Familienrecht

Die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts in Pandemiezeiten

Aktenzeichen  002 F 1105/20

Datum:
3.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
FamRZ – 2021, 431
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Ingolstadt
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
EuEheVo Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

Der vorübergehende Umzug aufgrund der Pandemie von Italien nach Deutschland ändert nicht die internationale Zuständigkeit. (Rn. 20 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
1. Ein längerer Aufenthalt von ca. 6 Monaten kann zwar ein Indiz dafür geben, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde. Die Zeitdauer allein reicht jedoch gerade dann nicht aus, wenn die Corona-Pandemie ursächlich für die Verweildauer gewesen ist. (Rn. 11 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Voraussetzung für eine Änderung einer bestehenden Entscheidung zum Sorge- und Umgangsrecht ist, dass triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe hierfür bestehen.  (Rn. 20 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Beschluss vom 28.08.2020, mit dem der Antragstellerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder Antrag der Antragstellerin L. C., geboren am …, L. R., geboren am … und L. T., geboren am … übertragen wurde, sowie eine Grenzsperre angeordnet wurde, wird aufgehoben. Der Antrag der Antragstellerin auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
3. Der Verfahrenswert wird auf 1.500,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die gemeinsamen Kinder, um mit diesen dauerhaft in I. zu leben.
Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die getrennt lebenden Eltern der Kinder. Das Sorgerecht der Beteiligten wurde mit Trennung-Urteil-Nr. … des Zivilgerichts Mailand vom 28.05.2020, vorläufig dahingehend geregelt, dass das Sorgerecht von beiden Eltern gemeinsam ausgeübt wird, die Kinder ihren überwiegenden Aufenthalt bei der Mutter – im bisherigen Haus der Familie in Mailand – haben und dem Vater ein umfangreiches Umgangsrecht eingeräumt wird. Die Familie hält sich seit Beginn der Corona – Pandemie in Italien mit Schließung der dortigen Schulen Ende Februar in I. auf.
Wegen Eilbedürftigkeit wurde am 28.08.2020 eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorläufig der Antragstellerin übertragen und – um eine Ausreise des Antragsgegners mit den Kindern zu verhindern – eine Grenzsperre angeordnet wurde. Das Gericht hat von Amts wegen Termin zur mündlichen Verhandlung über die erlassene einstweilige Anordnung bestimmt.
Die Antragstellerin beantragt den Beschluss vom 24.08.2020 (korrekt 28.08.2020) aufrecht zu erhalten und den Antrag des Antragsgegners vom 01.09.2020 zurückzuweisen.
Sie trägt vor, sie und die Kinder hätten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Ingolstadt, da sie bereits seit Februar hier wohnten und in das soziale Umfeld integriert seien.
Der Antragsgegner beantragt den Beschluss vom 28.08.2020 aufzuheben und den Antrag abzuweisen.
Er trägt vor ein gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder sei in I. nicht begründet worden. Anlass dafür, sich in I. aufzuhalten sei zum einen die Corona-Pandemie gewesen, die insbesondere in Italien gewütet habe. Man habe sich daher in Deutschland sicherer gefühlt; die Grenzschließungen hätten zudem auch eine Rückkehr zunächst verhindert. Sodann habe man vereinbart, bis zum Ende der Schulferien in I. zu bleiben und sodann gemeinsam nach Italien zurückzureisen.
Die Eltern und das Kind C. wurden persönlich angehört; das Jugendamt und der mit Beschluss vom 31.08.2020 bestellte Verfahrensbeistand haben eine Stellungnahme abgegeben.
Bzgl. der Einzelheiten wird auf das schriftliche Vorbringen der Beteiligten, sowie die Vermerke über den Termin vom 02.09.2020 verwiesen.
II.
Der Beschluss vom 28.08.2020 war aufzuheben und der Antrag zurückzuweisen.
1. Zulässigkeit des Antrags
Der Beschluss vom 28.08.2020 ist bereits deshalb aufzuheben, weil der Antrag der Antragstellerin unzulässig und das Gericht für die Entscheidung über die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts international nicht zuständig ist.
Die internationale Zuständigkeit des Gerichts ist gem Art. 8 Abs. 1 EuEheVo nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder. Dieser ist vorliegend – nach wie vor – in Italien und nicht – wie von der Antragstellerin vorgetragen, in I.
Es ist zwar richtig, dass ein längerer Aufenthalt von ca 6 Monaten ein Indiz dafür geben kann, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde. Die Zeitdauer allein reicht jedoch hierfür nicht aus. Anlass für den länger dauernden Aufenthalt der Familie in I. war vielmehr der Ausbruch der Corona-Pandemie, der gerade in der von der Familie bewohnten Lombardei besonders heftig war und zu einem Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, Schließung der Schulen, umfangreichen Ausgangssperren und erheblichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung führte. Dies hat nicht nur der Antragsgegner, sondern auch die Antragstellerin erklärt, die u. a. gegenüber dem Verfahrensbeistand angab, nach Schließung der Schulen in Italien sei man nach I. gekommen, wobei es schon die Absprache gegeben hätte, nach Italien zurückzukehren. Auch das Kind C. gab an, das die Pandemie Anlass für den Aufenthalt in I. war und die Eltern danach wieder nach Mailand gehen wollten. Der weitere Aufenthalt nach der Grenzöffnung Mitte Juni erfolgte zu Urlaubszwecken, zumal die Schulen in Italien wegen des dortigen Ferienbeginns geschlossen blieben.
Auch die Tatsache, dass die Kinder in I. gut integriert sind, reicht nicht aus, einen gewöhnlichen Aufenthalt in I. zu konstruieren. Wie von Antragstellerseite selbst vorgetragen, wurden in den letzten Jahren die Ferien regelmäßig und umfangreich in I. verbracht.
Die tatsächlichen Umstände sprechen vielmehr dafür, dass der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder nach wie vor in Italien ist, wo sie den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht haben:
Die Antragstellerin lebt mit den Kindern auch nach der bereits länger zurückliegenden Trennung der Eheleute in dem zuvor von der gesamten Familie bewohnten Haus. Beide Eltern haben ihren Arbeitsplatz in Mailand; die Antragstellerin arbeitet in einer Bank, der Antragsgegner ist Anwalt. Das Kind C. geht in eine deutsche Privatschule, das Kind R. ist ebenfalls für das Schuljahr 2020/2021 dort angemeldet; für das Kind T. steht ab Beginn des Kindergartenjahres im September ein Kindergartenplatz bereit. Die Großeltern väterlicherseits leben in Italien; auch zu diesen wie auch zu weiteren Verwandten bestehen Beziehungen, wie bereits der Besuch des Kindes C. bei den Großeltern und dem Cousin F. zeigt. Zudem feierte das Kind C. nach eigenen Angaben die Schließung der italienischen Schulen mit seinen Freunden aus der von ihm besuchten Privatschule. Ein Schwerpunkt der Bindungen der Kinder kann damit nicht in I. festgestellt werden; zumal neben der Mutter, die offensichtlich für sich entschlossen hat in I. bleiben zu wollen, während des Aufenthaltes in I. auch der Vater sich hier aufhielt und insoweit für die Dauer des geplanten Aufenthaltes eine Ferienwohnung anmietete (die er zum vereinbarten Ende des Aufenthaltes kündigte).
Insoweit ist auch die Einlassung des Antragsgegners – ebenso wie sein Erscheinen und seine Angaben bei der Polizei, dass ein ständiger Aufenthaltswechsel der Kinder nie kommuniziert oder gar vereinbart worden sei glaubhaft.
Der Antrag der Antragstellerin ist daher bereits als unzulässig zurückzuweisen, weil eine internationale Zuständigkeit eines deutschen Gerichts nicht gegeben ist.
Zweifel bestehen zudem an der Dringlichkeit der Entscheidung: Insofern ist der Antragstellerin vorzuhalten, dass sie den Entschluss mit den Kindern dauerhaft in I. zu bleiben ganz offenbar – wenn auch wohl „an dem Antragsgegner vorbei“ bereits seit längerem gefasst hat. So hat sie bereits 2019 ein Haus in I. gekauft, dass nach eigenen Angaben jetzt bezugsfertig wird; sie hat die Kinder in hiesigen Vereinen geschickt und Vorbereitungen für deren Schul- / Kindergartenbesuch getroffen. In dieser Zeit hätte sie ausreichend Gelegenheit gehabt, im Rahmen der gemeinsamen elterlichen Sorge die Frage eines dauerhaften Aufenthaltes mit dem Antragsgegner zu kommunizieren und ggf. – frühzeitig – gerichtlich zu klären als nunmehr unter dem Vorwand der Dringlichkeit wegen des bevorstehenden – ursprünglich vereinbarten und von ihr gegenüber dem Kindsvater zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellten – Abreisedatums eine Dringlichkeit zu konstruieren. Auch insoweit ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen.
2. Der Antrag ist darüber hinaus jedoch aus Sicht des Gerichts auch unbegründet:
Voraussetzung für eine Änderung einer bestehenden Entscheidung zum Sorge- und Umgangsrecht ist, dass triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe hierfür bestehen. Solche Gründe sind für das Gericht im vorliegenden Verfahren nicht ersichtlich.
Festzustellen ist, dass die Eltern bereits seit ihrer Trennung um die Kinder streiten; so hatte die Antragstellerin bereits im Jahr 2018 einen Antrag auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts gestellt, den sie wieder zurück nahm. Mit der Trennungsentscheidung vom 28.05.2020 verfügte das zuständige Gericht in Mailand, dass es – vorläufig – bei dem gemeinsamen Sorgerecht verbleiben sollte und dem Vater ein – sehr umfangreiches (praktisch tägliches) Umgangsrecht eingeräumt wurde. Das Gericht sah sich aus Gründen des Kindeswohls zudem veranlasst, umfangreiche Auflagen wie etwa Einrichtung einer Familienhilfe und psychologische Betreuung der Kinder anzuordnen und insbesondere keine Entscheidungen über den Aufenthalt der Kinder ohne Zustimmung des anderen zu treffen.
Triftige Gründe für die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter sind aus Sicht des Gerichts nicht gegeben. Der bloße Umstand, dass sich die Kinder seit längerem in I. aufgehalten haben, reicht hierfür nicht aus.
A. Kontinuität
Vielmehr sprechen die Gründe der Kontinuität dafür, die Kinder in dem – von Geburt an – gewohnten Umfeld zu belassen, insbesondere das Kind C. in die von ihm bereits besuchte Schule in Mailand, wo er nach eigenen Angaben Freunde zu geben. Auch die Weiterführung der durch das italienische Gericht angeordneten Hilfen (Familienhilfe, begonnenen Psychotherapien) sprechen nicht dafür der Antragstellerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht mit dem Ziel „Verbleib in Ingolstadt“ zu übertragen.
B. Bindungen, Neigungen, Kindeswille
Die Kinder haben sowohl in I. als auch in M. ein umfassendes soziales Umfeld. Bindungen und Freundschaften bestehen offenbar zu den Großeltern in beiden Ländern, ebenso Freundschaften. C. gab zudem eine sehr innige Beziehung zum aupair-Mädchen in Mailand an.
Auch wenn die Mutter als Hauptbezugsperson anzusehen ist, weil sie offenbar die Kinder im wesentlichen betreut ist festzustellen, dass die Bindungen zum Vater ebenfalls stark sind. Insoweit wurde von dem Gericht in Italien bereits diesem bewusst ein umfangreiches Umgangsrecht eingeräumt, das dieser im Falle eines Wechsels der Kinder nach I. nicht wahrnehmen könnte und das die Bindungen und Beziehung der Kinder zu ihm erschweren würde. Dass die Kinder den Vater lieben und brauchen zeigt sich bereits daran, dass auch während des Aufenthaltes in I. die Umgänge aufrecht erhalten wurde, C. mit diesem Mitte Juni nach Mailand fuhr und die Kinder mit den Eltern einen gemeinsamen Urlaub auf Rügen verbrachten. Ebenso liefen die beiden jüngeren Kinder im Gerichtsflur freudig auf den Vater zu; nur C. traute sich dies offenbar nicht und wandte sich – mit Tränen in den Augen – ab. Soweit C. erklärte keine Bindungen zum Vater zu haben und dass es ihm nichts ausmache, diesen nicht mehr zu sehen, war dies offenbar der Tatsache einer Enttäuschung über die Trennung der Eltern, bei der der Vater gegangen war geschuldet, bzw. offensichtlich einem Loyalitätskonflikt. Das Kind wirkte bei seiner Beschreibung angeblicher Schläge des Vaters nicht ehrlich; nach Einschätzung des Verfahrensbeistandes wie auch der Vertreterin des Jugendamtes wirkte er – ebenso wie R., die nahezu wortgleiche Angaben macht, stark beeinflusst. So erklärte R. beim Verfahrensbeistand „so sollte ich das sagen“.
C. Bindungstoleranz
Soweit das im Rahmen der einstweiligen Anordnung möglich ist, hat das Gericht den Eindruck, das die Bindungstoleranz beim Vater deutlich besser ist als bei der Mutter. So stimmte er dem Verbleib der Mutter und der Kinder in I. für die Dauer der Coronabeschränkungen und der italienischen Ferien zu und nahm sich – neben der wieder aufgenommenen Arbeit in Mailand – sogar selbst eine Ferienwohnung in Ingolstadt.
Die Antragstellerin hingegen beeinflusst offenbar die Kinder und versucht, diese gegen den Vater einzunehmen. Insoweit sei auch auf das in Italien erstellte Gutachten (AG 2) der Gerichtssachverständigen Dr. O. V. verwiesen, das vom Antragsgegner vorgelegt wurde.
D. Erziehungsfähigkeit und Förderung
Beide Eltern sind wohl erziehungsgeeignet und fördern die Kinder, wie ihre Vereinbarung vor dem italienischen Gericht zur Fortsetzung der psychologischen Behandlung der Kinder und weiterer Defizite bestätigt.
Nach alledem war der Beschluss vom 28.08.2020 aufzuheben und der Antrag der Antragstellerin zurückzuweisen. Mit Aufhebung der Entscheidung war auch die Grenzsperre aufzuheben.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 51 Abs. 4, 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Für die Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung gelten die allgemeinen Vorschriften. Danach ist in Kindschaftssachen die Kostenaufhebung der Regelfall; Gründe hiervon abzuweichen sind nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 41, 45 FamGKG.


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