Europarecht

Unzulässigkeit des Asylantrages einer in Rumänien internationalen Schutz genießenden Asylbewerberfamilie

Aktenzeichen  6 K 1113/19 We

Datum:
7.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Weimar 6. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
Normen:
§ 29 Abs 1 Nr 2 AsylvfG 1992
Art 4 EUGrdRCh
Art 33 EURL 32/2013
Art 3 MRK
§ 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Die Asylanträge der Mitglieder einer Familie – darunter fünf Kinder, wobei eines im Kleinkindalter ist -, denen zuvor in Rumänien internationaler Schutz zuerkannt wurde, dürfen gegenwärtig nicht gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Denn nach aktuellen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass solchen Personen – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – die ernsthafte Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK droht.

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Juni 2019 (Az.: 6981615 – 438) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des – gerichtskostenfreien – Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt), mit welchem ihr Asylbegehren als unzulässig abgelehnt wurde.
Die am 13. April 1984 (Kläger zu 1.), am 10. September 1989 (Klägerin zu 2.), am 27. September 2006 (Kläger zu 3.), am 16. Oktober 2007 (Kläger zu 4.) und am 27. Dezember 2011 (Klägerin zu 5.) geborenen Kläger sind irakische Staatsangehörige sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie gehören der Volksgruppe der Araber an. Ihren eigenen Angaben zufolge reisten sie am 6. November 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 6. Dezember 2016 ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragten.
Zuvor war den Klägern in Rumänien im Rahmen des dort durchgeführten Asylverfahrens bereits internationaler Schutz gewährt worden.
Bei seiner ersten Anhörung vor dem Bundesamt am 13. Dezember 2016 gab der Kläger zu 1. an, in Rumänien zwar erkennungsdienstlich behandelt worden zu sein, aber keinen Asylantrag gestellt zu haben.
Bei seiner zweiten Anhörung vor dem Bundesamt am 19. April 2018 korrigierte der Kläger zu 1. jene Angabe dahingehend, dass die Familie in Rumänien doch einen Asylantrag gestellt habe. Sie seien dort auch alle als Flüchtlinge anerkannt worden. Kurz nach der Anerkennung sei die Familie jedoch nach Deutschland weitergereist. Bis dato hätten sie sich in einem Flüchtlingscamp namens „Mayaban“ aufgehalten, wobei sie keine Unterstützung bekommen hätten. Auch hätten die Kinder nicht zur Schule gehen können. Zudem sei der Kläger zu 4., der Sohn …, krank gewesen. Eine medizinische Behandlung habe es jedoch nicht gegeben. Jener Sohn sei bereits im Irak medizinisch behandelt worden. Wegen eines Entführungsvorfalls habe er nämlich psychische Probleme. In Deutschland gehe es dem Kläger zu 4. indes gut. Die Kinder würden in Deutschland die Schule besuchen. Die Klägerin zu 2. besuche einen Sprachkurs.
Die Klägerin zu 2. bestätigte im Wesentlichen die Schilderungen des Klägers zu 1. Außerdem gab sie an, den Irak verlassen zu haben, um den Kläger zu 4. noch besser medizinisch behandeln lassen zu können. Ein Arzt in Schleiz habe eine Traumatisierung des Klägers zu 4. diagnostiziert.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 19. Juni 2019 (Az.: 6981615 – 438) – zugestellt am 11. Juli 2019 – wurden die Anträge der Kläger als unzulässig abgelehnt (Ziff. 2). Es wurde zudem festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 3). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihnen die Abschiebung nach Rumänien oder in einen anderen zu ihrer Rücknahme bereiten oder verpflichteten Staat angedroht (Ziff. 4). Außerdem wurde festgestellt, dass die Kläger nicht in den Irak abgeschoben werden dürfen. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 5). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziff. 6). Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.
Am 22. Juli 2019 haben die Kläger gegen den Bescheid des Bundesamtes Klage erhoben. Sie sind der Ansicht, das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Rumänien würden systemische Schwachstellen aufweisen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh mit sich brächten, so dass eine Überstellung dorthin unmöglich sei. Bei einer Rückkehr nach Rumänien wären sie nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt mit eigenen Mitteln zu bestreiten. Sie könnten sich folglich keine Existenzgrundlage aufbauen.
Die Kläger beantragen,
1. den Bescheid des Bundesamtes vom 19. Juni 2019 (Az.: 6981615 – 438) aufzuheben,
hilfsweise,
2. unter insoweitiger Aufhebung jenes Bescheids die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass bei ihnen Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG mit Blick auf Rumänien vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angegriffenen Bescheids. Außerdem verweist sie auf zuletzt ergangene Urteile der Verwaltungsgerichte Kassel, Cottbus sowie Düsseldorf, die alle davon ausgingen, dass Rumänien nach den aktuell vorliegenden Erkenntnissen hinsichtlich der Behandlung anerkannt Schutzberechtigter nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Behördenakte, auf die Sitzungsniederschrift und auf die Unterlagen zur Situation in Rumänien gemäß der in das Verfahren eingeführten Liste. Alle Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.
I.
Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entschieden werden, da die Beklagte ordnungsgemäß sowie unter Hinweis hierauf nach § 102 Abs. 2 VwGO geladen wurde.
II.
Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2019 (Az.: 6981615 – 438) ist in dem nach § 77 Abs. 1 S. 1 HS. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
1. Die auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG getroffene Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten hält einer rechtlichen Prüfung nicht Stand. Nach der genannten Vorschrift ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist zwar vorliegend mit Blick auf Rumänien der Fall, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm zunächst erfüllt sind. Doch stellt sich die auf jener Basis getroffene Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten im konkreten hiesigen Fall der Kläger als nicht mit Unionsrecht vereinbar dar.
a) Durch Art. 4 GRCh wird – wie auch durch Art. 3 EMRK – jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausnahmslos verboten. Die Norm hat mit ihrer fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – („Jawo“) C-163/17, Rn. 78 –, zit. nach juris). Zu beachten ist ferner, dass die Gewährleistung von Art. 4 GRCh auch nach dem Abschluss des Asylverfahrens, insbesondere im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes, gilt. In ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist es den Mitgliedstaaten deshalb nach Art. 33 Abs. 2 lit. a RL 2013/32/EU verboten, einen Asylantrag trotz Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union als unzulässig abzulehnen, wenn dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat die ernsthafte Gefahr droht, eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu erfahren (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – („Hamed“ und „Omar“) C-540/17 und C-541/17, Rn. 35 –, zit. nach juris). In der Konsequenz müssen Verstöße gegen Art. 4 GRCh im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung daher nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung berücksichtigt werden. Vielmehr führen sie bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung an sich (bezugnehmend auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes: BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 – 1 C 35/19, Rn. 23 –, zit. nach juris). Das Nichtvorliegen der ernsthaften Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt zu sein, bildet insofern eine ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 3.21, Rn. 16 –, zit. nach juris).
Jedoch wird die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit nur dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlauben würde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen sowie eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde, welcher mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 M. S. S./Belgien und Griechenland –, ZAR 2011, 395, 397; EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, zit. nach juris). Die so beschriebene Schwelle ist selbst in Situationen, welche sich durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person kennzeichnen, nicht erreicht, sofern jene Situationen nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, zit. nach juris), also die elementarsten Bedürfnisse „Bett, Brot, Seife“ nicht befriedigt werden können (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 23. April 2020 – A 4 S 721/20, Rn. 5 –, zit. nach juris; OVG Münster, Urteil vom 21. Januar 2021 – 11 A 1564/20.A, Rn. 28 –, zit. nach juris). Es genügt ferner auch nicht, dass anerkannt Schutzberechtigte – im Gegensatz zu Zielstaatsangehörigen – zur Kompensation der Mängel des Sozialsystems des Mitgliedstaats regelmäßig nicht auf familiäre Unterstützung rekurrieren können (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – („Jawo“) C-163/17, Rn. 94 –, zit. nach juris). Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof zuletzt kontinuierlich die „fundamentale Bedeutung“ des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union betont, der die Annahme rechtfertigt, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten im Stande sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – („Jawo“) C-163/17, Rn. 80-82 –, zit. nach juris). Daher hängt die Beurteilung der Frage, ob die so beschriebene, besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, letztlich von sämtlichen Umständen des konkreten Einzelfalles ab (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – („Ibrahim u. a.“) C-297/17 u. a., Rn. 84,– zit. nach juris; BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 – 1 C 35/19, Rn. 27 –, zit. nach juris).
Unter Berücksichtigung der jüngst ergangen, oben zitierten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, mit denen letzterer eine „harte Linie“ vorgegeben hat (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 27. Mai 2019 – A 4 S 1329/19, Rn. 4 f. –, zit. nach juris), muss die Wahrung des Existenzminimums i. S. d. Art. 4 GRCh allein ergebnisbezogen betrachtet werden. Insofern gilt folgender Grundsatz: Lassen sich extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRCh bergen, durch eigene Handlungen (z. B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen Dritter – wobei es sich sowohl um private Dritte als auch um nichtstaatliche Hilfe- oder Unterstützungsorganisationen handeln kann – abwenden, liegt schon keine ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not vor, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen nach sich ziehen kann. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Leistungen vor Ort vermeintlich tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen dabei für international Schutzberechtigte auch tatsächlich bestehen und zugänglich sind. Darüber hinaus müssen sie von den Schutzberechtigten auch hinreichend verlässlich sowie in dem gebotenen Umfang dauerhaft in Anspruch genommen werden können. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist es auch unerheblich, dass auf die betreffenden Leistungen in der Regel kein durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 3.21, Rn. 25 –, zit. nach juris).
In Anbetracht der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten vermag der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse in einem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. im Kapitel VII der RL 2011/95/EU gerecht werden, per se nicht auszureichen, um die Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 lit. a RL 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis einzuschränken, solange die Schwelle der Erheblichkeit des Art. 4 GRCh nicht erreicht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 – 1 C 35/19, Rn. 24 m. w. N. –, zit. nach juris). Denn insofern darf jeder Mitgliedstaat annehmen, dass sich die anderen Mitgliedstaaten an das geltende Unionsrecht und die dort anerkannten Grundrechte halten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht bei der Anwendung des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU, was selbst dann gilt, wenn der Schutzberechtigte in dem Schutz gewährenden Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen bezieht, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden und der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Eine Ausnahme hiervon kann nur in den Fällen in Betracht kommen, in denen das gemeinsame Europäische Asylsystem in dem Schutz gewährenden Mitgliedstaat auf größere praktische Funktionsstörungen trifft und eine Person dadurch wirklich ernsthafte Gefahr läuft, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh zu erfahren (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 25 –, zit. nach juris).
Im Rahmen der Gefahrenprognose, ob eine Verletzung des Art. 4 GRCh bei Rücküberstellung in den Schutz gewährenden Mitgliedstaat droht, stellt der Europäische Gerichtshof auf das Vorliegen einer ernsthaften Gefahr („serious risk“) ab, was auch dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“) in seiner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im nationalen Recht entspricht (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 27 –, zit. nach juris).
Das Gericht muss sich die volle Überzeugung i. S. d. § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO von der Richtigkeit sowohl der Prognosebasis als auch der anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu treffenden Prognose verschaffen (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 28 m. w. N. –, zit. nach juris). Sodann hat es auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben sowie im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob es im Zielland entweder systemische oder allgemeine Schwachstellen gibt, welche gerade die rücküberstellte Person als anerkannten Flüchtling der Gefahr extremer materieller Not i. S. v. der Art. 4 GRCh aussetzen würde (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 29 –, zit. nach juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe, stellt sich die Unzulässigkeitsentscheidung der Beklagten nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegend als rechtswidrig dar, weil den Klägern bei ihrer Rücküberstellung nach Rumänien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh bzw. des Art. 3 EMRK droht. Das Gericht ist zu der vollen Überzeugung nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO gelangt, dass die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in Rumänien in eine Situation extremer materieller Not geraten werden und es ihnen dadurch für einen längeren Zeitraum nicht möglich sein wird, ihre elementarsten Bedürfnisse – „Bett, Brot, Seife“ – zu befriedigen. Die grundsätzliche Vermutung, dass in Rumänien die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechtecharta sichergestellt ist, wird insofern widerlegt.
Dabei geht das Gericht von folgenden tatsächlichen Umständen aus:
aa) Grundsätzlich haben anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte in Rumänien Zugang zu Bildung, Wohnungen, Arbeit, Krankenversorgung und Sozialleistungen. Die Möglichkeit des faktischen Zugangs ist aber nicht überall im Land gleich gegeben. Es werden auch Integrationsprogramme, vor allem mit Fokus auf die kulturelle Orientierung und den Spracherwerb, angeboten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 14. Juni 2019, S. 12 ff.). Antragsteller mit Flüchtlingsstatus bekommen zunächst eine dreijährige Aufenthaltsbewilligung, subsidiär Schutzberechtigte eine zweijährige, die jeweils problemlos verlängert werden können. Ab einem rechtmäßigen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren in Rumänien kann auch eine permanente Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn weitere Voraussetzungen wie z. B. Sprachkenntnisse, Krankenversicherung und Unterkunft, erfüllt sind (BFA, a. a. O; AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S. 148, 150 ff.).
Anerkannte Schutzberechtigte können nach ihrer Anerkennung, wenn sie über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen und an einem Integrationsprogramm teilnehmen, jedenfalls für sechs weitere Monate in den regionalen Unterbringungszentren verbleiben. Ferner ist in Ausnahmefällen eine Verlängerung um weitere sechs Monate möglich. Zwar müssen sie hierfür grundsätzlich – vulnerable Personen ausgenommen – eine Miete von 1,40 € pro Tag im Winter und 1,20 € pro Tag im Sommer entrichten. Doch gibt es Berichte, wonach für die Unterbringungszentren in Timișoara, Şomcuta Mare, Rădăuţi, Galaţi und Giurgiu in den ersten drei Monaten nach der Anerkennung keine Miete gefordert wird. Darüber hinaus scheint die NGO Jesuit Refugee Service Romania über das Projekt „A New House“ in allen Regionalzentren zumindest teilweise die dann noch anfallenden Mietkosten zu übernehmen (AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S. 162 ff.). Wie rumänische Staatsbürger, haben die anerkannten Schutzberechtigten außerhalb der Unterbringungszentren Zugang zum Sozialwohnungsprogramm. Kann keine Sozialwohnung zur Verfügung gestellt werden, gewährt der Staat für maximal ein Jahr einen Zuschuss von bis zu 50 % für die Anmietung einer sonstigen Wohnung (AIDA a. a. O., S. 164).
Was Sozialleistungen anbelangt, wird den an einem Integrationsprogramm teilnehmenden international Schutzberechtigten eine monatliche Leistung von ca. 110 € innerhalb eines Jahres sowie ein Sprachkurs zur Verfügung gestellt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Rumänien, Stand: 14. Juni 2019, S. 13).
Es gibt einen grundsätzlich einschränkungslosen Zugang zum Arbeitsmarkt für anerkannte Schutzberechtigte. Außerdem erfolgt mit der Teilnahme am Integrationsprogramm automatisch eine Registrierung letzterer als Arbeitssuchende bei der rumänischen Arbeitsagentur. Gleichwohl lassen sich zum Teil praktische Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche konstatieren. So fehlt es vielen international Schutzberechtigten an nachweisbaren Schul-, Berufs- oder Studienabschlüssen, weshalb sie von bestimmten Positionen ausgeschlossen sind. Auch wird vor allem die rumänische Sprache nicht ausreichend beherrscht (AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S.165 ff.).
Die gesundheitliche Versorgung von anerkannten Schutzberechtigten ist prinzipiell gewährleistet. Der Anspruch auf eine Krankenversicherung besteht zu den gleichen Bedingungen wie für rumänische Staatsbürger. Psychische Krankheiten, darunter auch Traumata, werden behandelt. Bei der Überwindung von dennoch auftretenden praktischen Schwierigkeiten hinsichtlich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung sind in erster Linie NGOs behilflich. Die Kosten, welche erwerbslose Anerkannte für die staatliche Krankenversicherung aufbringen müssen, betragen 44 € pro Monat. Es gibt auch Berichte, wonach eine jährliche Versicherung für einen Betrag von 265 € zu haben sein soll. Teilweise können die Kosten für die Krankenversicherung von den NGOs übernommen werden (AIDA, Country Report Romania, Update 2020, S. 175 f.).
Zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie lässt sich für Rumänien Folgendes festhalten: In Rumänien wurden bislang 2.873.875 COVID-19 Infektionen erfasst, bei 65.210 Corona-bedingten Todesfällen (Stand: 12. April 2022), was einer Infektionsrate von 15,02 % sowie einer Todes- bzw. Letalitätsrate von 2,27 % entspricht. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen hatte sich seit einem Hoch Ende März 2021 deutlich reduziert und lag dann zeitweise bei unter 100 Fällen pro Tag. Derzeit beträgt die Anzahl der Neuinfektionen 1.026 Fälle pro Tag. Im Durchschnitt der letzten 7 Tage wurden 1.778 Neuinfektionen pro Tag erfasst. Innerhalb der letzten Woche wurden in Rumänien 65,1 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gemeldet (sog. „7-Tage-Inzidenz“, https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/rum%C3%A4nien/, Stand: 12. April 2022). Die Kurve der verabreichten Impfungen war bislang stetig ansteigend. Etwa 42,7 % der Bevölkerung sind mittlerweile zumindest einmal geimpft (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1203308/umfrage/impfstoffabdeckung-der-bevoelkerung-gegen-das-coronavirus-nach-laendern/, Stand: 12. April 2022).
Da die Zahl der Corona-Infektionen in Rumänien weiterhin hoch ist, wird nach wie vor zur Beachtung der Hygiene-Regeln und zum Tragen von Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln und geschlossenen Räumen, in denen sich mehrere Personen aufhalten, aufgerufen. Inländische Reisebeschränkungen gibt es derzeit jedoch nicht (vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/rumaenien-node/rumaeniensicherheit/210822, Stand: 12. April 2022).
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie spiegeln sich in einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2020 von 3,9 % wieder. Für 2021 jedoch wird ein Wachstum von 5,1 % erwartet. Zuletzt ließ sich eine allmähliche Erholung der rumänischen Wirtschaft von den Auswirkungen der Corona-Pandemie ausmachen. Allerdings bremsen die Sicherheitsmaßnahmen immer noch die Industrieproduktion. Zur Kompensation unterstützt der rumänische Staat die Wirtschaft mit Zuschüssen, Kredithilfen und Kurzarbeitergeld (vgl.VG Ansbach, Beschluss vom 23. Juni 2021 – 17 S 21.50064, BeckRS 2021, 16832, Rn. 38).
bb) Vor diesem Hintergrund nimmt ein Großteil der Instanzrechtsprechung an, dass die derzeitigen Lebensverhältnisse in Rumänien mit Blick auf den in diesem Zusammenhang geltenden Mindestmaßstab „Brot, Bett und Seife“ alleinstehenden, arbeitsfähigen jungen Männern zugemutet und diese rücküberstellt werden können (vgl. etwa VG Ansbach, Beschluss vom 23. Juni 2021 – 17 S 21.50064, BeckRS 2021, 16832, Rn. 42; VG München, Beschluss vom 27. November 2020 – M 1 S 20.50531 –, zit. nach juris; VG Würzburg, Beschluss vom 7. Oktober 2019 – W 8 S 19.50715 –, zit. Nach juris). Soweit aktuelle Entscheidungen, etwa der Verwaltungsgerichte Kassel (VG Kassel, Urteil vom 31. Mai 2021 – 1 K 973/19.KS.A, 7759687 –, zit. nach juris), Cottbus (VG Cottbus, Urteil vom 1. April 2021 – 5 K 1582/17.A –, zit. nach juris) und Düsseldorf (VG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Januar 2021 – 12 L 3/21.A –, zit. nach juris), in den Blick genommen werden, gilt für diese nichts anderes. Keine jener Entscheidungen betrifft schutzbedürftige Personen oder einen Familienverband mit mehreren vulnerablen Personen (vgl. diesbezüglich VG München, a. a. O., Rn. 25: dort werden jene explizit ausgenommen; VG Ansbach, Beschluss vom 23. Juni 2021 – 17 S 21.50064, BeckRS 2021, 16832, Rn. 42: Begrenzung auf „anerkannte, arbeitsfähige, alleinlebende, im Wesentlichen gesunde Erwachsene“).
Genau um solche geht es aber hier. Die Kläger bilden einen Familienverband bestehend aus einem sechszehnjährigen Kind, einem fünfzehnjährigen Kind, einem achtjährigen Kind, einem vierjährigen Kind sowie einem zweijährigen Kleinkind, wobei die letzteren beiden in jeweils eigenen Verfahren verhandelt werden. Angesichts jener Konstellation bestehen nach Ansicht der Kammer ernste Zweifel daran, dass es den Klägern als Schutzberechtigten unter den gegebenen schwierigen Bedingungen bei einer Rückkehr nach Rumänien gelingt, durch eine hohe Eigeninitiative – wie dies von jungen alleinstehenden Männern erwartet wird – selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt zu sorgen (vgl. explizit VG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Juni 2018 – 22 L 5230/17.A, Rn. 52 –, zit. nach juris; VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 64 –, zit. nach juris).
Dabei gilt es an dieser Stelle zu beachten, dass die besonderen staatlichen Leistungen für anerkannte Flüchtlinge schon aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr zur Verfügung stehen und Rückkehrer deshalb auf die allgemeinen staatlichen Hilfen angewiesen sind. Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung können anerkannte Schutzberechtigte dabei jedoch nicht in Anspruch nehmen. Der Bezug solcher setzt nämlich voraus, dass in den letzten 24 Monaten vor der Inanspruchnahme mindestens 12 Monate Beiträge bezahlt worden sind (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, S. 41 f.). Die Sozialhilfe beträgt für eine Person höchstens 142 Lei im Monat (ca. 32 Euro).
Bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen lässt sich indes eine erhebliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis feststellen. So unterscheidet sich der tatsächliche Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Unterkunft, Sicherstellung von Ausbildung und Sozialhilfe je nach Landesteil und hängt ferner vom Grad des Bewusstseins verschiedener öffentlicher und privater Akteure, welche die Verantwortung für die Sicherstellung dieses Zugangs tragen, ab. Es gibt keine Gemeinde, die zielgerichtete Unterstützungsprogramme oder Integrations- und Inklusionsprogramme für Flüchtlinge anbietet. Zwar besteht bspw. theoretisch ein Anspruch auf Unterbringung in Sozialwohnungen. Doch hat in der Praxis kaum jemand auf diese Weise eine Unterkunft erhalten. Der tatsächliche Zugang zu einer Ausbildung ist ebenfalls schwierig. Schon der Schulbesuch für Kinder wirft oft Probleme auf, weil nicht wenige Schulen die Aufnahme von Kindern Schutzsuchender verweigern. Auch Diskriminierungen durch Lehrer und Mitschüler kommen häufig vor. In Städten wie Bukarest und Timisoara kam es sogar zur zeitweiligen Weigerung von Schulen, Flüchtlinge einzuschreiben. Schließlich stößt auch der eigentlich rechtlich garantierte Zugang zum Arbeitsmarkt in der Praxis wegen des Mangels an Arbeitsplätzen, niedrigen Löhnen, Sprachbarrieren und Problemen bei der Anerkennung ausländischer Universitäts- oder Berufsabschlüsse auf erhebliche Schwierigkeiten mit der Folge von Arbeitslosigkeit oder irregulären Arbeitsverhältnissen. In der Konsequenz ist es für Schutzberechtigte nicht einfach, überhaupt einen legalen Arbeitsvertrag zu erhalten, wobei steuerliche Erwägungen teilweise ebenso eine Rolle spielen wie der Widerwillen von Arbeitgebern, Flüchtlinge anzustellen. Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang zur öffentlichen Krankenversorgung, welcher oft mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden und regional sehr unterschiedlich ausgestaltet ist (vgl. zum Ganzen ACCORD, Anfragebeantwortung Rumänien vom 16. März 2020; AIDA, Country Report: Romania, Update 2020, S. 175 f.; VG Köln, Beschluss vom 30. November 2020 – 20 L 1980/20.A, BeckRS 2020, 38111, Rn. 5; VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 56-62 –, zit. nach juris).
Nach wie vor gilt, dass Informationen zur Frage, in welchem Umfang es Schutzberechtigten in der Vergangenheit gelungen ist, sich in Rumänien eine Lebensgrundlage aufzubauen, nicht vorliegen (vgl. VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 65 –, zit. nach juris).
Doch selbst unabhängig vom Problem des effektiven Zugangs zu allgemeinen staatlichen Hilfen genügen diese alleine objektiv nicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, was besonders für eine mehrköpfige Familie gelten muss (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, S. 33 ff.; VG Köln, Beschluss vom 30. November 2020 – 20 L 1980/20.A, BeckRS 2020, 38111, Rn. 5; VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A, Rn. 64 –, zit. nach juris). Deshalb sind Schutzberechtigte letztlich darauf angewiesen, durch eigene Erwerbstätigkeit für ihren Unterhalt zu sorgen. Dabei ist es zwingend notwendig, einen legalen Arbeitsplatz zu finden, um Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erlangen. Schon vor den o. g. negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie war die Unterhaltssicherung durch eigene legale Erwerbstätigkeit in Rumänien als ärmstem Land der EU eine enorme Herausforderung. In Anbetracht des momentan wieder stark wütenden Infektionsgeschehens erscheint dies praktisch unmöglich, zumal es im hiesigen Fall – dies sei an jener Stelle nochmals betont – nicht nur um die Existenz des Klägers zu 1., sondern auch der übrigen Familienmitglieder geht (vgl. Europäische Kommission, Ihre Rechte der sozialen Sicherheit in Rumänien, S. 34).
Vor dem geschilderten Hintergrund gilt es somit zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 2. sich zumindest in der besonders schwierigen Anfangszeit zunächst sowohl um die grundsätzlich schulfähigen als auch um die noch kleineren Kinder wird kümmern müssen. Denn, wie oben dargelegt, kann es gerade bei der Organisation eines Schulplatzes für die Kinder zu Problemen und zeitlichen Verzögerungen kommen. Insofern wird es der Klägerin zu 2. aller Voraussicht nach in dieser ohnehin schwierigen Frühphase nicht möglich sein, durch eine eigene Erwerbstätigkeit etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beizutragen. Darüber hinaus gilt es auch zu beachten, dass der Kläger zu 1. im ehemaligen Herkunftsland als selbstständiger Schweißer tätig und die Klägerin zu 2. Hausfrau war. Das Berufsfeld des Klägers zu 1. ist ein sehr spezielles Handwerk, so dass nicht zu erwarten steht, dass er ohne jegliche Sprachkenntnisse auf Anhieb in Rumänien darin und noch dazu gegen eine Bezahlung, die zur Versorgung der gesamten siebenköpfigen Familie ausreicht, wird arbeiten können. Beide Elternteile verfügen damit zugleich weder über Kenntnisse oder Erfahrungen im Bereich Landwirtschaft noch im Bereich Gastronomie. Gerade bei letzteren handelt es sich aber um genau diejenigen Berufsfelder, die für Schutzberechtigte ohne jegliche Sprachkenntnisse – wie die hiesigen Kläger – noch am ehesten in Frage kommen. Angesichts dessen bieten sich dem erkennenden Gericht in der Gesamtschau keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass es dem Kläger zu 1. im Falle einer Rückkehr nach Rumänien – und dazu noch in der gebotenen Kürze der Zeit – gelänge, eine entsprechende Erwerbstätigkeit zu finden, um sowohl die Unterbringung als auch den Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen. Sowohl der Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. werden wegen der beschriebenen Umstände sowie der familiären Situation daran gehindert sein, sich den schwierigen Lebensbedingungen in Rumänien zu stellen.
b) Sofern die Beklagte – auch in anderen, vor dem hiesigen Gericht geführten Verfahren – den Standpunkt vertritt, die vor allem vom Verwaltungsgericht Aachen in der oben zitierten Entscheidung dargelegten Umstände (VG Aachen, Urteil vom 3. Juli 2020 – 1 K 373/18.A –, zit. nach juris) würden nach aktuellen Erkenntnissen nicht mehr vorliegen, vermag dies nicht zu überzeugen. Erkenntnisquellen oder weitergehenden entsprechenden Vortrag, um dies zu belegen, führte sie bislang jedenfalls nicht an. Der bloße Verweis im Schriftsatz vom 8. Oktober 2021 etwa auf das bereits genannte, im Mai letzten Jahres ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel (VG Kassel, Urteil vom 31. Mai 2021 – 1 K 973/19.KS.A, 7759687 –, zit. nach juris) reicht in diesem Zusammenhang hingegen nicht aus. Denn diesbezüglich gelten die obigen Darlegungen: Einerseits betrifft die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Kassel einen jungen, alleinstehenden Mann aus Eritrea (VG Kassel, a. a. O., S. 2). Andererseits teilt auch das Gericht in seiner Entscheidung dort keine anderen Erkenntnisquellen mit, sondern beruft sich vielmehr auf andere jüngst ergangene Rechtsprechung, die wiederum ersichtlich ebenfalls nur junge Männer und gerade keine vulnerablen Personen zum Verfahrensgegenstand hat (VG Kassel, a. a. O., S. 13). Auch verfängt der Einwand des Verwaltungsgerichts Kassel nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen sei während der Pandemie verkündet worden (VG Kassel, a. a. O., S. 14). Diese hält nämlich auch gegenwärtig noch an. Schließlich zeigen die bisherigen Erwägungen, dass es bei der Frage, ob vulnerable Personen – wie sie im hiesigen Fall betroffen sind – sich den schwierigen Bedingungen in Rumänien ebenfalls stellen können, in erster Linie auf die tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen vor Ort ankommt. Diese wurden und werden zwar von der Corona-Pandemie mitbeeinflusst, sind aber nicht allein auf jene zurückzuführen.
Aktuellere Entscheidungen, die geeignet wären, jene Beurteilung – also konkret im Hinblick auf einen Familienverband mit mehreren vulnerbalen Personen, darunter ein Kleinkind – in Zweifel zu ziehen, liegen soweit ersichtlich nicht vor.
In der Gesamtschau der tatsächlichen Umstände und insbesondere unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Kläger ist es zur vollen Überzeugung des Gerichts i. S. d. § 108 VwGO im hiesigen Fall beachtlich wahrscheinlich, dass die siebenköpfige Familie in eine wirtschaftlich und sozial aussichtlose Lage geraten wird. Nach alledem ist die Rückkehr nach Rumänien für die Familie damit nicht zumutbar. Denn selbst die mit einer kurzfristigen Obdachlosigkeit für einen solchen Familienverband verbundenen physischen und gerade für die Kinder auch psychischen gesundheitlichen Nachteile bergen die Gefahr einer existenziellen Notlage (vgl. im Ergebnis ebenso Beschluss der Kammer vom 29. Oktober 2021 – 6 E 1148/21 We –, S. 11 f.; in diesem Sinne bereits VG Magdeburg, Urteil vom 14. Oktober 2019 – 8 A 44/19, Rn. 39 –, zit. nach juris: dort zu Bulgarien; VG Meiningen, Urteil vom 2. November 2021 – 2 K 793/20 Me –, S. 10 und zuletzt Beschluss vom 18. August 2021 – 2 E 947/21 Me –, S. 12).
2. Eine Umdeutung der auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG basierenden Unzulässigkeitsentscheidung scheidet aus. Denn im Fall der Kläger sind die Voraussetzungen eines anderen Unzulässigkeitstatbestands nicht erfüllt (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 – 1 C 15/18, Rn. 40 –, zit. nach juris).
3. Die Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG (Ziff. 3) ist verfrüht ergangen, weil das Bundesamt nach Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung verpflichtet ist, den Asylantrag der Kläger materiell zu prüfen und im Zuge dessen auch über Abschiebungsverbote zu entscheiden hat.
4. Die Abschiebungsandrohung in Ziff. 4 des angegriffenen Bescheids stellt sich als rechtswidrig dar, da der Asylantrag der Kläger, wie oben dargelegt, nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig hätte abgelehnt werden dürfen. In der Konsequenz entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
III.
Die Kostenentscheidung rechtfertigt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83 b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Höhe des Gegenstandswertes folgt aus § 30 Abs. 1 RVG.


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