Europarecht

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Kostenerstattung für Jugendhilfemaßnahmen, Beendigung einer Jugendhilfemaßnahme bei Entweichen, Keine Geltung von Verwaltungsvereinbarungen contra legem

Aktenzeichen  12 BV 20.1934

Datum:
22.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15809
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufnG Art. 7, 8
SGB VIII §§ 42 ff., 89d

 

Leitsatz

1. Entweicht ein in Obhut genommener unbegleiteter minderjähriger Ausländer aus einer Einrichtung und taucht er daraufhin unter, liegen die Voraussetzungen für eine weitere Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII nicht mehr vor, sodass der Jugendhilfeträger die Maßnahme beenden kann.
2. Das Fristenregime des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII für die Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gilt ungeachtet der Einführung des Systems der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Ausländern in §§ 42a ff. SGB VIII fort. Verwaltungsanweisungen, die den Fristbeginn auf die erstmalige Kenntniserlangung des Jugendhilfeträgers von der Einreise eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers verschieben, sind rechtswidrig und folglich außer Anwendung zu lassen.
3. Der Kostenerstattungsanspruch des Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz – AufnG) setzt keinen Zusammenhang zwischen der Einreise eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers und der Gewährung von Jugendhilfe voraus. Es handelt sich insoweit um einen eigenständigen, nicht an § 89d Abs. 1 SGB VIII orientierten Erstattungsanspruch.

Verfahrensgang

AN 6 K 18.396 2020-06-25 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Der Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 27.715,84 € festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Beklagten, über die der Senat nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet. Der Klägerin kommt der geltend gemachte Erstattungsanspruch für die für die Inobhutnahme von Khader H.B. im Zeitraum zwischen dem 17. März 2016 und dem 20. September 2016 aufgewandten Jugendhilfekosten nach Art. 7 Abs. 1 AufnG, Art. 8 AufnG offensichtlich zu.
1. Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch ist nicht bereits nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG ausgeschlossen, da der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum kein – vorrangiger – Erstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII zustand. Vielmehr greift bei der vorliegenden Fallkonstellation § 89d Abs. 4 SGB VIII ein, wonach die Verpflichtung zur Erstattung der aufgewandten Jugendhilfekosten dann entfällt, wenn für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten Jugendhilfe nicht zu gewähren war. Zwar soll dies nicht bereits dann der Fall sein, wenn für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten Jugendhilfe tatsächlich nicht erbracht worden ist, sondern vielmehr erst dann, wenn für einen ununterbrochenen Zeitraum von mehr als drei Monaten kein Anspruch auf Jugendhilfeleistungen mehr bestanden hat (so insb. Streichsbier in jurisPK-SGB VIII, Stand 3.12.2020, § 89d Rn. 18; Schweigler in BeckOGK SGB VIII, § 89d Rn. 22).
Entgegen der Auffassung des Beklagten besaß Khader H.B. jedoch als Folge seines Entweichens aus der Einrichtung der Klägerin und des anschließenden Untertauchens in Bremen im Zeitraum zwischen dem 30. November 2015 und 16. März 2016 für mehr als drei Monate keinen Anspruch auf Jugendhilfe in Form der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII (mehr). Denn die Inobhutnahmepflicht der Klägerin ist jedenfalls nach Abwarten einer 48-stündigen Mindestfrist (vgl. hierzu etwa Kirchhoff in jurisPK-SGB VIII, Stand 14.4.2022, § 42 Rn. 242) für ein Wiederaufgreifen von Khader H.B. erloschen. Infolgedessen hat die Klägerin die Inobhutnahme zu Recht am 3. Dezember 2015 formell beendet.
Anders als der Beklagte meint, liegen im Falle des Entweichens und Untertauchens eines zuvor in Obhut genommenen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII nicht mehr vor, weil es an der Mitwirkungsbereitschaft des unbegleiteten Minderjährigen an der Jugendhilfemaßnahme offenkundig fehlt, die Inobhutnahme faktisch nicht mehr durchgeführt und dem Jugendlichen keine weiteren Hilfen mehr vermittelt werden können. Bei dieser Konstellation hat die Klägerin daher die Inobhutnahme von Khader H.B. zu Recht am 3. Dezember 2015 beendet und ihn erst nach seiner Rückkehr nach Nürnberg erneut in Obhut genommen (zu dieser Vorgehensweise vgl. Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 54; Kirchhoff in jurisPK-SGB VIII, Stand 14.4.2022, § 42 Rn. 242; Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 Rn. 54; DIJuF-Rechtgutachten JAmt 2018, 147, 148; a.A. Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 106; Schmidt in BeckOGK SGB VIII, Stand 1.5.2022, § 42 Rn. 177 ff.). Folglich lagen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen der Jugendhilfemaßnahme der Inobhutnahme im Sinne von § 89d Abs. 4 SGB VIII für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als drei Monaten nicht vor (ebenso für den Fall des Entweichens Bohnert/Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand September 2020, § 89d Rn. 29). Nach der erneuten Inobhutnahme von Khader H.B. ab 17. März 2016 in Nürnberg bestand demnach kein vorrangiger bundesrechtlicher Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII (mehr), sodass in der Folge die Subsidiaritätsklausel des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG nicht greift.
2. Demgegenüber liegen, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, die Tatbestandsvoraussetzungen einer Erstattungspflicht des Freistaats Bayern gegenüber der Klägerin als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe nach Art. 7 Abs. 1 AufnG im vorliegenden Fall unproblematisch vor. Insoweit handelt es sich bei Khader H.B im streitgegenständlichen Zeitraum um eine unbegleitete minderjährige Person im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG. Khader war insoweit auch nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) leistungsberechtigt, da er infolge seiner Asylantragstellung im Besitz einer Aufenthaltsgestattung war. Weiter besaß Khader nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII als ausländischer Jugendlicher, der unbegleitet nach Deutschland eingereist war und bei dem sich weder seine Personensorge- noch andere Erziehungsberechtigte im Inland aufgehalten haben, einen Anspruch auf Inobhutnahme, den die Klägerin ihm gegenüber durch die Unterbringung in einer entsprechenden Einrichtung erfüllt hat. Mithin ist nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 AufnG der Beklagte der Klägerin zur Erstattung der aufgewandten Jugendhilfekosten im durch Art. 8 Abs. 1 AufnG festgelegten Umfang verpflichtet.
Soweit der Beklagte sich demgegenüber auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch die Einfügung „impliziter“ Tatbestandsmerkmale (2.1), den angeblich gewandelten Normkontext durch die Einführung des Verteilverfahrens für unbegleitete minderjährige Ausländer nach den §§ 42a ff. SGB VIII (2.2) sowie auf verschiedene Auslegungshilfen, FAQs, Arbeitsgruppenpapiere sowie „Punktuationen“ beruft (2.3), kann er damit gegenüber dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht durchdringen.
2.1 Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Herstellung eines „Gleichklangs“ mit § 89d SGB VIII dergestalt, dass der Kostenerstattungsanspruch sowohl einen zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der unbegleiteten Einreise des minderjährigen Ausländers und der Jugendhilfegewährung erfordert bzw. bei einer länger als drei Monate andauernden zeitlichen Unterbrechung der Jugendhilfegewährung nicht mehr besteht, lässt sich mit den methodisch anerkannten Auslegungstopoi nicht begründen. Sie folgt insbesondere nicht aus dem systematischen Zusammenhang zwischen der bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII und der landesrechtlichen Erstattungsnorm des Art. 7 Abs. 1 AufnG unter Berücksichtigung der jeweiligen Normgenese.
2.1.1 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ursprünglichen Fassung von Art. 7 AufnG 2002 regelte § 89d SGB VIII (in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung) bundesrechtlich die Kostenerstattung bei Gewährung von Jugendhilfe nach der Einreise. Nach § 89d Abs. 1 SGB VIII a.F. waren dem örtlichen Jugendhilfeträger vom Land die aufgewandten Jugendhilfekosten zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen diesem Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt der Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Nach § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. galt dabei als Tag der Einreise der Tag des Grenzübertritts, sofern dieser amtlich festgestellt worden war, andernfalls der Tag, an dem der Aufenthalt im Inland erstmals festgestellt wurde bzw., falls es auch hieran gefehlt hatte, der Tag der ersten Vorsprache bei einem Jugendamt. War der Leistungsberechtigte im Ausland geboren und handelte es sich daher um einen unbegleiteten minderjährigen Ausländer bzw. Flüchtling, wurde nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. das nach § 89d Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtige Land auf der Grundlage eines Belastungsvergleichs nach § 89d Abs. 3 Satz 2 a.F. vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Dieses Verfahren diente – insoweit ist der Auffassung des Beklagten zuzustimmen – der Entlastung der in Grenznähe gelegenen Aufgriffsorte bzw. der jeweils örtlich zuständigen Jugendhilfeträger und damit einer bundesweiten Verteilung der Jugendhilfekosten für unbegleitet eingereiste, minderjährige Ausländer.
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII a. F. erwies sich jedoch hinsichtlich verschiedener Fallgruppen als lückenhaft und unzureichend. So stand dem örtlichen Jugendhilfeträger dann kein Kostenerstattungsanspruch zu, wenn er die Monatsfrist zwischen Einreise und Jugendhilfegewährung nicht eingehalten hat, etwa, weil sich die Minderjährigkeit eines unbegleitet eingereisten Flüchtlings erst nach Ablauf der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. herausgestellt hat. Daneben bestand regelmäßig kein bundesrechtlicher Kostenerstattungsanspruch bei einem „nachträglichen Unbegleitetwerden“, wenn der zunächst begleitet ins Bundesgebiet eingereiste Minderjährige von seinen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Bundesgebiet allein zurückgelassen wurde und er deshalb in Obhut genommen werden musste. Schließlich rechneten hierzu auch diejenigen Fälle, in denen nach § 89d Abs. 4 SGB VIII a.F. die Verpflichtung zur Kostenerstattung infolge einer mehr als drei Monate andauernden Unterbrechung der Jugendhilfegewährung entfallen war, wo aber nach der Unterbrechung ein erneuter Jugendhilfebedarf des unbegleiteten Minderjährigen aufgetreten war.
Demgegenüber sah die zunächst aufgrund eines bayerischen Ministerratsbeschlusses vom 12. Mai 1992 ergangenen Verwaltungsvorschrift vom 2. Februar 1993 eine volle Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für asylsuchende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch den Freistaat Bayern ab dem 1. Januar 1993 vor (vgl. hierzu und zum Folgenden den Gesetzentwurf über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [Aufnahmegesetz – AufnG], LT-Drucks. 14/8632 vom 5.2.2002). Da der Bayerische Oberste Rechnungshof in dieser Verwaltungsvorschrift keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung an die öffentlichen Jugendhilfeträger gesehen hatte, wurde mit Art. 7 Abs. 1 des Aufnahmegesetzes eine entsprechende Erstattungsnorm geschaffen, deren Normtext in der Folgezeit unverändert geblieben ist.
2.1.2 Dass es sich bei Art. 7 Abs. 1 AufnG um eine zur bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII komplementäre, in ihren Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen indes eigenständige landesrechtliche Erstattungsnorm handelt, die – um die vollständige Kostenerstattung zu gewährleisten – gerade diejenigen Fallgruppen abdecken soll, die bundesrechtlich von der Kostenerstattungspflicht nicht erfasst waren, zeigte sich insbesondere bei der Ergänzung von Art. 7 AufnG durch Art. 7 Abs. 3 AufnG durch das Gesetz zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes 2012. Nachdem die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung den Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 AufnG, Art. 8 AufnG als vorrangig gegenüber dem bundesrechtlichen Erstattungsanspruch aus § 89d Abs. 1 SGB VIII angesehen hatte, führte dies zu Nachteilen beim bundesweiten Belastungsausgleich nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F.. Als Konsequenz hat der Landesgesetzgeber durch die Einfügung von Art. 7 Abs. 3 AufnG den Nachrang der landesgesetzlichen Erstattungsregelung gesetzlich festgeschrieben (vgl. hierzu und zum Folgenden LT-Drucks. 16/12538 vom 15.5.2012). Danach „sind die Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII für die unbegleiteten minderjährigen Personen im Sinne des Art. 1 AufnG in Bayern, wenn sowohl die Voraussetzungen des § 89d SGB VIII als auch die der Art. 7 und 8 AufnG gegeben sind, über das Kostenausgleichsverfahren nach dem SGB VIII zu erstatten. Nur wenn die Voraussetzungen nach § 89d SGB VIII nicht gegeben sind, greift die Kostenerstattung nach Art. 7 und 8 AufnG“ (LT-Drucks. 16/12538, S. 5; Hervorhebung durch den Senat).
Aus der komplementären Funktion der Kostenerstattungsregelung der Art. 7 und 8 AufnG, durch die die volle Erstattung der Jugendhilfekosten bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern durch den Freistaat Bayern sichergestellt werden sollte, folgt jedoch zwangsläufig, dass die Tatbestandvoraussetzungen des § 89d SGB VIII – also der zeitliche Zusammenhang zwischen unbegleiteter Einreise und Jugendhilfegewährung – ebenso wie das Entfallen des Kostenerstattungsanspruchs nach dreimonatiger Unterbrechung der Jugendhilfegewährung gerade nicht implizite Tatbestandsvoraussetzungen des Erstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG sein können. Andernfalls ließe sich der Regelungszweck der Art. 7, 8 AufnG – die Anordnung einer vollständigen Kostenerstattungspflicht für Jugendhilfekosten, nicht erreichen. Der vom Beklagten im vorliegenden Verfahren wiederholt postulierte „Gleichklang“ von § 89d SGB VIII und Art. 7 Abs. 1 AufnG steht demnach im Widerspruch zum systematischen Verhältnis von bundes- und landesrechtlicher Erstattungsregelung und zur Intention des Landesgesetzgebers. Bei Art. 7 Abs. 1 AufnG handelt es sich daher um eine eigenständige, gerade nicht an die Tatbestandsmerkmale der bundesrechtlichen Norm des § 89d SGB VIII gebundene Erstattungsvorschrift.
2.1.3 Hieran ändert entgegen der Ansicht des Beklagten auch die bundesrechtliche Einführung der vorläufigen Inobhutnahme und des sich daran anschließenden Verteilungsverfahrens für unbegleitete minderjährige Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII mit Wirkung zum 1. November 2015 sowie die hieran anknüpfende Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) nichts. Zwar wurde insoweit bundesrechtlich das bisherige Kostenverteilungsverfahren nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. durch das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme und der anschließenden Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII ersetzt. Gleichwohl erfolgte in diesem Kontext keine Änderung von § 89d Abs. 1 SGB VIII (zur insoweit angeblich „gewandelten Auslegung“ der Bestimmung vgl. nachfolgend 2.2), sodass, ungeachtet des jeweils Kostenerstattungspflichtigen, die verschiedenen Fallgruppen, bei denen keine Kostenerstattung geleistet wird – „schuldlose“ Nichteinhaltung der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nachträgliches „Unbegleitetwerden“, erneutes Auftreten eines Jugendhilfebedarfs nach mehr als dreimonatiger Unterbrechung – nach wie vor bestehen geblieben sind (vgl. hierzu etwa Bohnert/Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand September 2020, § 89d Rn. 11a; Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 12). Folglich ist ausgehend von der beabsichtigten vollständigen Freistellung der öffentlichen Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer weder der Anwendungsbereich noch der Regelungszweck von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch die Gesetzesänderung entfallen.
Demzufolge hat der Landesgesetzgeber durch das Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) auch lediglich den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Einfügung von Art. 10a Abs. 2 AufnG auf vor dem 1. Januar 2018 entstandene Jugendhilfekosten beschränkt. Wenn die Gesetzesbegründung (vgl. LT-Drucks. 17/15589, S. 10 f.) gleichwohl – ohne dass dies Ausdruck im Normtext gefunden hätte – postuliert, dass nach der Abschaffung des bundesweiten Kostenverteilverfahrens kein Erfordernis einer subsidiären landesrechtlichen Kostenerstattung mehr bestehe und der „häufige Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG“ der unverschuldeten Versäumnis der Monatsfrist des § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII durch eine angebliche Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ nicht mehr auftreten könne, da maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Ausschlussfrist nunmehr die Kenntnis des Jugendamts von der unbegleiteten Einreise sein soll, ist dies nicht nachvollziehbar, da die behauptete Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ zur Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sich als unbeachtliche und gegen die eindeutige gesetzliche Regelung verstoßende Verwaltungsauffassung erweist und es – wie insbesondere das vorliegende Verfahrens zeigt – nach wie vor neben dem geschilderten „häufigen Anwendungsfall“ der schuldlosen Fristversäumnis weitere Fallkonstellationen gibt, in denen der subsidiäre Kostenerstattungsanspruch eingreifen muss, will man die Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer freistellen. Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG im „Gleichklang“ mit § 89d SGB VIII lässt sich demzufolge auch nicht mit der Änderung des bundesweiten Verteilverfahrens für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und der nachfolgenden Änderung des Aufnahmegesetzes begründen.
2.2 Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich eine einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG auch nicht aus dem gewandelten Kontext der Erstattungsregelungen, der Dynamik der Rechtsentwicklung sowie der „inneren Kohärenz“ der Erstattungsregelungen herleiten, nach denen angeblich der Bedarf für eine subsidiäre landesrechtliche Kostenerstattungsregelung entfallen sein soll.
Als rechtssystematisch verfehlt erweist sich dabei bereits der Ausgangspunkt, wonach § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB VIII nunmehr – nach angeblich „herrschender Rechtsauffassung“ – so zu lesen sein soll, dass Ausgangspunkt des Fristlaufs – „innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen“ – nicht mehr die eindeutige und normenklare Regelung des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sein soll, sondern stattdessen die „Kenntnis des Jugendamts von der Einreise des unbegleiteten minderjährigen Ausländers“. Diese allein von der Verwaltung, insbesondere wohl des Bundesfamilienministeriums, geprägte Auffassung steht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung und erweist sich daher nicht nur als unverbindlich, sondern überdies, weil gegen die Gesetzesbindung der Verwaltung aus Art. 20 GG verstoßend, als rechtswidrig (so auch Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 6, 12: „rechtswidrig“ und „contra legem“). Reine Verwaltungsanweisungen contra legem können eine Gesetzesänderung durch den hierzu allein berufenen parlamentarischen Gesetzgeber nicht ersetzen, mögen sie auch einer vorgeblichen „Verwaltungsvereinfachung“ geschuldet sein. Nachdem § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unverändert den Fristlauf für die Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d Abs. 1 SGB VIII regelt, ist die Verwaltung verpflichtet, die geltende gesetzliche Regelung anzuwenden.
Mit einer normtextkonformen Anwendung von § 89d Abs. 1 SGB VIII entfällt jedoch zugleich die wiederholt vom Beklagten vorgetragene Notwendigkeit einer „gewandelten Auslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG, da der behauptete Bedeutungsverlust der subsidiären Kostenerstattungsregelung durch das Entfallen des „Hauptanwendungsfalls“ durch die „geänderte Rechtsauffassung“ zu § 89d Abs. 1 SGB VIII tatsächlich nicht eingetreten ist. Eine vermeintliche Verwaltungspragmatik vermag geltendes Recht nicht zu derogieren. Für die vom Beklagten postulierte einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG bleibt demnach kein Raum.
2.3 Soweit sich der Beklagte schließlich auf Vollzugsbekanntmachungen, Auslegungshinweise, FAQs, „Postulationen“ und Ergebnisse von Arbeitsgruppenbesprechungen beruft, sind diese, wie das Verwaltungsgericht zutreffend herausgearbeitet hat, für die Rechtsprechung unverbindlich. Sie verstoßen, wie vorstehend dargestellt, gegen die bestehende gesetzliche Regelung und greifen somit unzulässig in die Gesetzgebungskompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers über. Der Verwaltung steht es nicht zu, abweichend von eindeutigen Normtexten eigene Kostenerstattungsregelungen zu generieren. Sie ist vielmehr an die normativen Vorgaben des § 89d Abs. 1 SGB VIII wie auch des Art. 7 Abs. 1 AufnG gebunden.
3. Das Verwaltungsgericht hat folglich, nachdem der nach Art. 8 Abs. 1 AufnG zu bestimmende Umfang des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs vom Beklagten nicht infrage gestellt wurde, den Freistaat Bayern zu Recht zur Kostenerstattung verurteilt. Die Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt daher nach § 154 Abs. 2 VwGO der Beklagte. Der Streitwert bemisst sich für das Berufungsverfahren nach §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Gründe, nach § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.


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