Europarecht

Zur Wirksamkeit eines öffentlich-rechtlichen Vertrags

Aktenzeichen  M 18 K 15.1386

Datum:
22.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 153522
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 53 Abs. 1 S. 1, § 104, § 112
SGB VIII § 10 Abs. 4, § 35a
SGB XII § 53, § 54 S. 1 Nr. 1
GG Art. 20 Abs. 3

 

Leitsatz

Öffentlich-rechtliche Verträge nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB X dürfen nur begründet, geändert oder aufgehoben werden, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Die Verwaltung darf im Wege des Vertrages keine anderen Rechtsfolgen setzen als sie gesetzlich vorgesehen sind. Ein Vertrag, der zur Vereinfachung der Feststellung einer geistigen Behinderung die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen oder die Pflicht zur Rückerstattung abbedingt, ist unwirksam.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Kostenerstattungsanspruch.
Rechtsgrundlage für einen möglichen Kostenerstattungsanspruch ist § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Nach dieser Norm ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nach Satz 2 der Norm ist nachrangig verpflichtet ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.
Konkurrieren Ansprüche eines Hilfebedürftigen auf Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII mit Ansprüchen auf Eingliederungshilfe für behinderte junge Menschen nach §§ 53 ff. SGB XII in einem Vor- bzw. Nachrangverhältnis nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, richtet sich der Kostenerstattungsanspruch zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern allein nach § 104 Abs. 1 SGB X. Im Vor-/Nachrangverhältnis der Leistungspflichten scheidet eine vorläufige Leistungserbringung durch einen Leistungsträger und daran anknüpfend ein Erstattungsanspruch nach § 102 Abs. 1 SGB X aus (BayVGH v. 17.2.2014 – 12 C 13.2646 – juris).
Für Anspruchskonkurrenzen wie die vorliegende regelt § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, dass Leistungen nach dem SGB VIII Leistungen nach dem SGB XII vorgehen. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII bestimmt, dass abweichend von Satz 1 u.a. Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vorgehen. Letztgenannte Regelung greift also nur, wenn bei dem Leistungsberechtigten eine körperliche und/oder geistige Behinderung vorliegt bzw. dieser von einer Behinderung dieser Art bedroht ist.
Der Leistungsberechtigte besaß bzw. besitzt im maßgeblichen Zeitraum u.a. aufgrund der bei ihm festgestellten Autismus-Spektrumstörung einen Anspruch auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder nach § 35a SGB VIII gegen die Beklagte als Träger der Jugendhilfe als auch einen gleichartigen Anspruch auf Eingliederungshilfe wegen der möglicherweise vorliegenden geistigen Behinderung gegen den Kläger als Träger der Sozialhilfe nach §§ 53, 54 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung). Somit wäre nach der oben genannten Konkurrenznorm des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII die auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII gerichtete Leistungsverpflichtung des Klägers vorrangig.
Im vorliegenden Fall ist strittig, ob beim Leistungsberechtigten im Zeitraum des geltend gemachten Erstattungsanspruchs eine leichte Intelligenzminderung oder eine niedrige Intelligenz vorgelegen hat. Die Abgrenzung erfolgt grundsätzlich nach dem bei der Testung erzielten Gesamt-IQ Wert, wobei bei einem IQ zwischen 50 bis 69 von einer leichten Intelligenzminderung im Bereich der geistigen Behinderung ausgegangen wird. Ab einem Gesamt-IQ von 70 beginnt der Bereich der niedrigen Intelligenz, wobei dann eine bloße Lernbehinderung angenommen wird (siehe Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO, Remschmidt/Schmidt/Poustka, 4. Auflage, S. 303 f).
Das Kinderzentrum München stellte im Bericht vom 12. September 2011 zwar einen Gesamt-IQ-Wert von 82 fest. Der Bewertung der sachverständigen Zeugin S. folgend ist jedoch vom Vorliegen einer geistigen Behinderung beim Leistungsberechtigten auszugehen. Der Widerspruch zwischen der im Bericht vom 12. September 2011 getroffenen und in der sozialpädiatrischen Stellungnahme vom 18. Juli 2012 wiederholten, auf eine leichte Intelligenzminderung lautende Diagnose bei einem zugleich festgestellten Gesamt-IQ von 82 konnte durch die Aussage der sachverständigen Zeugin S. nachvollziehbar damit erklärt werden, dass der Ermittlung des Gesamt-IQ nur ein Teilbereich der Fähigkeiten zu Grunde gelegen hat, in dem der Leistungsberechtigte besonders gut war. Der ebenfalls getestete Bereich zum Sprachverständnis mit dem Untertest „Rätsel“ ist beispielsweise mit dem erzielten Ergebnis von 69 nicht in die Ermittlung einbezogen worden.
Vom Vorliegen einer geistigen Behinderung ausgehend, wäre unter Außerachtlassung der Kooperationsvereinbarung im Rahmen der Eingliederungshilfe zwischen dem Bezirk Oberbayern als überörtlichem Sozialhilfeträger und den Landkreisen und kreisfreien Städten in Oberbayern als örtliche Jugendhilfeträger vom 30. Juni 2010 (im Folgenden: Kooperationsvereinbarung) der Bezirk der vorrangig verpflichtete Leistungsträger. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zur Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers bei Anwendung von Nr. 1.3 der Kooperationsvereinbarung und Nr. 2.1 der ersten Evaluation vom 16. September 2011, wonach die Abgrenzung der sachlichen Zuständigkeit in erster Linie anhand des auf der Grundlage des ICD-10 ermittelten Gesamt-IQ Wertes zu erfolgen hat. Weder die Diagnose nach dem ICD-10 (F7…) noch eine Nennung oder Umschreibung einer geistigen Behinderung sollen maßgeblich sein. Dies zu Grunde gelegt wäre der Leistungsberechtigte bei dem am 26. Oktober 2010 ermittelten Gesamt-IQ, welcher durch Bezugnahme in das maßgebende Gutachten vom 12. September 2011 übernommen wurde, als seelisch behindert einzustufen. Die Beklagte lehnt dieses Ergebnis ab.
Unabhängig davon gaben die Beklagtenvertreterinnen in der mündlichen Verhandlung vom 26. Oktober 2016 zu erkennen, dass sie auch das weitere Abgrenzungskriterium der Kooperationsvereinbarung, die besuchte Schulart, im vorliegenden Fall nicht akzeptieren würden, da der Leistungsberechtigte nach ihrer Ansicht aus Platzmangel (in einer G-Schule) die L-Schule besucht habe.
Bei der am 1. August 2010 in Kraft getretenen Kooperationsvereinbarung handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB X (hier sogenannter koordinationsrechtlicher Vertrag). Die Parteien der Vereinbarung sind öffentlich-rechtlich organisierte Träger. Vereinbarungsgegenstand ist im Wesentlichen die Abgrenzung von sachlichen Zuständigkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), der Sozialhilfe (SGB XII) und der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Durch die Vereinbarung soll einerseits durch rasche Klärung von Zuständigkeiten möglichen Nachteilen der Leistungsberechtigten wegen des gegliederten Systems der unterschiedlichen Träger entgegengewirkt werden. Andererseits ist Zweck der Vereinbarung, Finanzmittel und Personalaufwand wirtschaftlich einzusetzen sowie strittige Fälle außergerichtlich zu klären, wobei sich die Parteien im Klaren waren, dass die Lösung einer Zuständigkeitsfrage anhand der Kooperationsvereinbarung vom Gesetz abweichen kann (Nr. 1.2 der zweiten Evaluation vom 29.4.2013).
Öffentlich-rechtliche Verträge nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB X dürfen nur begründet, geändert oder aufgehoben werden, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Entgegenstehende Rechtsvorschriften in diesem Sinne sind nicht nur formelle Gesetze oder Rechtsverordnungen, sondern auch allgemeine Rechtsgrundsätze des öffentlichen Rechts. Die materielle Vertragsfreiheit ist nicht nur durch den Vorbehalt des Gesetzes (§ 31 SGB I) begrenzt, sondern auch durch den im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG wurzelnden Vorrang des Gesetzes. Danach ist es der Verwaltung untersagt, im Wege des Vertrags andere Rechtsfolgen zu setzen als sie gesetzlich vorgesehen sind. Nach der Rechtsprechung des BayVGH (BayVGH vom 23.9.2003 – 12 B 01.241, Rn. 20, juris, wegen Kostenerstattung der Sozialhilfe) ist ein konstitutives Schuldanerkenntnis als einseitig verpflichtender, abstrakter Vertrag im Sozialrecht nicht zulässig. Dies muss ebenso für einen gegenseitig verpflichtenden Vertrag mit der Folge gelten, dass der Vertrag insoweit unwirksam ist (§ 58 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 134 BGB). Für dieses Ergebnis spricht auch § 112 SGB X, wonach zu Unrecht erstattete Beträge zurückzuerstatten sind. Weder die gesetzlichen Zuständigkeitsregeln noch § 112 SGB X mit der Pflicht zur Rückerstattung sind abdingbare Vorschriften. Mit der Ablehnung des Kostenerstattungsanspruchs weicht die Beklagte zwar treuwidrig von der zur Vereinfachung der Feststellung einer geistigen Behinderung geschaffenen Regelung der Kooperationsvereinbarung ab. Die Vertragsparteien der Kooperationsvereinbarung tragen jedoch das Risiko, dass in Grenzfällen oder bei widersprüchlichen Feststellungen hinsichtlich Diagnose und Gesamt-IQ-Wert wie im vorliegenden Fall der die Kostenerstattung begehrende Sozialleistungsträger bei einer gerichtlichen Klärung unter Umständen die Beachtung der Kooperationsvereinbarung nicht erfolgreich durchsetzen kann.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO.


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