Europarecht

Zum Verhältnis von Folge- bzw. Zweitantrag zum Dublin-Regime

Aktenzeichen  M 9 S 18.52510

Datum:
16.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
CELEX – , 62018CC0019
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, § 34a Abs. 1 S. 1, § 71a Abs. 1, § 77 Abs. 2
Dublin III-VO Art. 18 Abs. 1 lit. d

 

Leitsatz

1 Lässt dass BAMF die maßgeblichen Fristen für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs verstreichen und macht es dadurch implizit nicht von den Rückführungsmöglichkeiten nach der Dublin-III-Verordnung Gebrauch, so übernimmt es dadurch die Zuständigkeit zur Gesamtabwicklung des Asylverfahrens. (redaktioneller Leitsatz)
2 In Fallkonstellationen, in denen ein “erster” Dublin-Bescheid durch Überstellung verbraucht ist, ist im Anschluss ein erneutes Dublin-Verfahren notwendig, in dessen Rahmen auch die Pflicht besteht, einen erneuten Dublin-Bescheid zu erlassen; dieser setzt dann u.a. ein erneutes, fristgerechtes Wiederaufnahmegesuch voraus. (redaktioneller Leitsatz)
3 Hat der Asylsuchende in einem anderen Mitgliedstaat erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen und Deutschland anschließend, ob aus freien Stücken oder nicht, die Zuständigkeit übernommen, regelt sich das Verfahren ab diesem Zeitpunkt ausschließlich nach § 71a AsylG; alle weiteren Asylanträge in Deutschland sind dann als Zweit- bzw. Folgeanträge zu behandeln. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 7. Juni 2018, bei Gericht eingegangen am 12. Juni 2018 (Az. M 9 K 18.52508), wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen einen sog. Dublin-Bescheid.
Er wurde nach eigenen Angaben am 3. Juni 1991 geboren und ist demnach Staatsangehöriger Nigerias (Bl. 77 d. Behördenakts 7357500-232, i. F.: BA). Der Antragsteller reiste nach eigenen Angaben erstmals am 24. September 2013 nach Italien ein (Bl. 5 d. BA 6741996-232). Nach einem von der Antragsgegnerin abgefragten Eurodac-Treffer der Kategorie 1 stellte er dort am 3. Oktober 2014 erstmals ein Asylgesuch (Bl. 133 d. BA). Am 4. Januar 2016 reiste er nach eigener Aussage erstmals in das Bundesgebiet ein (Bl. 5 d. BA 6741996-232). Eine im Verwaltungsvorgang befindliche Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (i. F.: BÜMA) vom 11. Januar 2016 ging dem Bundesamt ausweislich des Eingangsstempels am 14. Januar 2016 zu (Bl. 38 d. BA 6741996-232). Am 17. Mai 2016 beantragte er förmlich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (i. F.: Bundesamt) Asyl (Bl. 14 d. BA 6741996-232). Das Bundesamt rief am selben Tag die Eurodac-Erkenntnisse ab (Bl. 43 d. BA 6741996-232). Es stellte weiter mit Schreiben vom 20. September 2016 ein Info-Request an die italienischen Behörden, um das Schicksal des dort betriebenen Asylverfahrens aufzuklären (Bl. 42 d. BA 6741996-232). Mit Antwortschreiben vom 19. Dezember 2016 teilten die italienischen Behörden mit, dass der dort gestellte Asylantrag abgelehnt worden sei (Bl. 55 d. BA 6741996-232: „Italy refused him the international protection“). Mit Bescheid vom 8. März 2017, Az. 6741996-232, wurde sein unter dem 17. Mai 2016 gestellter Asylantrag daraufhin auf Basis von § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a AsylG als unzulässig abgelehnt, da die Voraussetzungen der § 51 Abs. 1-3 VwVfG nicht erfüllt seien. Dem Antragsteller wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht (Ziff. 3 des Bescheids). Die hiergegen gerichteten Rechtsbehelfe blieben erfolglos (VG München, B.v. 2.8.2017 – M 27 S 17.35101 -; B.v. 7.11.2017 – M 27 K 17.35100; vgl. Bl. 132ff. und Bl. 150f. d. BA 6741996-232).
Laut einem weiteren Eurodac-Treffer der Kategorie 1 stellte der Antragsteller – nach Ausreise – am 29. Juni 2017 ein weiteres Asylgesuch in Italien (Bl. 133 d. BA). Nach Wiedereinreise ins Bundesgebiet beantragte er am 12. Januar 2018 erneut förmlich beim Bundesamt Asyl (Bl. 77 d. BA). Das Bundesamt behandelte den Asylantrag zunächst als Folgeantrag (Bl. 90ff. und Bl. 111ff. d. BA), stellte am 6. März 2018 dann aber ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (i. F.: Dublin III-VO), auf das die italienischen Behörden nicht reagierten.
Mit Bescheid vom 29. Mai 2018, Gz. 7357500-232, bekanntgegeben am 5. Juni 2018 (Bl. 52f. d. BA), lehnte das Bundesamt daraufhin den Asylantrag auf Basis von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziff. 3) und befristete das Verbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 24 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4). Bevor auf Basis der Entscheidung vom 8. März 2017, Az. 6741996-232 die Überstellung des Antragstellers nach Nigeria habe vollzogen werden können, sei dieser untergetaucht. Aufgrund des neuerlichen Asylantrags in Italien seien die dortigen Behörden für die Bearbeitung zuständig. Wegen der Begründung des Bescheids im Übrigen wird auf diesen Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Der damalige, mittlerweile zurückgewiesene Bevollmächtigte des Antragstellers hat am 12. Juni 2018 Klage gegen den Bescheid erhoben und Eilantrag gestellt. Vorliegend beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Auf den Vortrag wird Bezug genommen.
Die Antragsgegnerin hat sich weder eingelassen noch Anträge gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
An der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützten Abschiebungsanordnung bestehen durchgreifende Zweifel. Es ist kein Fall einer Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gegeben, die eine Abschiebungsanordnung nach sich ziehen würde, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, sondern der Fall eines weiteren Asylantrags im Sinne von § 71a Abs. 5, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Auch eine erneute Abschiebungsandrohung nach § 71a Abs. 4, § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist damit entbehrlich, § 71 Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 AsylG, das Vollstreckungsverfahren auf Basis der Entscheidung vom 8. März 2017, Az. 6741996-232 fortzuführen.
Dem hier streitgegenständlichen Dublin-Bescheid voran ging die Unzulässigkeitsentscheidung vom 8. März 2017, Az. 6741996-232. Letztgenannter Entscheidung lag eine Antwort der italienischen Behörden auf ein deutsches Info-Request zugrunde, wonach der unter dem 3. Oktober 2014 in Italien gestellte Asylantrag dort abgelehnt wurde (Bl. 55 d. BA 6741996-232). Die Antragsgegnerin bejahte mit der auf Basis von § 71a AsylG sodann getroffenen Unzulässigkeitsentscheidung – zu Recht – ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens (vgl. zur Notwendigkeit dieser Prüfung bereits den Wortlaut von § 71a Abs. 1 AsylG). Dies folgt daraus, dass die maßgeblichen Fristen für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs, Art. 23ff. Dublin III-VO, verstrichen waren (EuGH, U.v. 26.7.2017 – Mengesteab/BRD, C-670/16 – juris), unabhängig davon, ob man auf Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 (dann Fristlauf seit 17. Mai 2016, da unter diesem Datum die Eurodac-Treffer übermittelt wurden) oder Unterabs. 2 Dublin III-VO (dann Fristlauf seit 14. Januar 2016, da unter diesem Datum die BÜMA beim Bundesamt eingegangen war) abstellen wollte. Die Antragsgegnerin machte damals also – indem sie die Fristen verstreichen ließ – implizit nicht von den Rückführungsmöglichkeiten nach Dublin III-VO Gebrauch, die ihr zugestanden hätten (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO; die Dublin III-VO ist grundsätzlich auch auf „europäische“ Folgeanträge i. S. v. Art. 33 Abs. 2 Buchst. d RL 2013/32/EU anwendbar), sondern übernahm die Zuständigkeit zur Gesamtabwicklung des Asylverfahrens (vgl. dazu Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, Stand: 108. Aktualisierung Januar 2019, § 71a AsylG Rn. 9; Marx, Kommentar zum AsylG, Stand: 9. Auflage 2017, § 71a Rn. 8). Im Anschluss wurde zu Recht die Entscheidung auf Basis von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG getroffen. Denn mit der abgeschlossenen Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III-VO kann und muss ein Asylantrag in Konstellationen wie der vorliegenden – wie geschehen – aus den Gründen des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt werden (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – ZAR 2017, 236, 237).
Dass die Zuständigkeitsbestimmung an diesem Punkt abschließend ist, ergibt sich aus Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2, Abs. 3 Unterabs. 2, Art. 20 Abs. 5 Unterabs. 3 Dublin III-VO e contrario. Allein die Ausreise nach Italien und die dortige Antragsstellung führen nicht dazu, dass ein – im Sinne der genannten Artikel bzw. Absätze – „neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“ ausgelöst würde (dazu EuGH, U.v. 7.6.2016 – George Karim, C-155/15 – ZAR 2016, 394). Auch die Untätigkeit der italienischen Behörden auf das Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin vom 6. März 2018 im hiesigen Verfahren bewirkte mithin nicht, dass damit wieder Italien zuständig geworden wäre (keine „Pingpong-Zuständigkeit“). Die Konstellation unterscheidet sich diesbezüglich auch von dem Fall eines Dublin-Mehrfachverfahrens, der vom Europäischen Gerichtshof entschieden wurde (U.v. 25.1.2018 – BRD/Aziz Hasan, C-360/16 – NVwZ 2018, 560): Weder wurde der hiesige Antragsteller zwischenzeitlich nach Italien überstellt noch hätte einer solchen Überstellung ein „erster“ Dublin-Bescheid zugrunde gelegen. Im Verfahren 6741996-232 traf die Antragsgegnerin vielmehr eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG und drohte die Abschiebung nach Nigeria an; auch eine (zwangsweise) Rückführung nach Italien fand nicht statt. Dass in Fallkonstellationen, in denen ein „erster“ Dublin-Bescheid durch Überstellung verbraucht ist (dazu Hruschka, NVwZ 2018, 565), im Anschluss ein neuerliches Dublin-Verfahren – zumindest nach Ansicht des EuGH – notwendig ist und im Rahmen dessen auch die Pflicht besteht, einen erneuten Dublin-Bescheid zu erlassen – der u. a. ein erneutes, fristgerechtes Wiederaufnahmegesuch voraussetzt (vgl. Dörig, ZAR 2019, 99, 108f.) -, wird nicht in Abrede gestellt.
Nach den hier vorausgegangenen Entscheidungen aber vermögen es auch neuerliche Asylanträge (nach Aus- und Wiedereinreise) nicht, die sich anschließenden Verfahren zu sog. Dublin-Verfahren zu machen. Die Antragsgegnerin ist (weiterhin) zuständig zur Gesamtabwicklung des Asylverfahrens und hätte wiederum – da der neuerliche Asylantrag verbeschieden werden muss – eine Entscheidung nach § 71a Abs. 5, § 71 AsylG treffen müssen. § 71a Abs. 1 AsylG verlangt nur den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat. Hat der Asylsuchende in einem anderen Mitgliedstaat erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen und die Bundesrepublik anschließend, egal, ob aus freien Stücken oder nicht, die Zuständigkeit übernommen, regelt sich das Verfahren nur mehr nach § 71a AsylG (Marx, Kommentar zum AsylG, Stand: 9. Auflage 2017, § 71a Rn. 4). Alle weiteren Asylanträge hier sind als Zweit- bzw., bei wiederholter Antragstellung, als Folgeanträge – Art. 33 Abs. 2 Buchst. d RL 2013/32/EU unterscheidet hier, anders als § 71f. AsylG, ohnehin nicht weiter – zu behandeln, § 71a Abs. 1, Abs. 5 AsylG (vgl. auch OVG Bln.-Bbg., B.v. 22.10.2018 – OVG 12 N 70.17 – juris).
Das ist auch angemessen und benachteiligt weder den Antragsteller noch die Antragsgegnerin unangemessen: Mit der ablehnenden Entscheidung der italienischen Behörden – vgl. das Antwortschreiben vom 19. Dezember 2016 – hat sich bereits ein EU-Mitgliedstaat inhaltlich zur Asylberechtigung des Antragstellers verhalten. Alle weiteren Anträge müssen sich an Wiederaufgreifensgründen messen lassen, sind – bei Verneinung solcher Gründe und sollte dies überhaupt noch notwendig sein, vgl. § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG – mit einer Abschiebungsandrohung nach Nigeria zu bescheiden und ziehen eine Rückführung dorthin nach sich. Diese Entscheidungen muss aber – bei einem im Bundesgebiet gestellten, neuerlichen Asylantrag – die Antragsgegnerin „direkt“ treffen und die Bearbeitung nicht auf Italien abwälzen, da sie für die Abwicklung des Asylverfahrens zuständig geworden ist und da das zwischenzeitliche Verhalten des Antragstellers keine Gründe für ein „neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“ gesetzt hat.
Auch eine Umdeutung der Entscheidung nach Art. 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG in eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG kommt nicht in Betracht (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – BeckRS 2016, 46151; Urt. v. 16.11.2015 – 1 C 4/15 – juris), alleine schon deshalb, weil es sich um einen der Sache nach anderen Bescheid handelt, der eine auf den Herkunftsstaat gerichtete Abschiebungsandrohung beinhaltet und nicht (nur) eine auf Italien gerichtete Abschiebungsanordnung (NK-AuslR, AsylVfG, Stand: 2. Aufl. 2016, § 71a Rn. 9 m. w. N.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben