Europarecht

Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes im Zivilprozess (“Thermofenster”)

Aktenzeichen  5 U 4765/19

Datum:
27.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 17693
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 22

 

Leitsatz

Mit der Erteilung der Typgenehmigung bestätigt das Kraftfahrtbundesamt dem Hersteller, dass das betreffende Fahrzeugmodell die Anforderungen der „einschlägigen Vorschriften“ erfüllt, darunter auch diejenigen der Verordnung EG Nr. 715/2007 hinsichtlich der Schadstoffemissionen. Es handelt sich hierbei um einen Verwaltungsakt des Kraftfahrtbundesamtes gegenüber dem Fahrzeughersteller, dem hierdurch ermöglicht wird, die dem genehmigten Typ entsprechenden einzelnen Fahrzeuge unter Ausstellung und Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung (§ 22 EG-FGV) in den Verkehr zu bringen. Während der Bestandskraft des Verwaltungsaktes sind die Zivilgerichte aufgrund der sog. Tatbestandswirkung daran gehindert, in einem Rechtsstreit zwischen einem Fahrzeugkäufer und dem Hersteller etwas anderes anzunehmen. Dies gilt auch für einen vermeintlichen Verstoß gegen die guten Sitten aufgrund einer in dem Fahrzeug verbauten Abschalteinrichtung. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

41 O 122/19 2019-11-19 Endurteil LGREGENSBURG LG Regensburg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Regensburg vom 19.11.2019, Az. 41 O 122/19, wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Das vorbezeichnete Endurteil des Landgerichts Regensburg sowie dieser Beschluss sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
III. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 22.498,91 € festgesetzt.

Gründe

Die Berufung des Klägers hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.
Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf den Hinweis seines Vorsitzenden vom 04.02.2020. Die Stellungnahme des Klägers gibt dem Senat keine Veranlassung, die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels günstiger zu beurteilen.
Dem Käufer – auch dem Zweit- oder Drittkäufer – eines mit einem nach den europarechtlichen Vorschriften nicht zulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeuges kann nicht nur ein kaufrechtlicher Gewährleistungsanspruch unter dem Gesichtspunkt eines Sachmangels, sondern auch ein Anspruch gegen den Hersteller wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB zustehen, wie dies der BGH in einem sog. VW-Fall inzwischen entschieden hat (Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19). Das Inverkehrbringen derartiger Fahrzeuge kann sich nämlich als sittenwidrig darstellen, wobei der Schaden i. S. d. § 249 Abs. 1 BGB bereits in dem Abschluss des Kaufvertrages über ein solches Fahrzeug liegen kann, wenn nämlich die Leistung des einen Vertragspartners für die Zwecke des anderen, also des Käufers, nicht voll brauchbar ist. Dieses hat der BGH angenommen, wenn ein Fahrzeug erworben wird, dem wegen des Vorhandenseins einer unerlaubten Abschalteinrichtung eine Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung droht, wobei es nicht entscheidend darauf ankommt, ob das Kraftfahrtbundesamt bereits das Vorhandensein einer solchen Abschalteinrichtung festgestellt und deshalb gegen den Hersteller Maßnahmen ergriffen hat.
Die Anwendung dieser Rechtsprechung auf den Streitfall hätte zunächst zur Voraussetzung, dass das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG Nr. 715/2007), die nach Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung nicht zulässig ist, festgestellt wurde. Eine solche Feststellung kann im Zivilprozess grundsätzlich auch dann erfolgen, wenn sie vom Kraftfahrtbundesamt (noch) nicht getroffen worden ist, wovon im Streitfall auszugehen ist. In dem hier zu beurteilenden Fall steht einer derartigen Feststellung aber die sog. Tatbestandswirkung des bestandskräftigen Verwaltungsaktes entgegen.
Die Beklagte weist zu Recht darauf hin, dass für das streitgegenständliche Fahrzeugmodell eine bestandskräftige und auch nicht durch nachträgliche Nebenbestimmungen eingeschränkte Typgenehmigung des Kraftfahrtbundesamtes vorliegt. Die EG-Typgenehmigung ist die für einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union in Anwendung der Richtlinie 2007/46/EG, der Richtlinie 2002/24/EG sowie der Richtlinie 2003/37/EG erteilte Bestätigung, dass der zur Prüfung vorgestellte Typ eines Fahrzeuges, eines Systems, eines Bauteils oder einer selbständigen technischen Einheit die einschlägigen Vorschriften und technischen Anforderungen erfüllt (so die Begriffsbestimmung in § 2 Nr. 4 der Fahrzeug-Zulassungsverordnung). Mit der Erteilung der Typgenehmigung hat das Kraftfahrtbundesamt somit dem Hersteller, hier also der Beklagten, bestätigt, dass das streitgegenständliche Fahrzeugmodell die Anforderungen der „einschlägigen Vorschriften“ erfüllt, mithin auch diejenigen der Verordnung EG Nr. 715/2007 hinsichtlich der Schadstoffemissionen. Es handelt sich hierbei um einen Verwaltungsakt des Kraftfahrtbundesamtes gegenüber dem Fahrzeughersteller, dem hierdurch ermöglicht wird, die dem genehmigten Typ entsprechenden einzelnen Fahrzeuge unter Ausstellung und Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung (§ 22 EG-FGV) in den Verkehr zu bringen. Hat aber die zuständige Behörde in einem bestandskräftigen Verwaltungsakt dem Hersteller bescheinigt, dass das streitgegenständliche Fahrzeugmodell insbesondere im Hinblick auf die Schadstoffemissionen den Anforderungen – hier insbesondere der Euro 5 Norm genügt, so sind die Zivilgerichte aufgrund der sog. Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes daran gehindert, in einem Rechtsstreit zwischen einem Fahrzeugkäufer und dem Hersteller etwas anderes anzunehmen. Die Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes besagt, dass dann, wenn die zuständige Verwaltungsbehörde einen wirksamen Verwaltungsakt erlassen hat, der ein bestimmtes Verhalten ausdrücklich erlaubt, etwa durch eine Genehmigung, die Zulässigkeit des betreffenden Verhaltens einer Nachprüfung durch die Zivilgerichte so lange entzogen ist, als der Verwaltungsakt nicht durch die zuständige Behörde oder ein Verwaltungsgericht aufgehoben worden oder nichtig ist (BGHZ 73, 114; BGH, NJW 1998, 3055; BGHZ 158, 19; BGH, NVwZ-RR 2008, 154; BGH, NVwZ-RR 2010, 272; BGHZ 205, 195). Auch die nachträgliche Anordnung von Nebenbestimmungen würde die Tatbestandswirkung zumindest im Umfang dieser Nebenbestimmungen einschränken. Mit der Tatbestandswirkung der vom Kraftfahrtbundesamt bestandskräftig erteilten und unverändert – also nicht durch nachträgliche Nebenbestimmungen eingeschränkt – wirksamen Typ-Genehmigung wäre nicht vereinbar, wenn der Senat annähme, die Beklagte habe (auch) dem Kläger gegenüber mit dem Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeuges, das dem genehmigten Typ entspricht, gegen die guten Sitten verstoßen, weil das Fahrzeug mit einer nicht zulässigen Abschalteinrichtung versehen sei, die der Erteilung einer Genehmigung entgegenstünde (so auch OLG Celle, Hinweisbeschluss vom 07.08.2019, Az. 7 U 726/19; OLG Frankfurt, Urteil vom 12.06.2020, Az. 10 U 193/19; OLG Oldenburg, Hinweisbeschluss vom 27.01.2020, Az. 5 U 395/19; OLG Stuttgart, Termin vorbereitende Verfügung vom 04.05.2020 im Verfahren Az. 16 a U 55/19; Senat, Hinweisbeschlüsse vom 03.06.2020 und vom 22.07.2020, Az. 5 U 3968/19 bzw. Az. 5 U 697/20). Der Auffassung des Klägers, die Genehmigungswirkung erstrecke sich nicht auf die von ihm als unzulässig gerügte Abschalteinrichtung bei der Steuerung der Abgasrückführung, kann der Senat nicht folgen. Die EG-Typ-Genehmigung betrifft – anders als eine emissionsschutzrechtliche Genehmigung – einen konkret vorhandenen Fahrzeug-Prototyp mit allen seinen bereits feststehenden Eigenschaften. Daran ändert sich nichts, wenn die Beschreibung des Prototyps entgegen gesetzlichen Vorschriften unvollständig oder falsch ist; das Genehmigungsverfahren dient gerade dazu, die Richtigkeit der Beschreibung zu prüfen (Schröder, TVBl 2017, 1193, 1199).
Zwar könnte sich die Beklagte auf die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung nicht berufen, wenn sie diese Genehmigung durch eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörde, also des Kraftfahrtbundesamtes, erschlichen hätte, wie auch der BGH im Falle des VW-Konzerns in seinem Urteil vom 25.05.2020 angenommen hat. Eine solche Täuschung liegt auf der Hand, wenn der Hersteller die Motorsteuerung mit einer Einrichtung versieht, die die Prüfungssituation erkennt und infolgedessen eine besonders intensive Abgasreinigung, etwa durch eine hohe Abgasrückführungsrate, veranlasst, während im Realbetrieb außerhalb der Prüfungssituation die Abgasreinigung nur in verringertem Umfang arbeitet. Denn in diesem Fall wird die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte für den Stickoxid-Ausstoß nur vorgetäuscht, so dass zweifelsfrei bei Kenntnis dieser Funktion das Kraftfahrtbundesamt eine Typgenehmigung nicht erteilt hätte. Im Streitfall hat zwar der Kläger die Behauptung aufgestellt, das Kraftfahrtbundesamt sei bei der Erteilung der Typgenehmigung getäuscht worden, indem die Beklagte hinsichtlich der Funktionswiese der Abgasrückführung unvollständige Angaben gemacht habe. Er hat allerdings bereits erstinstanzlich (Schriftsatz vom 29.10.2019, Bl. 118 ff. d.A.) eingeräumt, dass die Beklagte in ihren Anträgen im Typgenehmigungsverfahren vortrage, die Abgasrückführungsrate werde vom Parameter „Ladelufttemperatur“ beeinflusst. In der Berufungsbegründung weist der Kläger ergänzend darauf hin, dass in einem Beschreibungsbogen der Hinweis „Kennfeld gesteuert“ in Bezug auf die Abgasrückführung enthalten sei. Damit übereinstimmend trägt die Beklagte in ihrer Berufungserwiderung vor, dass sie an dieser Stelle – in der vom Kläger herangezogenen Kopie geschwärzt – auf ein weiteres Dokument verweise, in dem die Angabe der Temperatur als einer der Parameter für die Steuerung der Abgasrückführung erscheine. Dahinstehen kann, ob die Beklagte mit dieser Angabe den Anforderungen des Art. 3 Nr. 9 der Verordnung (EG 692/2008) vollständig entsprochen hat. Jedenfalls hat sie das Kraftfahrtbundesamt insoweit nicht getäuscht. Denn für die Behörde war aufgrund dieser Angaben offensichtlich, dass die Abgasrückführung nicht mit einer konstanten Abgasrückführungsrate arbeite, sondern in Abhängigkeit verschiedener Parameter, u.a. der Lufttemperatur, also „Kennfeld gesteuert“. Sollte hierin eine ungenügende Beschreibung der Arbeitsweise zu sehen sein, war dieser Umstand für die Behörde ebenfalls offensichtlich. Wenn sie davon absah, der Beklagten detailliertere Angaben abzufordern, dann geschah dies nicht aufgrund einer Täuschung, sondern offensichtlich deshalb, weil es ihr nicht darauf ankam.
Hieraus folgt, dass im Streitfall eine nähere Untersuchung der tatsächlichen Ausgestaltung des sog. thermischen Fensters entgegen der Auffassung des Klägers nicht erforderlich ist. Der Senat sähe bei Fortführung des Berufungsverfahrens deshalb keine Veranlassung, der Beklagten aufzugeben, hierzu näher vorzutragen, um sodann durch eine Begutachtung zu untersuchen, ob die konkrete Ausgestaltung der Abgasrückführung die Einstufung als nicht zulässige Abschalteinrichtung rechtfertige und, worauf es entscheidend ankäme, diesbezüglich ein zumindest bedingter Vorsatz auf Seiten der Beklagten anzunehmen sei.
Im Übrigen, also unabhängig von dem rechtlichen Gesichtspunkt der Tatbestandswirkung der bestandskräftigen Typgenehmigung, ist für die Prüfung, ob die Beklagte durch das Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Kraftfahrzeuges den Kläger vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat, auf den Zeitpunkt dieses Inverkehrbringens abzustellen und nicht auf den heutigen Meinungsstand, somit auch nicht auf eine technische Bewertung der damals gewählten Art der Motorsteuerung durch den Senat im Jahr 2020. Dies gilt sowohl für den damaligen Kenntnisstand hinsichtlich der technischen Möglichkeiten und Grenzen einer Abgasrückführung – der sich in der Zwischenzeit weiter entwickelt haben kann – wie auch das Verständnis der damals geltenden Vorschriften, insbesondere in der Praxis der Genehmigungsbehörde.
Diesbezüglich hat der Senat in seinem Urteil vom 19.07.2019, Az. 5 U 1670/18, in Übereinstimmung mit inzwischen zahlreichen obergerichtlichen Entscheidungen die Auffassung vertreten, die zu revidieren er bislang keine Veranlassung sieht, angesichts der durchaus nicht klaren Vorgaben der bereits erwähnten EG-Normen zur Reichweite des Ausnahmetatbestandes „Motorschutz“ und der damaligen Genehmigungspraxis des Kraftfahrtbundesamtes liege die Annahme eines vorsätzlichen Handelns der Beklagten im Hinblick auf die (unterstellte) Unerlaubtheit der gewählten Art der Motorsteuerung eher fern. Im Übrigen erscheint keineswegs unzweifelhaft, dass eine an verschiedene Parameter des jeweiligen Betriebszustandes anknüpfende, somit hinsichtlich der Abgasrückführungsrate variable Steuerung der Abgasrückführung nach dem Sinn in der Vorschrift als Abschalteinrichtung im Sinne der Verordnung (EG Nr. 715/2007) angesehen werden muss. Der sehr weit gefasste Wortlaut in Art. 3 Nr. 10 dieser Verordnung lässt zwar diese Subsumtion zu, andererseits wird, worauf die Beklagte hingewiesen hat, in einer neueren – für das streitgegenständliche Fahrzeug nicht einschlägigen – europäischen Verordnung (Verordnung EU 2017/654) eine Kennfeldsteuerung der Abgasrückführung als „Standard-Emissionsstrategie“ bezeichnet (Anhang IV, Abs. 2.2.2 der Verordnung), somit als grundsätzlich zulässig angesehen.
Nach alledem bleibt es dabei, dass die Berufung des Klägers offensichtlich keine Erfolgsaussicht hat.
Da auch die übrigen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO erfüllt sind, weist der Senat die Berufung des Klägers durch einstimmigen Beschluss mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurück.
Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr.10, 709, 711 ZPO.


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