Aktenzeichen M 10 K 18.6271
Leitsatz
1. Ein dringender Fall, der eine Verkürzung der Ausreisefrist rechtfertigt, ist nur in den Fällen denkbar, in denen das öffentliche Interesse an der Ausreise des Unionsbürgers aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit derart schwer wiegt, dass es das Interesse des Ausreisepflichtigen an der geordneten Abwicklung seines Aufenthalts erheblich überwiegt. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU darf auch dann ausgesprochen werden, wenn der Betroffene die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU nicht (mehr) erfüllt. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2018 wird insoweit aufgehoben, als in Ziffer 3, Satz 2 eine Ausreisefrist von drei Tagen nach Haftentlassung gesetzt worden ist.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu 9/10, die Beklagte zu 1/10 zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Gründe
Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Klage hat insoweit Erfolg, als in Ziffer 3, Satz 2 des angefochtenen Bescheids vom 4. Dezember 2018 eine Ausreisefrist von drei Tagen nach Haftentlassung gesetzt worden ist. In dieser Hinsicht ist die Klage zulässig und begründet. Da der angegriffene Bescheid diesbezüglich rechtswidrig ist, war er insoweit aufzuheben. Im Übrigen bleibt die zulässige Klage ohne Erfolg, da sie nicht begründet ist.
1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere genügt die Klage den Anforderungen des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO, auch wenn der Kläger zuletzt lediglich eine Anschrift bei der Caritas, unter der ihm seine Post zugestellt werden kann, nicht aber eine ladungsfähige Anschrift, unter der er tatsächlich wohnhaft ist, angegeben hat.
Zwar ist grundsätzlich nach § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO für die Zulässigkeit der Klage die Angabe der ladungsfähigen Anschrift erforderlich. Um den Rechtsweg nicht unzumutbar zu erschweren (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz), kann von diesem Erfordernis im Einzelfall aber abgesehen werden. Solche Ausnahmekonstellationen liegen unter anderem dann vor, wenn der Kläger wegen Obdachlosigkeit keinen Wohnort hat oder aber schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen bestehen (vgl. hierzu: Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 82 Rn. 4 m.w.N.).
Vorliegend ist die Angabe der ladungsfähigen Anschrift ausnahmsweise entbehrlich, da der Kläger nach Auskunft seines Bevollmächtigten obdachlos ist. Die Benennung der Anschrift der Caritas, unter der der Kläger postalisch erreichbar ist, ist demnach ausreichend.
2. Die Klage ist insoweit begründet, als in Ziffer 3, Satz 2 des angefochtenen Bescheids vom 4. Dezember 2018 eine Ausreisefrist von drei Tagen nach Haftentlassung gesetzt worden ist. Insofern ist der Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Im angefochtenen Bescheid ist nicht begründet worden, warum im konkreten Fall von der gesetzlich grundsätzlich vorgesehenen Ausreisefrist von mindestens einem Monat abgewichen und eine Ausreisefrist von lediglich drei Tagen gesetzt worden ist. Bei einer Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU muss die Ausreisefrist nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU außer in dringenden Fällen mindestens einen Monat betragen.
Ein dringender Fall ist nur in den Fällen denkbar, in denen das öffentliche Interesse an der Ausreise des Unionsbürgers aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit derart schwer wiegt, dass es das Interesse des Ausreisepflichtigen an der geordneten Abwicklung seines Aufenthalts erheblich überwiegt. Beispielsweise ist dies anzunehmen bei einer akuten Gefahr der Begehung von Straftaten vor Ablauf der Ausreisefrist, bei aktuell bevorstehendem Untertauchen des Betroffenen oder im Fall des Scheiterns des Vollzugs der Ausreisepflicht in der Vergangenheit (vgl. Kurzidem in BeckOK, Ausländerrecht, 21. Ed. 1.2.2018, § 7 FreizügG/EU Rn. 6).
Hier hat die Beklagte nicht dargelegt, warum sie von einem solchen dringenden Fall ausgegangen ist. Sie hat im Bescheid lediglich pauschal ausgeführt, dass die gesetzte Ausreisefrist in einem angemessenen Verhältnis zur bisherigen Aufenthaltsdauer des Klägers im Bundesgebiet stehe. Dies genügt jedoch zur Begründung eines dringenden Falles nicht, so dass es auf die Frage, ob die gesetzte Frist von drei Tagen zur Regelung der Angelegenheiten des Klägers in Deutschland angemessen ist, nicht mehr ankommt.
Abgesehen davon hat die Beklagte den Beginn der Frist an die Haftentlassung des Klägers geknüpft, ohne den Sofortvollzug anzuordnen. Sie hat für den Fristbeginn gerade nicht auf die Unanfechtbarkeit ihrer Entscheidung abgestellt.
Angesichts dessen ist die gesetzte Ausreisefrist von drei Tagen nach Haftentlassung rechtswidrig; der Bescheid war lediglich insoweit – d. h. bezüglich Ziffer 3, Satz 2 – aufzuheben. Die vollständige Aufhebung von Ziffer 3 des angegriffenen Bescheids war nicht erforderlich, da die gesetzte Ausreisefrist in Ziffer 3, Satz 2 von den übrigen Regelungen in Ziffer 3 rechtlich abgrenzbar und damit abtrennbar ist (für eine rechtliche Trennbarkeit von Ausreisefrist und Abschiebungsandrohung: Dienelt in Bergmann/ders., Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 7 FreizügG/EU Rn. 37). Zwar nimmt Satz 3 der Ziffer 3 auf Satz 2 insoweit Bezug, als an die nicht fristgerechte Ausreise angeknüpft wird. Satz 3 der Ziffer 3 wird daher durch die Aufhebung von Satz 2 zunächst gegenstandslos, weil der Bezug fehlt. Dies steht der rechtlichen Teilbarkeit der Regelungen im Ergebnis aber nicht entgegen, da Satz 3 der Ziffer 3 inhaltlich wieder aufgefüllt werden kann, sobald eine neue Ausreisefrist gesetzt wird.
3. Im Übrigen ist die Klage nicht begründet. Der angefochtene Bescheid vom 4. Dezember 2018 ist – abgesehen von Ziffer 3, Satz 2 – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
b) Der streitgegenständliche Bescheid ist formell rechtmäßig.
aa) Die Beklagte war für den Erlass des Bescheids zuständig.
Die sachliche Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 71 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz i.V.m. § 1 Nr. 1, § 2 Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht (ZustVAuslR) i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Gemeindeordnung.
Die örtliche Zuständigkeit folgt im Zeitpunkt des Bescheidserlasses aus § 6 Abs. 1 Satz 1 ZustVAuslR, da als gewöhnlicher Aufenthaltsort im Sinne dieser Vorschrift auch der Ort der Haftanstalt anzusehen ist (vgl. VG München, U.v. 31.10.2001 – M 23 K 01.1446 – BeckRS 2001, 26599; BayVGH, U.v. 9.4.1997 – 10 B 96.2986 – BeckRS 1997, 19639; vgl. zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts, wenn auch nach hamburgischem Landesrecht: BVerwG, U.v. 4.6.1997 – 1 C 25/96 – NVwZ-RR 1997, 751 (752); so auch: Marx in ders., Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 6. Auflage 2017, § 7 Rn. 193, außer es bestehe eine enge familiäre Bindung an den früheren Wohnsitz).
bb) Verfahrensfehler liegen im Ergebnis nicht vor, da die nach Art. 28 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) notwendige Anhörung des Klägers zwar nicht vor Bescheidserlass erfolgt, im gerichtlichen Verfahren aber nachgeholt worden ist (Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG).
c) Der angegriffene Bescheid ist auch materiell rechtmäßig; die Beklagte hat in Ziffer 1 die Verlustfeststellung in zutreffender Weise auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausgesprochen.
Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
aa) Der Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU steht nicht entgegen, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung wohl nicht als freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 2 Abs. 1 FreizügG/EU anzusehen war.
Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1, Abs. 2 FreizügG/EU sind vorliegend nach Aktenlage nicht erfüllt, da der Kläger seit Juli 2016 ohne feste Arbeit war und seinen Lebensunterhalt wohl in erster Linie mit Gelegenheitsarbeiten, Diebstählen und über Bekannte bestritt. Ein Freizügigkeitsrecht folgt mangels Vorliegens eines Kurzaufenthalts auch nicht aus § 2 Abs. 5 FreizügG/EU (a.A. wohl: BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – BeckRS 2015, 44249).
Dies ist für die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU jedoch unschädlich, da diese Vorschrift den Bestand des Freizügigkeitsrechts tatbestandlich nicht voraussetzt. Eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU darf auch dann ausgesprochen werden, wenn der Betroffene die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU nicht (mehr) erfüllt (Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 6 FreizügG/EU Rn. 8; Dienelt, a.a.O., § 6 FreizügG/EU Rn. 8; in diese Richtung auch: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: März 2017, § 6 FreizügG/EU Rn. 6 und 9; a.A.: BayVGH, B.v. 18.3.2015, a.a.O.; Kurzidem, a.a.O., § 6 FreizügG/EU Rn. 2).
Zwar ergibt sich dieses Verständnis der Norm nicht aus Wortlaut und Systematik der Vorschrift. Der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist insoweit nicht eindeutig, da zwar auf das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU Bezug genommen wird, dieses Recht aber nicht als tatbestandliche Voraussetzung formuliert wird. Das systematische Zusammenspiel mit den Vorschriften in § 2 Abs. 7 und § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, die eine Verlustfeststellung im Fall des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ermöglichen, würde eher dafür sprechen, dass eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU den Bestand des Freizügigkeitsrechts voraussetzt.
Aber nach Sinn und Zweck dieser Vorschriften setzt eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht voraus, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU besteht. § 2 Abs. 7 und § 5 Abs. 4 FreizügG/EU haben eine andere Zielsetzung als § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Sie sind Rechtsgrundlagen für eine Verlustfeststellung wegen des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, während § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die Verlustfeststellung wegen eines Verstoßes gegen den „ordre public“ in den Blick nimmt. Nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist gesetzlich ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot in der Bundesrepublik Deutschland zwingend vorgesehen, § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Wenn man den Bestand des Freizügigkeitsrechts als tatbestandliche Voraussetzung für die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU fordern würde, hätte dies Ergebnisse zur Folge, die system- und sachwidrig erscheinen: Gegenüber einem Straftäter, der nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigt ist, könnte vor Ablauf von 5 Jahren rechtmäßigen Aufenthalts, eine Verlustfeststellung nur auf der Grundlage des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ausgesprochen werden. Dies hätte zur Folge, dass das Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU nicht greift. Der straffällige Unionsbürger stünde in dieser Konstellation besser als ein freizügigkeitsberechtigter Straftäter, der nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU behandelt wird, obwohl er eine im Ausgangspunkt „schwächere“ Stellung hat. Gegenüber einem Straftäter, der nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigt ist, könnte nach Ablauf von 5 Jahren rechtmäßigen Aufenthalts sogar weder nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU noch nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU eine Verlustfeststellung ausgesprochen werden.
bb) Die Beklagte hat den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in zutreffender Weise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt.
Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
(1) Der Kläger hat vorliegend kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 4a FreizügG/EU erworben, so dass die Einschränkung nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, nach der die Entscheidung über die Verlustfeststellung nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden darf, im vorliegenden Fall nicht greift. Der Kläger hält sich erst seit dem Jahr 2016 im Bundesgebiet auf; im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung am 4. Dezember 2018 lag ein fünfjähriger ständiger rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet nicht vor.
(2) Das Gericht teilt die Einschätzung der Beklagten, dass die Umstände, die den vom Kläger begangenen Straftaten zugrunde gelegen sind, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 Orfanopoulos Olivieri – EuZW 2004, 402).
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, Entscheidung v. 27.10.1977 – 30/77 „Bouchereau“ – BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389); bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
Gemessen an diesen Vorgaben ist bei dem Kläger prognostisch eine Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Eigentums- und Vermögensdelikte gegeben.
Der Kläger hat in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von 6 Jahren in Deutschland mehrfach und mit hoher Rückfallgeschwindigkeit nicht unerhebliche einschlägige Straftaten, die sich gegen das Eigentum oder Vermögen anderer richteten, begangen. Die letzte Tat erfolgte sogar während laufender Bewährungszeit kurz nach der Entlassung aus einer mehrmonatigen Untersuchungshaft. Zudem hat der Kläger bereits in Polen Diebstähle begangen. Dies zeugt von einer erheblichen kriminellen Energie des Klägers. Der Umstand, dass der Kläger nach wie vor ohne Arbeit und ohne festen Wohnsitz ist, begünstigt außerdem die Begehung weiterer Straftaten. Die von der Klagepartei geltend gemachte einmalige Haftentschädigung ändert an dieser Einschätzung nichts. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Vergangenheit in erheblichem Maße Alkohol konsumiert hat. Wenn auch das Strafgericht nicht von einer Alkoholabhängigkeit ausgegangen ist, ist dies ein Aspekt, der sich im Rahmen der Prognose negativ auswirkt, da zu befürchten steht, dass dieses Konsumverhalten auch künftig fortgesetzt wird, was die Begehung weiterer Straftaten fördern könnte.
Die Delikte, die der Kläger begangen hat, sind auch nicht der Bagatellkriminalität (vgl. zur Abgrenzung: Kurzidem, a.a.O., § 6 FreizügG/EU Rn. 12) zuzuordnen. Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten sind die vom Kläger begangenen Eigentums- und Vermögensdelikte eine ausreichende Grundlage für eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Insbesondere die letzten strafrechtlichen Verurteilungen wegen gemeinschaftlichen Diebstahls mit Waffen und wegen Beihilfe zum gewerbsmäßigen Betrug stellen sich als nicht unerhebliche Kriminalität dar, zumal der Kläger insoweit dreimal einschlägig vorbestraft war.
cc) Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorzug gegeben hat.
Das öffentliche Interesse wiegt vorliegend schwer. Der Kläger hat mit hoher Rückfallgeschwindigkeit erhebliche Straftaten begangen; es besteht eine konkrete Wiederholungsgefahr.
Demgegenüber ist insbesondere keine schützenswerte soziale, familiäre und wirtschaftliche Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet festzustellen; von einer gelungenen Integration im Bundesgebiet ist nicht auszugehen. Der Kläger hält sich erst seit dem Jahr 2016 im Bundesgebiet auf; davor hat er lange in Polen gelebt. Er hat hier keine (Kern) Familie. Zudem spricht der Kläger nach Aktenlage nicht gut Deutsch und ist wiederholt straffällig geworden. Er hat nur wenige Monate als Hilfsarbeiter im Baugewerbe gearbeitet; seit Juli 2016 ist er ohne feste Arbeit und ohne festen Wohnsitz.
Auch sind keine Umstände erkennbar, weshalb dem Kläger eine Reintegration in Polen, wo er aufgewachsen ist und lange gelebt hat, nicht gelingen sollte. Der Kläger dürfte als erwachsener, grundsätzlich gesunder und arbeitsfähiger Mann, der polnisch spricht, in der Lage sein, in Polen alleine sein Auskommen zu finden.
d) Auch die von der Beklagten in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheids auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 5 und 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet für die Dauer von 5 Jahren ist insbesondere vor dem Hintergrund fehlender Bindungen und mangelnder Integration des Klägers im Bundesgebiet rechtlich nicht zu beanstanden.
e) Schließlich stellt sich auch Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids – abgesehen von Satz 2 – als rechtmäßig dar. Die verfügte Ausreisepflicht stützt sich auf § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU angedroht.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da der Kläger mit seinem Klagebegehren weitgehend unterlegen ist, hat er die Kosten des Verfahrens zu 9/10, die Beklagte zu 1/10 zu tragen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.