Familienrecht

8 O 1519/20

Aktenzeichen  8 O 1519/20

Datum:
27.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LG Erfurt 8. Zivilkammer
Dokumenttyp:
Beschluss
Spruchkörper:
undefined

Verfahrensgang

vorgehend EuGH, 27. April 2022, C-2/22vorgehend LG Erfurt 8. Zivilkammer, 30. Dezember 2021, 8 O 1519/20, EuGH-Vorlage

Tenor

Der sofortigen Beschwerde der Beklagten vom 24. Januar 2022 wird nicht abgeholfen. Die Sache wird dem Thüringer Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt, § 572 ZPO.

Gründe

1.
Das Gericht hat mit Beschluss vom 30. Dezember 2021 das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof diverse Fragen vorgelegt (C-2/22). Hiergegen legte die Beklagte mit Schriftsatz vom 24. Januar 2022 sofortige Beschwerde ein, mit dem Antrag, den Beschluss aufzuheben. Zugleich erkannte die Beklagte mit weiterem Schriftsatz vom 24. Januar 2022 die Klageansprüche vollumfänglich an.
Mit Beschluss vom 22. März 2022 wurde daher das Verfahren wieder aufgerufen. Ein Anerkenntnisurteil vom selben Tage erging.
Mit Schriftsatz vom 4. April 2022 erklärte die Beklagte – entgegen der Anregung des Gerichts, das Rechtsmittel zurückzunehmen – die sofortige Beschwerde für erledigt. Der Kläger stimmte unter dem 25. April 2022 zu.
2.
Das devolutive Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gemäß § 252 ZPO in unmittelbarer wie entsprechender Anwendung steht weiterhin zur Entscheidung an. Eine Rücknahme seitens der Beklagten ist nicht erfolgt. Eine übereinstimmende Erledigungserklärung gemäß § 91 a ZPO vermag sich nur auf die Hauptsache zu beziehen, nicht auf ein Rechtsmittel als solches. Soweit § 91 a ZPO im Beschwerdeverfahren für entsprechend anwendbar gehalten wird, bezieht sich dies ebenfalls nur auf eine dort erklärte Erledigung in der Hauptsache, nicht das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde als solches.
Der Beschwerde war nicht abzuhelfen. Dieses Rechtsmittel ist mit Blick auf Vorabentscheidungsverfahren – aus unionsrechtlichen Gründen wie nach deutschem Recht – bereits unstatthaft.
Im Einzelnen:
Die Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofes hat jüngst in einer umfassenden Auswertung von dessen Rechtsprechung verdeutlicht, dass die Befugnis jedweden nationalen Gerichts zur Anrufung des Gerichtshofes gemäß Art. 267 AEUV in keiner Weise beschränkt werden darf, weder durch die Parteien des Ausgangsrechtsstreits noch durch nationales Recht, die Natur des Ausgangsverfahren, übergeordnete Instanzen bis hin zu Verfassungsgerichten oder das Europarecht selbst (Rosario Silva de Lapuerta, in: Lenaerts u.a. (Hrsg.): Building the European Union: The Jurist’s View of the Union’s Evolution, 2021, S. 215 ff.). So darf insbesondere ein über ein Rechtsmittel tätiges übergeordnetes Gericht an einer Verfahrensaussetzung und Vorlage nichts ändern.
Diese zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben führen dazu, dass eine sofortige Beschwerde gegen solche Entscheidungen von vornherein unstatthaft ist.
Maßstäbe deutschen Rechts sind bei Auslegung und Anwendung des Art. 267 AEUV nicht einschlägig. Allerdings entspricht es auch der weit überwiegenden Rechtsprechung in Deutschland unter Heranziehung des deutschen Rechts, dass Rechtsmittel bei Vorabentscheidungsersuchen ausscheiden.
Nach ganz herrschender Auffassung ist nämlich § 252 ZPO einschränkend dahin auszulegen, dass eine sofortige Beschwerde nicht statthaft ist, soweit das Gericht das Verfahren in Verbindung mit einer eigenen Vorlageentscheidung an ein höheres Gericht ausgesetzt hat (OLG Köln, Beschluss vom 13. Mai 1977 – 6 W 80/76 –, Rn. 22 ff., juris; OLG Celle, Beschluss vom 10. Oktober 2008 – 9 W 78/08 –, Rn. 1, juris; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 6. Oktober 2014 – 4 W 33/14 –, Rn. 13 ff., juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. Oktober 2020 – 6 W 53/20 –, Rn. 9, juris; MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 252 Rn. 17; BeckOK ZPO/Jaspersen, 43. Ed. 01.12.2021, ZPO § 252 Rn. 4; Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 252 ZPO Rn. 2).
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat dieses Ergebnis wie folgt festgehalten (OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. Oktober 2020 – 6 W 53/20 –, Rn. 8 – 9, juris):
„Zwar findet gemäß § 252 ZPO gegen eine Entscheidung, durch die die Aussetzung des Verfahrens angeordnet wird, grundsätzlich die sofortige Beschwerde statt.
Das gilt jedoch nach ganz herrschender Meinung nicht – auch nicht in analoger Anwendung des § 252 ZPO – für Aussetzungen, die mit einer Vorlageentscheidung nach Art. 267 AEUV verbunden sind (vgl. etwa ausführlich OLG Brandenburg, Beschluss vom 6. Oktober 2014 – 4 W 33/14 –, Rn. 12 ff.; OLG München, Beschluss vom 18. Oktober 2012 – Verg 13/12 –, Rn. 17; OLG Celle, Beschluss vom 10. Oktober 2008 – Rn. 1, jeweils juris; Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 252 Rn. 1b; MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, § 252 Rn. 17; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 252 Rn. 1).“
Auf diese Entscheidung bezog sich auch der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Sitzung vom 8. März 2022 vor der Großen Kammer des Luxemburger Gerichtshofes in der vom Landgericht Ravensburg vorgelegten „Dieselsache“ C-100/21.
Soweit die Beklagte als angeblichen Verfahrensfehler rügt, die Zivilkammer sei vor der Entscheidung über die Aussetzung und EuGH-Vorlage nicht gemäß § 348 a Abs. 2 ZPO angerufen worden, geht dies fehl. Das Vorlagerecht des Einzelrichters darf nämlich durch nationales Recht in keiner Weise beschränkt oder verhindert werden. § 348 a ZPO ist unanwendbar. Gerichte dürfen durch nationale Abgabe-/Vorlagepflichten an besondere/übergeordnete Spruchkörper nicht um ihr Vorlagerecht gebracht werden (vgl. EuGH (GK), Urteil vom 5. April 2016 – C-689/13 (PFE/Airgest), juris Rn. 32 ff.).
Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass das Gericht den Parteien – im Vorfeld der EuGH-Vorlage und spezifisch zu den unionsrechtlichen Problemata – umfassend rechtliches Gehör gewährt hat, nämlich mit Verfügung vom 5. Oktober 2021 im Vorfeld der mündlichen Verhandlung, vor allem zur mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 2021 und im Nachgang. Beide Seiten haben zur unionsrechtlichen Seite und beabsichtigten Vorlage auch schriftsätzlich eingehend Stellung bezogen. Hierbei wurde eine Befassung der Zivilkammer weder beantragt noch angeregt.
Im Übrigen hat der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass es im Vorfeld eines Vorabentscheidungsverfahrens keiner Anhörung der Parteien bedarf, weder zu den unionsrechtlichen Fragestellungen noch zur Vorlage als solcher. Vielmehr darf ein nationales Gericht in jeder Lage (!) des Verfahrens den EuGH anrufen, d. h. selbst vor Rechtshängigkeit oder ohne eine mündliche Verhandlung (s. nur EuGH, Urteil vom 1. Februar 2017 – C-430/15 (Tolley), juris Rn. 32 m.w.N.).
Auf fehlendes rechtliches Gehör vermag somit kein Rechtsbehelf bzw. Rechtsmittel gestützt zu werden. Dies gilt auch für Befangenheitsanträge.
Einer ober- oder höchstgerichtlichen Entscheidung, die das Vorlagerecht nach Art. 267 AEUV entgegen der mittlerweile dichten Judikatur des EuGH beschränkte, darf die hiervon betroffene Instanz nicht Folge leisten. Dies hat der EuGH jüngst sogar für verfassungsgerichtliche Vorgaben entschieden (EuGH (GK), Urteil vom 21. Dezember 2021 – C-357/19, juris).
Aufgrund der unzweideutigen Positionierung des EuGH stellt sich die Frage, ob seiner Rechtsprechung zuwiderlaufende Beschränkungen des Vorlagerechts nicht als Rechtsbeugung qualifiziert werden müssten. Jedenfalls dürfte es sich um eine der Bundesrepublik Deutschland zuzurechnende Vertragsverletzung handeln.


Ähnliche Artikel

Die Scheidung einer Ehe

War es bis vor etlichen Jahren noch undenkbar, eine Ehe scheiden zu lassen, so ist eine Scheidung heute gesellschaftlich akzeptiert. Die Zahlen der letzten Jahre zeigen einen deutlichen Trend: Beinahe jede zweite Ehe wird im Laufe der Zeit geschieden. Was es zu beachten gilt, erfahren Sie hier.
Mehr lesen


Nach oben