verjährt, § 214 Abs. 1 BGB.
2.6.1. Der Anspruch verjährt gemäß § 195 BGB in der regelmäßigen Verjährungsfrist von 3 Jahren, die Verjährung beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste. Der individuelle Verjährungsbeginn, d.h. der Zeitpunkt der Kenntnis oder wie im hier vorliegenden Fall der grob fahrlässigen Unkenntnis des Gläubigers von den, den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners, § 199 Abs. 1 BGB, stimmt nach der Rechtsprechung des OLG München (Beschluss vom 05. Februar 2020 – 3 U 7392/19 -, Rn. 4, juris) regelmäßig mit dem unstreitigen Zeitpunkt des allgemeinen Bekanntwerdens des „Dieselskandals“ überein, weshalb die Verjährung mit dem Schluss des Jahres 2015 zu laufen begann.
3.6.2. Die Klage wurde zwar erst im Jahr 2020 erhoben, jedoch war die Verjährung des streitgegenständlichen Anspruchs gehemmt, da sich der Kläger der Musterfeststellungsklage vor dem OLG Braunschweig (Az. 4 MK 1/18) angeschlossen hatte. Die Anmeldung zur Musterfeststellungsklage gegen die Beklagte erfolgte am 01.12.2018, eine Abmeldung erfolgte unstreitig nicht.
Dem vorliegenden Rechtsstreit liegt derselbe Lebenssachverhalt zugrunde wie den Feststellungszielen der Musterfeststellungsklage.
Gehemmt wird der Anspruch bereits mit der Erhebung der Musterfeststellungsklage, also nicht erst mit der Anmeldung des Anspruchs zum Klageregister. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Eintritt der Hemmungswirkung ist nicht der Zeitpunkt der wirksamen Anmeldung, sondern derjenige der Erhebung der Musterfeststellungsklage. Das ergibt sich einerseits aus dem eindeutigen Wortlaut von § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB, der vergleichbar mit dem des Abs. 1 Nr. 1 und verschieden zu dem des Abs. 1 Nr. 6a ist. Den Gesetzgebungsmaterialien lässt sich ebenfalls die Erhebung der Klage als hemmungsauslösender Zeitpunkt entnehmen (BeckOGK/Meller-Hannich, 1.6.2020, BGB § 204 Rn. 116). Aus den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drs. 19/2701, 9 f.) ergibt sich, dass diese Problematik im Gesetzgebungsverfahren gesehen und dahingehend beantwortet wurde, dass mit der Klageerhebung zunächst eine Hemmung eintreten soll, die nur dann rückwirkend entfällt, wenn der Verbraucher den Anspruch nicht oder nicht wirksam nachträglich anmeldet (BeckOK BGB/Henrich, 53. Ed. 1.2.2020, BGB § 204 Rn. 20a-20c).
Dies gilt auch dann, wenn die Anmeldung erst nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist des Individualanspruchs vorgenommen wird, wie hier im März 2019 geschehen (Anlage K1d). Der Hemmungszeitraum beginnt ausweislich des Gesetzeswortlauts gerade mit der Erhebung der Musterfeststellungsklage. Eine derartige Auslegung entspricht auch dem erklärten Willen des Gesetzgebers (vgl. BR-PlenProt. 968 v. 8.6.2018, 172 C; BT-Drs. 19/2710, 3; BT-Drs. 19/2701, 9 f.; BT-Drs. 19/2741, 23).
Daher kommt es in Bezug auf die Verjährungshemmung stets zu einer Rückwirkung der Anmeldung auf den Zeitpunkt der Klageerhebung. Solange der Anspruch im Zeitpunkt der Erhebung der Musterfeststellungsklage unverjährt bestand, kann trotz zwischenzeitlichem Ablauf der Frist die Anmeldung des Anspruchs im Klageregister dessen Verjährung hemmen. Dies stellt auch keine verfassungswidrige Rückwirkung der Verjährungshemmung dar (BeckOGK/Meller-Hannich, 1.6.2020, BGB § 204 Rn. 116, 117).
Eine Musterfeststellungsklage wird nicht bereits durch Einreichung bei Gericht (was hier allgemeinkundig am 01.11.2018 erfolgte), sondern erst durch Zustellung an den Musterbeklagten erhoben im Sinne des § 607 Abs. 2 ZPO (OLG Braunschweig Beschl. v. 23.11.2018 – 4 MK 1/18, BeckRS 2018, 30499, beck-online). Die Zustellung erfolgte allgemeinkundig am 12.11.2018, mithin demnächst im Sinne des § 167 ZPO, weshalb ab 01.11.2018 eine Hemmung eintrat.
Das Musterfeststellungsverfahren endete allgemeinkundig durch Rücknahme der Musterfeststellungsklage durch einen am 30.04.2020 eingegangenen Schriftsatz des Musterklägers und Einwilligung der Musterbeklagten durch Schriftsatz vom 04.05.2020, der am selben Tag bei Gericht eingegangen ist (Bekanntmachung des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 13.05.2020).
Nach § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB endet die Hemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB sechs Monate nach der Beendigung des eingeleiteten Verfahrens am 04.05.2020. Mithin war die Verjährung des streitgegenständlichen Anspruchs jedenfalls bis Ablauf des 04.11.2020 gehemmt. Vorliegend ging die Klage am 29.10.2020 bei Gericht ein, die Zustellung erfolgte am 25.11.2020 – demnächst im Sinne des § 167 ZPO. Mithin wurde die Klage evident in dem Zeitraum erhoben, in dem die Verjährung noch gehemmt war.
Demzufolge ist der Anspruch vorliegend nicht verjährt.
3.6.3. Die Anmeldung zur Musterfeststellungsklage ist auch nicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Das Ergebnis der rückwirkenden Verjährungshemmung führt zu keinem mit Treu und Glauben schlechthin untragbaren Ergebnis. Vielmehr ist dies vom Gesetzgeber bewusst so geregelt worden und sollte gerade einerseits dem Schutz des Fahrzeugkäufers vor Verjährung dienen, wie auch dem Schutz der Beklagten mit unnötig vielen Individualklagen überzogen zu werden, so dass im Ausnutzen der vom Gesetzgeber bewusst geschaffenen Rechtslage gerade kein Rechtsmissbrauch liegen kann.
4. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz waren dem Kläger als Prozesszinsen nach § 291, 288 Abs. 1 BGB erst ab Klagezustellung zuzusprechen.
Die weiteren begehrten Zinsen seit der Anmeldung zur Musterfeststellungsklage stehen dem Kläger nicht zu. Eine Klage auf Feststellung führt grundsätzlich nicht zur Rechtshängigkeit im Sinne des § 291 BGB (siehe BeckOGK/Domis, 1.3.2020, BGB § 291 Rn. 17)
5. Die Klagepartei hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten.
Die Klagepartei hat der Beklagten die Rücknahme des Fahrzeugs nicht in einer den Annahmeverzug begründenden Weise angeboten.
Ein wirksames Angebot liegt nur vor, wenn der Schuldner dem Gläubiger die Leistung so, wie sie geschuldet wird, also insbesondere am richtigen Ort (§ 269 BGB), im richtigen Umfang (§ 266 BGB) und in der rechten Art und Weise anbietet (Grüneberg, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 294 BGB, Rn. 3). Das Angebot muss so vorgenommen werden, dass der Gläubiger nichts weiter zu tun braucht, als zuzugreifen und die Leistung anzunehmen (Grüneberg, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 294 BGB, Rn. 2).
Diesen Anforderungen ist die Klagepartei nicht nachgekommen. Die Klagepartei hat die Zahlung eines deutlich höheren Betrags verlangt, als er hätte beanspruchen können, indem er beim abzuziehenden Nutzungsersatz von einer deutlich höheren Gesamtlaufleistung ausging. Ein zur Begründung von Annahmeverzug aufseiten der Beklagten geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben (BGH, Urteil vom 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rn. 85, beck-online).
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO. Von § 92 Abs. 2 ZPO war kein Gebrauch zu machen, da das Unterliegen des Klägers weder bloß geringfügig ist, noch allein auf die vom Gericht vorgenommene Schätzung des Nutzungsersatzes zurückzuführen ist.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 709, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
7. Der Streitwertbeschluss folgt aus §§ 63 Abs. 2, 48 Abs. 1 GKG, 3 ff. ZPO.
Ziffer 1: 36.042,09 € (Kaufpreis) – 9.490,24 € (Nutzungsersatz bei Klageerhebung) = 26.551,85 €.
Ziffer 2: Dem Feststellungsantrag in Ziff. 2 misst das Gericht im konkreten Fall keinen über die Hauptforderung hinausgehenden Wert zu.
Ziffer 3: Gemäß klägerischem Ansatz 10 % des Kaufpreises, daher 3.604,21 €


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